Rahul Gandhis "Marsch für die Einheit"

Vom 7. September 2022 bis zum 30. Januar 2023, dem Todestag Mahatma Gandhis, wanderte sein Namensvetter Rahul Gandhi 4.000 Kilometer vom Süden Indiens bis in den umkämpften Norden durch 12 Bundesstaaten, 75 Distrikte und 2 Unionsterritorien. Rahul Gandhi demonstrierte gegen die spaltende Politik und Rhetorik der Regierung unter Narendra Modi und seiner hindu-nationalistischen Bharatiya Janata Party (BJP).
Vom 7. September 2022 bis zum 30. Januar 2023, dem Todestag Mahatma Gandhis, wanderte sein Namensvetter Rahul Gandhi 4.000 Kilometer vom Süden Indiens bis in den umkämpften Norden durch 12 Bundesstaaten, 75 Distrikte und 2 Unionsterritorien. Rahul Gandhi demonstrierte gegen die spaltende Politik und Rhetorik der Regierung unter Narendra Modi und seiner hindu-nationalistischen Bharatiya Janata Party (BJP).

Mit seinem Bharat Jodo Yatra (Marsch für die Einheit) hat Rahul Gandhi gegen die spalterische Politik der Regierung Modi protestiert. Sonja Hegasy hat mit dem Sozialanthropologen und politischen Beobachter S. M. Faizan Ahmed gesprochen, der sich dem Bharat Jodo Yatra (BJY) in Delhi angeschlossen hatte. 

Von Sonja Hegasy

Herr Ahmed, was haben Sie erlebt, als Sie im Dezember 2022 in Delhi zum Bharat Jodo Yatra (BJY) stießen? 

Faizan Ahmed: Auf den 4000 Kilometern des "Marschs für die Einheit“ sind Menschen mit Rahul Gandhi kürzere und längere Strecken gelaufen und haben ihm bei seinen immer populärer werdenden Kundgebungen zugehört. Ich habe mich dem BJY frühmorgens von Jasola Apollo bis zum Roten Fort in Delhi angeschlossen. Die Zahl der Teilnehmer war viel höher, als ich erwartet hatte.



Menschen aus allen Schichten waren auf dem Marsch zu sehen. Hunderte von Anwälten in ihren Roben standen auf beiden Seiten der Straße zwischen dem Obersten Gerichtshof und dem Finanzamt (einem beliebten Wahrzeichen Delhis), um die Teilnehmer zu begrüßen. Frauen tanzten zu Trommelschlägen, Jugendliche riefen unablässig Slogans und tanzten zu den Klängen von Liedern, die über Lautsprecher gespielt wurden. Ältere Menschen schienen entschlossen, weiter zu marschieren. Auf der Straße war die Atmosphäre wie bei einem Volksfest. 

Welche Bedeutung hat der Marsch von Rahul Gandhi? 

Faizan Ahmed: Der Marsch fand zu einer Zeit statt, als die anti-muslimische und spalterische Politik der Regierung Modi tatsächlich schon Menschenleben gekostet hat. Gleichzeitig ist Modi bei seiner Wählerschaft äußerst beliebt und die Opposition bleibt gespalten. Der Marsch hat Rahul Gandhi als ernstzunehmenden Politiker auf die politische Bühne zurückgebracht. Lange Zeit hatten ihn die Medien als Sohn einer politischen Dynastie dargestellt, der aber kein Durchhaltevermögen hat.

Frauen beim Bharat Jodo Yatra-Marsch (Foto: Faizan Ahmed)
Diskriminierte Minderheit: "Kein einziger Abgeordneter aus der muslimischen Gemeinschaft ist in der Regierung vertreten. Die Muslime müssen mitansehen, wie ihre Häuser und Geschäfte unter diesem Regime ohne Gerichtsbeschluss abgerissen werden können,“ sagt Faizan Ahmed. "Die Polizei kann nachts in ihre Häuser eindringen - in manchen Fällen ohne weibliche Polizeibeamte - und ihre Häuser können ohne Gerichtsbeschluss durchsucht werden. In Uttar Pradesh haben wir gesehen, wie muslimische Demonstranten von der Polizei erschossen oder verhaftet wurden.“

Das gesamte Spektrum der Gesellschaft angesprochen

Jetzt rechnet man ihm hoch an, dass er mit dem Marsch das gesamte Spektrum der indischen Gesellschaft angesprochen hat. Das ist auch der Grund dafür, weswegen die BJP so scharf reagiert hat: Ab einer Haftstrafe von zwei Jahren darf man für sechs Jahre nicht mehr an Wahlen teilnehmen! (Die Regierung entzog Rahul Gandhi sein Parlamentsmandat, nachdem er am 23. März zu zwei Jahren Haft wegen "Verleumdung“ verurteilt worden war. Anlass dafür war ein Witz, den Gandhi vor vier Jahren über den Nachnamen "Modi“ gemacht hat, Anm der Red.).

Handelt es sich beim Marsch in erster Linie um einen PR-Gag oder bedeutet er mehr? 

Faizan Ahmed: Die Strecke von Kanyakumari (an der Südspitze Indiens in Tamil Nadu) nach Kaschmir ist die längste des Landes und hat in der nationalistischen Vorstellung einen besonderen Platz. Der Marsch wurde von engagierten Mitgliedern der Kongresspartei organisiert, die sich im Vorfeld Gesundheitschecks und Screenings unterzogen, um an der gesamten Strecke der Yatra teilnehmen zu können.



Ein Marsch über 4000 Kilometer ist anspruchsvoll und bedarf sorgfältiger Planung, das ist nicht einfach ein PR-Gag. Viele Beobachter hatten zunächst nicht damit gerechnet, dass Rahul Gandhi sein Vorhaben durchziehen würde, aber nach mehreren Wochen gewann der Marsch an Schwung. 

Wie wirkt sich der BJY auf die nationale Politik aus? Und wie auf die Basis der Kongresspartei?

Faizan Ahmed: Der BJY hat das Bild von Rahul Gandhi als Macher gefestigt. Er hat sicherlich auch die Moral der Mitglieder der Kongresspartei, seiner Unterstützer, der Zaungäste und der stillen Beobachter gestärkt. Die hohe Beteiligung während der gesamten Yatra hat anderen Oppositionskräften und der einfachen Bevölkerung Zuversicht gegeben und signalisiert, dass die Anti-BJP-Bewegung aktiv ist.



Der Marsch hat die Erwartungen der Menschen an die Kongresspartei erhöht und bei ihnen den Wunsch nach kreativeren und bodenständigeren Kampagnen im Vorfeld der nächsten Wahlen geweckt. Die Opposition will unbedingt einen dritten Sieg der BJP von Narendra Modi in 2024 verhindern.

Der Sozialanthropologe and politische Beobachter S. M. Faizan Ahmed (Foto: privat)
Die Opposition schöpft HOffnung: Die hohe Beteiligung während des gesamten Marschs hat anderen Oppositionskräften und der einfachen Bevölkerung Zuversicht gegeben und signalisiert, dass die Anti-BJP-Bewegung aktiv ist. Der Marsch hat die Erwartungen der Menschen an die Kongresspartei erhöht und bei ihnen den Wunsch nach kreativeren und bodenständigeren Kampagnen im Vorfeld der nächsten Wahlen geweckt. Die Opposition will unbedingt einen dritten Sieg der BJP von Narendra Modi in 2024 verhindern.   

Kein muslimischer Abgeordneter in der Regierung

Wenn wir über Minderheiten sprechen, und die indischen Muslime sind die größte Minderheit im Land: Was hat sich für sie unter dem BJP-Regime geändert? Wie sehen Sie die Zukunft der Minderheiten? 

Faizan Ahmed: Kein einziger Abgeordneter aus der muslimischen Gemeinschaft ist in der Regierung vertreten. Die Muslime müssen mitansehen, wie ihre Häuser und Geschäfte unter diesem Regime ohne Gerichtsbeschluss abgerissen werden können. Die Polizei kann nachts in ihre Häuser eindringen - in manchen Fällen ohne weibliche Polizeibeamte - und ihre Häuser können ohne Gerichtsbeschluss durchsucht werden. In Uttar Pradesh haben wir gesehen, wie muslimische Demonstranten von der Polizei erschossen oder verhaftet wurden.

Muslime wissen auch, dass die Minderheitenkommissionen in Indien zahnlose Gremien sind. Heute kann jede muslimisch aussehende Person überall in Indien Opfer eines Lynchmobs werden. Die Minderheiten in Indien sind sich dieser Entwicklungen sehr bewusst, da sie Angriffe auf ihre Feste, Tempel, Denkmäler und so fort erleben. Staatliche Behörden werden nicht mehr als überparteiisch und fair angesehen, da sie oft vom herrschenden Regime manipuliert werden – wie jetzt im Fall von Rahul Gandhis Verurteilung.

Wer hat sich dem Marsch seit Oktober 2022 angeschlossen und gibt es Sympathisanten innerhalb der BJP? 

Faizan Ahmed: Neben Aktivisten der Zivilgesellschaft und Parteimitgliedern waren es vor allem Durchschnittsbürger, die mitgelaufen sind. Die BJP hat den Marsch nicht wirklich unterschätzt, aber als er die Hauptstadt Delhi erreichte, wurde sie doch nervös. Kein BJP-Politiker unterstützte Rahul Gandhis Forderung, die Hassreden zu reduzieren. Im Gegenteil, die BJP-nahen Medien machten aktiv Propaganda gegen den Marsch und vermittelten ein verzerrtes Bild. 





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Die Vielfalt der Kultur ist in die Brüche gegangen

Können Sie die Veränderungen erläutern, die Indien in Bezug auf die politische Kultur seit dem Aufkommen der hindu-nationalistischen BJP im Jahr 2014 durchgemacht hat? 

Faizan Ahmed: Früher hatte jede politische Partei eine Reihe von Führungspersönlichkeiten, die gleich wichtig waren. Das hat sich seit 2014 geändert. Jetzt scheinen sich fast alle Parteien in zentrale Kommandostelle verwandelt zu haben. Dies ist ein beunruhigendes Zeichen, da es auf absolute Macht hindeutet. Was die Protestkultur angeht, so nimmt die Zahl derjeniger, die aus ethischen und ideologischen Gründen protestieren, von Tag zu Tag ab. Groß angelegte Proteste gibt es nur, wenn die Politik der Regierung bestimmte Bevölkerungsgruppen hart und in großer Zahl trifft.  

Was muss die Kongresspartei tun, um bei den nächsten Parlamentswahlen im Mai 2024 eine realistische Chance zu haben? 

Faizan Ahmed: Die Kongresspartei braucht eine organisatorische Neuaufstellung. Sie muss die Jugend ermutigen, sich ihr anzuschließen und ihr die Möglichkeit geben, ihre Programme durchzusetzen. Sie sollte sich von der Kultur der Alibiveranstaltungen verabschieden.



Mehr als Redner, die die Menge anfeuern, braucht die Partei aufrichtige und engagierte Mitglieder, die Wähler mobilisieren können und einen Draht zu ihren Wahlkreisen haben. Darüber hinaus muss die Kongresspartei den säkularen Charakter Indiens als wichtigen Pfeiler der nationalen Identität des Landes betonen, um eine Option für alle Wähler zu sein, die nicht in einem religiösen Staat leben wollen. Schließlich kann nur eine solide Einheit der Oppositionsparteien bei der Wahl im Jahr 2024 eine politische Veränderung erreichen. 

Wie sehen Sie die Zukunft Indiens in den kommenden Jahrzehnten? 

Faizan Ahmed: Ich bin kein Pessimist, daher werde ich kein trostloses Bild von der Zukunft zeichnen, das sich aus dieser düsteren Gegenwart ergibt. Das Vertrauen der Bürger in die repräsentativen Prozesse und die Mechanismen der Rechtsprechung sind allerdings schwer angeschlagen. Schon gesündere Teile der Gesellschaft fühlen sich inmitten des Medienspektakels hilflos, und die Vielfalt der Kultur ist in die Brüche gegangen.



Die nächste, nicht von der BJP geführte Regierung wird vor der Herkulesaufgabe stehen, die von der BJP-Regierung angerichteten Schäden zu beseitigen und den Kurs der indischen Demokratie zu korrigieren. 

Interview von Sonja Hegasy

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