Bestsellerautor und Avantgarde-Schriftsteller

Einer der bedeutendsten Autoren der Türkei, erhielt im Sommer 2003 in Dublin den Impac-Literaturpreis - einen der höchstdotierten internationalen Literaturauszeichnungen. Auf Deutsch liegen mehrere Romane von ihm vor. Ein Portrait von Lewis Gropp

Orhan Pamuk wird in EU-Europa als großer Literat gefeiert. Die türkischen Leser und Kritikern empfinden für den Autor eine Art Hass-Liebe. Ein Porträt von Lewis Gropp

Cover 'Rot ist mein Name' von Orhan Pamuk
"Wir sehen ihn am Anfang eines großen Erfolges" urteilte die Süddeutsche Zeitung als "Rot ist mein Name" 2003 auf Deutsch erschien.

​​Um dem Militärdienst zu entgehen, wechselte Orhan Pamuk im Alter von 20 Jahren vom Studium Architektur zur Journalistik, nistete sich in den folgenden acht Jahren in Istanbul bei seiner Mutter ein und verfasste mehrere Romane – ohne auch nur eine einzige Zeile veröffentlichen zu können. "Ich tat nichts anderes als schreiben und lesen. Ich hatte keine Freunde", erzählt Pamuk rückblickend. "Acht Jahre lang, ohne am Leben um mich herum Anteil zu nehmen, das heißt, ohne zu leben, verbrachte ich mit meiner Mutter unter einem Dach, ohne einen Pfennig zu verdienen."

Für den mittlerweile 50-jährigen hat sich in den vergangenen Jahren viel geändert. Er ist aus der selbst gewählten Isolation ausgebrochen und zählt heute neben Yasar Kemal zu den bedeutendsten Autoren seines Landes. Er genießt enorme Popularität und kann sich in Fernseh-Live-Übertragungen nahezu alles erlauben. Pamuk bedient sich gerne des Mittels der Live-Übertragungen, weil diese unzensiert ausgestrahlt werden. Er hat Mut bewiesen, als er öffentlich Stellung bezog im Fall Salman Rushdies, und die harsche Kritik an der Kurdenpolitik der türkischen Regierung überstand er unbeschadet. Den höchsten Kulturpreis, den ihm die Regierung nichtsdestotrotz verleihen wollte, lehnte er dezidiert ab.

Im Gegensatz zu Kemal, der einer älteren Generation angehört und eher mythische Geschichten erzählt, die ihre Wurzeln in der mündlichen Erzähltradition haben, ist Pamuk der urban geprägten, intellektuellen Schriftstellertradition zuzurechnen. "Pamuk ist mit allen Wassern der europäischen Moderne und Postmoderne gewaschen", wie die NZZ konstatiert. "Er ist ein Bestsellerautor, aber eben auch ein Avantgarde-Schriftsteller", so John Updike in einer Rezension von "Mein Name ist Rot" im New Yorker.

Harte Arbeit, reiche Ernte – die Romane

Der Erfolg ist aber nicht nur die Frucht der Inspiration, sondern auch harter Arbeit: von zwei Uhr nachmittags bis acht Uhr abends und von elf Uhr nachts bis vier Uhr morgens arbeite er an seinen Büchern, so Pamuk in einem Interview mit Publisher’s Weekly. Insgesamt sechs Romane hat er mittlerweile veröffentlicht. Der Debutroman, "Cevdet Bey und seine Söhne", wurde mit Thomas Manns "Buddenbrooks" verglichen. Der zweite, "Das stille Haus", eine multiperspektivische Familiengeschichte, erinnerte Kritiker an Virginia Woolf und William Faulkner. Auch seine weiteren Romane legten Vergleiche mit westlichen Schriftstellern wie Borghes, Calvino, Joyce oder Kafka nahe.

Diese Vergleiche entspringen nicht unbedingt dem Unvermögen, die unvergleichlichen Eigenheiten einer individuellen literarischen Stimme zu erkennen – Orhan Pamuk ist tatsächlich mit dem Roman der Moderne intim vertraut. Dabei nutzt und variiert er die literarischen Formen meisterlich, um sich mit ihnen den Themen zu widmen, die selbst im historischen Gewand noch klug den Bezug zur Gegenwart herzustellen vermögen, ohne konstruiert zu erscheinen.

"Mein Name ist Rot”

Auch in seinem letzten Roman, "Mein Name ist Rot", für den er jüngst in Dublin den mit 100.000 Euro dotierten Impac-Literaturpreis verliehen bekam, nutzt Pamuk die historische Kulisse für eine Meditation über Kunst, Liebe, Vergänglichkeit und politische Macht. Im Istanbul des Jahres 1591 soll im Rahmen des 1000. Jahres der Hidschra, der Auswanderung des Propheten aus Mekka und der Beginn der islamischen Zeitrechnung (hier gerechnet nach Mondjahren), ein Buch nach Art der "fränkischen" Meister angefertigt werden, um darin die prachtvolle Größe und Macht des osmanischen Kalifen darzustellen.

Da es nach der islamischen Tradition aber verboten ist, den Menschen selbst zum Sujet zu erklären, weil damit die Eitelkeit des Menschen provoziert werde, sich selbst in den Mittelpunkt der Schöpfung zu stellen, bekommt einer der am Buchprojekt beteiligten Maler heiße Füße, will aussteigen und gefährdet damit das gesamte Projekt. Das Buch wird mit seiner Erzählung eröffnet: der frisch erschlagene Tote spricht aus der Tiefe des Brunnens, in den er hineingestoßen wurde, zum Leser. Auch der Mörder leiht einigen Kapiteln seine Stimme – sogar in doppelter Rolle: einmal als der tatsächliche Mörder, dann aber auch als einer der drei Verdächtigen, so dass die Identität des Mörders bis zum Schluss ungeklärt bleibt.

Wie ein Stab beim Staffellauf wird die Geschichte von den unterschiedlichen Erzählern weitergereicht. Zu den Erzählstimmen gehören auch die eines Hundes, eines gemalten einsamen Baumes, einer Münze, von Satan und der Farbe Rot, die dem Roman ihren Titel verliehen hat. Pamuk gelingt es nicht nur, Bilder, Geld und Farben zum Sprechen zu bringen, auch webt er mit humorvoller Eleganz die großen Themen in seine Geschichte. Einen Transvestiten lässt er beispielsweise über die Gründe der osmanischen Übermacht gegenüber den zentraleuropäischen Franken sinnieren:

"Weil bei den Franken die Frauen in den Städten herumspazieren und nicht nur ihr Gesicht, sondern auch ihre größten Reize, ihr glänzendes Haar, ihre Nacken, ihre Arme, ihre schöne Kehle, ja, falls es stimmt, was man sich erzählt, sogar einen Teil ihrer schönen Beine ganz offen zeigen, tragen ihre Männer ständig eine frontale Erektion vor sich her, winden sich deswegen in Scham und Pein und können kaum laufen, was natürlich zur Lähmung der ganzen Gesellschaft geführt hat. Das ist der Grund dafür, dass der ungläubige Franke jeden Tag eine weitere Festung an uns Osmanen verliert."

Pamuks Romane sind alles andere als politisch, und dennoch sind in seiner Romanwelt Kunst und Politik kunstvoll miteinander verbunden. Brechts Auffassung, dass, wer von der politischen Gesinnung eines Autors unterrichtet werden möchte, doch am besten seine Bücher lesen solle, teilt Pamuk nicht. Wenn er sich politisch zu Wort melde, dann tue er das nicht als Autor oder Künstler, sondern als Bürger seines Landes. Und Pamuk hat immer wieder öffentlich Stellung bezogen. Dabei ist er oft als Mittler zwischen Ost und West in Erscheinung getreten; stets betonend, dass Ost und West zu gleichen Teilen eingeschränkte Begriffe voneinander haben; stets bemüht, diese eindimensionalen Bilder in ihrer Komplexität aufzufächern.

"Unvorstellbares Gefühl der Erniedrigung"

Pamuk hat drei Jahre in New York gelebt, als seine damalige Frau an der Columbia University in Harlem an ihrem Doktortitel arbeitete. Als das World Trade Center zusammenstürzte, saß er in einem Kaffeehaus in Istanbul. In "Trostlose Vertröstungen", seinem viel zitierten Artikel aus der Süddeutschen Zeitung der noch im selben Monat erschien, beschreibt Pamuk die Reaktionen aus seinem Umfeld: die Verdammung der Gewalttat, stets gefolgt allerdings von einem "Aber" und einer verschämten oder zornigen Kritik an der Rolle Amerikas in der Weltpolitik.

In dem Aufsatz betont Pamuk dabei, dass es nicht das Ziel sei, dieser Empörung Recht zu geben, es sei aber unerlässlich, den Versuch zu unternehmen, diese Empörung zu verstehen und zu erklären. "Der Westen hat leider kaum eine Vorstellung von diesem Gefühl der Erniedrigung, das eine große Mehrheit der Weltbevölkerung durchlebt und überwinden muss, ohne den Verstand zu verlieren oder sich auf Terroristen, radikale Nationalisten oder Fundamentalisten einzulassen. (…) Das Problem ist, die seelische Verfassung der armen, erniedrigten und stets im 'Unrecht' stehenden Mehrheit zu verstehen, die nicht in der westlichen Welt lebt."

"Orhan Pamuk zeigt Europa, was Erzählen heißt"

Nachdem Pamuk längere Zeit darüber enttäuscht war, dass man ihn in der westlichen Welt hauptsächlich aufgrund seiner politischen Statements registrierte, hat er dieses Stadium mittlerweile überwunden. "Orhan Pamuk zeigt Europa, was Erzählen heißt", befand unlängst die FAZ. Orhan Pamuk sei längst in Europa angekommen, urteilte Thomas Steinfeld in der Süddeutschen Zeitung, "Wir sehen ihn am Anfang eines großen Erfolges."

Zum einen verleiht der künstlerische Erfolg Orhan Pamuks ihm moralische Autorität und damit auch verstärkt das Gehör der westlichen Öffentlichkeit. Andererseits ist auch die politische Bedeutung eines solchen Erfolges nicht zu unterschätzen. Ein türkischer Künstler, der auch in Europa gefeiert wird, rückt sein ganzes Land näher an den Kontinent, weil eine einflussreiche Kultur einen solchen Erfolg stets für sich einzunehmen versucht. Orhan Pamuk zeigt, dass kreative Inspiration nicht nur von West nach Ost weitergegeben werden muss. Möglicherweise wird sie dadurch in Zukunft in beide Richtungen ungehinderter fließen als bisher.

Lewis Gropp

© Qantara.de 2003