Assads Truppen ausgeliefert

Während in Berlin über sichere Grenzen gesprochen wird, bringt die nächste Offensive des syrischen Regimes neues Leid. Für Syriens Präsident Baschar al-Assad sind Flüchtlinge eine Waffe. Von Bente Scheller aus Beirut

Von Bente Scheller

Flüchtlingsthemen standen hoch auf der Agenda des Besuchs von Bundeskanzlerin Angela Merkel in Jordanien und dem Libanon Mitte Juni. An einer Rückkehr der syrischen Flüchtlinge sei allen gelegen, "aber es müssen sichere Bedingungen sein, wenn eine Rückkehr in Betracht gezogen werden soll", so die Kanzlerin. Sie war noch nicht einmal ins Flugzeug zurück nach Berlin gestiegen, da begann das syrische Regime bereits die nächste militärische Großoffensive. Angriffsziel diesmal: die Provinz Daraa im Süden Syriens.

Daraa stellte die ruhigste der vier von Russland, dem Iran und der Türkei 2017 in Astana vereinbarten sogenannten Deeskalationszonen dar. Dazu hatte sicherlich auch beigetragen, dass die USA, Russland und Jordanien sich ebenfalls vor genau einem Jahr auf einen Waffenstillstand für diese Region geeinigt hatten. Deren Ende kündigte sich mit Beginn der Fußballweltmeisterschaft in Russland an, als die Vereinigten Staaten die Rebellen in Daraa warnten: Sie sollten nicht auf "Provokationen" reagieren, aber auch nicht auf die Hilfe der USA zählen.

Kurz darauf erklärte der russische Präsident Wladimir Putin die Waffenruhe einseitig für beendet. Mit massiven Bombardements machte sich die syrische Luftwaffe von Baschar al-Assad daran, das von den Rebellen gehaltene Territorium zu spalten und in Richtung des Grenzübergangs zu Jordanien vorzustoßen.

Assads Verbündeter Russland, zuvor zögerlich, in diesem Landesteil eigene Angriffe zu fliegen, nahm selbst Luftbombardements auf. Innerhalb von nur zwei Wochen sind über eine Viertelmillion Menschen auf der Flucht, die zuvor nicht weg wollten, so wenig perspektivenreich ihre Lage auch war – und die jetzt in der Falle sitzen. Denn weder Israel noch Jordanien wollen ihre Grenzen öffnen.

Kapitulation reicht dem Regime nicht

Dabei wäre es gerade dieser Landesteil gewesen, in dem auch ohne eine weitergehende Intervention der Schutz von Zivilistinnen und Zivilisten gangbar gewesen wäre. "Daraa ist ein Musterbeispiel für etwas in Syrien, das man hätte unterstützen und schützen sollen", sagt der Filmemacher und Aktivist Orwa Mokdad. "Weder der IS noch andere extremistische Gruppen konnten hier Fuß fassen" – zumindest nicht annähernd so massiv wie im Norden. "Der Aufstand hier ist immer eine lokale Angelegenheit gewesen."

Luftangriffe in der syrischen Provinz daraa nahe der syrisch-jordanieschen Grenze am 8. Juli 2018; Foto: Getty Images/AFP
Gnadenlos gegen die eigene Bevölkerung: Es ist die übliche Taktik des Regimes: Durch Flächenbombardements und gezielte Angriffe auf zivile Einrichtungen wie Krankenhäuser und Schulen soll das Leid in der Zivilbevölkerung so verstärkt werden, dass die lokalen Räte gezwungen sind, aufzugeben. Angesichts der militärischen Überlegenheit des Regimes und seiner Unterstützer ist mittlerweile klar, dass die Rebellen keine Chance haben.

Auch deswegen gebe es hier viel mehr Kämpfer als in anderen Landesteilen – Kämpfer, die ihre Orte verteidigen und sich so eines weitaus größeren Rückhalts in der Bevölkerung erfreuen als anderswo. Und bei deren schierer Zahl klar ist, dass ein Transfer nach Idlib nicht realistisch ist.

Es ist die übliche Taktik des Regimes: Durch Flächenbombardements und gezielte Angriffe auf zivile Einrichtungen wie Krankenhäuser und Schulen soll das Leid in der Zivilbevölkerung so verstärkt werden, dass die lokalen Räte gezwungen sind, aufzugeben. Angesichts der militärischen Überlegenheit des Regimes und seiner Unterstützer ist mittlerweile klar, dass die Rebellen keine Chance haben.

Dass diese nicht schon vor der ultimativen Eskalation einlenken, hat gute Gründe: Die Erfahrung vielerorts in Syrien ist, dass das Regime nicht satisfaktionsfähig ist. Eine Kapitulation – vom Regime zynisch als "Versöhnungsabkommen" bezeichnet – reicht ihm nicht. Stattdessen nimmt das Regime Rache an den Unterlegenen. In diesem Sinne hat es ganze Städte entvölkert. Eine Rückkehr der Bewohnerinnen und Bewohner ist nicht vorgesehen, sondern die Kampagnen sind Teil einer brutal erzwungenen demografischen Neuordnung.

Mehr Furcht vor Assads Milizen als vor Bombardements

An anderen Orten geht die Verfolgung weiter. "Als jüngste Beispiele aus der Provinz Daraa haben wir mehrere Orte. In einem richtete das Regime trotz eines anders lautenden Abkommens Kämpfer der "Freien Syrischen Armee" (FSA) sofort beim Einnehmen des Ortes hin. In einem anderen gingen die Bombardements schlicht weiter."

Solange es keine Garantien gibt, dass die Abkommen eingehalten werden, sehen viele in ihnen keine Chance auf Schonung, sondern fürchten die physische Präsenz des Regimes und seiner Milizen mehr als die Bombardements, denen sie täglich ausgesetzt sind.

"Neben der Forderung, alle Waffen abzugeben, haben die russischen Verhandler auch Namenslisten aller Mitglieder der 'Freien Syrischen Armee' gefordert", sagt Mokdad. Das lasse viele vermuten, dass ihnen entweder Haft, Verfolgung oder Zwangsrekrutierung für die nächste Front – die im Norden gelegene Provinz Idlib – drohe.

Das Interesse Europas am syrischen Konflikt beschränkt sich darauf, nicht mehr Flüchtlinge aufnehmen zu müssen und die Aufgenommenen baldmöglichst zurückzuschicken. In einem Europa, in dem rechte Parteien den Diskurs diktieren, wird dies zur Maxime erhoben und die Wahrnehmung gefördert, besonders betroffen durch den Krieg in Syrien zu sein.

Doch nur ein winziger Teil der rund fünf Millionen aus Syrien Geflüchteten hat es überhaupt nach Europa geschafft. Es sind Syriens Nachbarstaaten – neben der Türkei eben Jordanien und der Libanon –, die den Großteil der Flüchtlinge aufgenommen haben.

Wer sich nicht unterordnet, soll draußen bleiben

Während für Europa die bequemste Lösung ist, die Grenzen zu schließen und andere Staaten finanziell bei der Aufnahme von Flüchtlingen zu unterstützen, ist es eben für die am meisten betroffenen Nachbarstaaten noch viel dringlicher, eine Lösung zu finden, die auch die Rückkehr der Geflüchteten beinhaltet.

An Lippenbekenntnissen aus Damaskus, dass das Regime "jeden seiner Söhne" sehnlichst zurückerwarte, mangelt es nicht – konterkariert durch Assads Aussage im August vergangenen Jahres, dass die Verluste zwar bedauerlich seien, aber die syrische Gesellschaft dadurch viel "gesünder und homogener" geworden sei. Untermauert wird letztere Haltung durch diverse Beispiele.

Mal ist es das bewusste Spiel, mit dem in diesem Jahr zirkulierten "Gesetz Nummer 10", das Enteignungen von Syrerinnen und Syrer erlaubt, sofern sie sich nicht innerhalb eines kurzen Zeitraums vor Ort melden, um ihr Eigentum einzufordern – für viele unmöglich, was ein massives Hindernis bei der Rückkehr bedeuten würde.

Flüchtlinge aus der Provinz Daraa an der jordanisch-syrischen Grenze; Foto: Xinhua/picture-alliance
Flüchtlinge aus der Provinz Daraa an der jordanisch-syrischen Grenze: Das Interesse Europas am syrischen Konflikt beschränkt sich darauf, nicht mehr Flüchtlinge aufnehmen zu müssen und die Aufgenommenen baldmöglichst zurückzuschicken. In einem Europa, in dem rechte Parteien den Diskurs diktieren, wird dies zur Maxime erhoben und die Wahrnehmung gefördert, besonders betroffen durch den Krieg in Syrien zu sein.

Mal signalisiert das Regime den Nachbarstaaten, dass es kein Interesse hat, die Geflüchteten überhaupt wieder einreisen zu lassen.

Das speist sich noch nicht einmal vorrangig aus der mutmaßlichen Oppositionshaltung der Geflüchteten. Die meisten waren nicht politisch engagiert. Doch das syrische Regime lastet ihnen die Verantwortung für die eigene Notlage an und will die Spannungen in den von ihm kontrollierten Gebieten nicht verstärken, indem es versorgungsbedürftigte Landsleute zurücknimmt.

Europa entzieht sich der Verantwortung

Der Libanon hat deswegen im vergangenen Jahr mit drastischen Methoden dafür gesorgt, dass Tausende sich "freiwillig" zur Rückkehr nach Syrien meldeten. Nach einer Razzia in einem Flüchtlingscamp wurden vier der Verhafteten innerhalb weniger Tage in libanesischen Gefängnissen zu Tode gefoltert. Verbracht wurden die "Rückkehrer" nicht an ihre Herkunftsorte, sondern in die Rebellenprovinz Idlib und in belagerte Ortschaften.

Auch in diesem Sommer tönte Libanons Außenminister Gibran Bassil vollmundig, dass 3.000 syrische Flüchtlinge aus Arsal zurückgeschickt würden. Offenbar erlaubte das Regime aber nur einem Bruchteil von ihnen die Rückkehr. Möglicherweise kam selbst das nicht ohne Preis, denn wie sich herausstellte, war der libanesische Präsident Michel Aoun zu diesem Zeitpunkt gerade dabei, per Dekret Dutzenden betuchten syrischen Geschäftsleuten die libanesische Staatsbürgerschaft zu gewähren.

Das syrische Regime nutzt die Flüchtlinge als Waffe, um die Nachbarstaaten und Europa unter Druck zu setzen – erfolgreich, wenn man sich anschaut, wie viele mittlerweile bereit sind, sich mit dem Diktator abzufinden.

Emblematischer als diese zeitliche Koinzidenz kann es nicht sein, wenn während Merkels auf die Flüchtlingsunterstützung fokussiertem Besuch die neue Welle der Vertreibung beginnt. Europa tänzelt um die Auswirkungen herum und entzieht sich der eigentlichen Debatte: warum es nicht gewillt ist, die Verantwortlichen für diese und viele andere Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft zu ziehen, sondern seine eigene Agenda auf dem Rücken der Betroffenen austrägt.

Von der Wiege des Aufstands wird Daraa nicht nur zum Grab der Rebellion, sondern auch der in Europa so gern beschworenen Regeln der Menschlichkeit.

Bente Scheller

© Bente Scheller 2018

Bente Scheller leitet das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Beirut. 2014 erschien ihr Buch "The Wisdom of Syria's Waiting Game – Foreign Policy under the Assads".