Die therapeutischen Verse des Koran

Gemeinsam mit seinen Studenten hat der klinische Psychologe Ofer Grosbard an der Universität von Haifa aus Koranversen eine Sammlung von Erziehungsratschlägen erstellt. Hisham Adem sprach mit dem israelischen Wissenschaftler über die pädagogische Einsatzfähigkeit der heiligen Schrift.

Ofer Grosbard; Foto: Patmos Verlag
"Dieses Buch wurde der ganzen Menschheit gegeben": der Israeli Ofer Grosbard hat den Koran nach pädagogisch-normativen Leitsätzen durchsucht - und ist fündig geworden.

​​Herr Grosbard, wie kamen Sie auf die Idee für das "Quranet"-Projekt?

Ofer Grosbard: Das Projekt geht auf eine meiner Beduinen-Studentinnen zurück, Bushra. Letztes Jahr hatte ich eine Gruppe von insgesamt 15 Beduinen, die Erziehungsberatung auf Magister studierten und bei mir einen Kurs in Entwicklungspsychologie belegten.

Eines Tages kam Bushra zu mir und sagte: "Darf ich ganz ehrlich sein? Was sie uns lehren, wird uns nicht helfen." "Warum sagen sie das?", fragte ich zurück. Bushra meinte, dass, wenn sie Erziehungsberaterin werde, irgendwann ein Elternteil zu ihr kommen und sagen könnte, dass sein Kind von einem Dämonen besessen sei oder etwas in der Art. "Meinen Sie, dem kann ich mit dem kommen, was sie uns beibringen?" "Was wäre denn hilfreicher?", fragte ich wieder und sie antwortete mit einem Wort: "Der Koran". Bushra erklärte mir, dass im passenden Zusammenhang das Zitat eines Koranverses eine enorme Bedeutung für Muslime hätte.

So brachte ich zur nächsten Stunde ein Exemplar des Koran mit in den Unterricht und bat die Studenten, diejenigen Verse zu markieren, die ihrer Meinung nach einen therapeutischen Nutzen haben. Schnell wurde klar, dass es davon eine ganze Menge gibt. Die Verse fordern das Individuum dazu auf, Verantwortung zu übernehmen, nach der Wahrheit zu suchen, andere zu respektieren usw.

Dann bat ich die Studenten, eine kurze Geschichte zu schreiben, die illustrieren soll, in welcher Weise Eltern oder Lehrer einen Vers verwenden können, um einem Kind eine bestimmte Botschaft zu vermitteln. Auf diese Weise sammelten wir mehr als 300 Geschichten, denen ich jeweils eine kurze und simple entwicklungspsychologische Erläuterung beifügte. So ist "Quranet" entstanden.

In welcher Sprache entstand "Quranet"?

Grosbard: Alles wurde auf Hebräisch entwickelt, bekam eine Einführung von drei anerkannten Scheichs und wurde jüngst vom Ben Gurion University Publishing House als Buch herausgebracht.

Screenshot Quranet; Foto: Quranet
"Was passiert, wenn wir Schlchtes mit Gutem vergelten?" Quranet</i> vermittelt seine Inhalte interaktiv, mit knappen und einfachen Erläuterungen. Noch ist das Projekt aber nicht online-fähig.

​​Wie soll "Quranet" genau funktionieren?

Grosbard: Der Nutzer wählt ein bestimmtes Problem aus einem Inhaltsverzeichnis aus und erhält dann den entsprechenden Koranvers. Dann kann er noch eine kurze Beschreibung einer Alltagssituation lesen, die schildert, wie der Vers angewendet werden kann. Auch findet sich eine ebenso kurze erziehungspsychologische Erläuterung zu dem Vorgang.

Was sind die Hauptziele von "Quranet"?

Grosbard: Unser Projekt macht aus dem Koran ein einzigartiges und nützliches Instrument für Eltern und Lehrer. Es verknüpft den Koran in bisher nie dagewesener Weise mit einem erzieherischen Ansatz. "Quranet" offenbart die Schönheit des Koran und seinen Respekt vor der Würde des Menschen. Damit bietet das Projekt nicht zuletzt auch eine deutliche Antwort auf den Missbrauch des Koran als Rechfertigung religiösen Terrors.

Sie sagen, dass es zum Konzept von "Quranet" gehört, den Koran als Erziehungsinstrument einzusetzen. Was genau meinen Sie damit, vor allem in Bezug auf den Kampf gegen den radikalen Islamismus?

Grosbard: Ich bin Jude und obwohl ich meine Studenten in Psychologie unterrichte, waren sie es, die mir den Koran näherbrachten, den ich vorher nicht kannte. Sie zeigten mir seine Schönheit und auf welch treffende Weise menschliche Beziehungen darin behandelt werden. Damit widersprechen die Kernaussagen des Werks in krasser Weiser seinem Missbrauch im Namen des Terrors. Liebe ist es, um die es im Koran geht, und das zeigen wir auch den Eltern und Lehrern.

Haben Sie auch mit islamischen Theologen zusammengearbeitet?

Grosbard: Während der Arbeit am Material selbst haben wir nicht mit Scheichs oder Imamen zusammengearbeitet. Schließlich sind wir letzten Endes nur Erzieher. Die Studenten sind auch keine Koran-Exegeten. Sie wollen nichts weiter, als den Koran Kindern und ihren Familien zu vermitteln. Ein Vater, der seinen Kindern aus dem Koran vorliest, wird dadurch nicht automatisch zum prefessionellen Exegeten. Wenn der Vater eine Stelle zitiert, in der zum Beispiel gemahnt wird, dass man die Wahrheit sagen soll, ist das keine Koran-Exegese.

Cover Israel auf der Couch; Foto: Patmos Verlag
In seinem Buch "Israel auf der Couch" analysiert Ofer Grosbard die Psychologie des Nahostkonflikts. Das bei Patmos erschienene Buch ist derzeit vergriffen.

​​Ich betone das, weil wir von arabischer Seite vielfach einer Art Verschwörung bezichtigt wurden: Wir würden uns anmaßen, den Koran auszulegen. Dabei hatten diese Leute unser Material gar nicht gelesen, weil es auf Hebräisch ist und nur auf unserer internen Website gelesen werden konnte.

Nachdem wir das Projekt aber abgeschlossen hatten, zeigten wir es drei renommierten Scheichs aus England, Israel und Indien, die davon ganz begeistert waren.

Trotzdem ist das Projekt in islamischen Kreisen sowohl innerhalb als auch außerhalb Israels auf Kritik gestoßen, weil es angeblich der israelischen Propaganda diene und zudem auch noch den Koran manipuliere.

Gosbard: Zunächst ist dazu festzuhalten, dass die Arbeit selbst zum größten Teil von Beduinen-Studenten gemacht wurde. Das geschah zwar unter meiner Anleitung, doch stand dies in keiner Weise in Verbindung mit dem israelischen Staat. Ich weiß, dass es für Menschen aus nicht-demokratischen Ländern schwierig ist, sich vorzustellen, dass so etwas an der Regierung vorbei gemacht werden kann.

Es stimmt dennoch, dass der israelische Staat stolz ist auf dieses Projekt. Und warum auch nicht? Muslime glauben doch auch, dass der Koran der ganzen Menschheit gegeben wurde. Warum sollte es also mir, einem Juden, verboten sein, ihn zu studieren? Unser Projekt ist ein Werk der Liebe, nicht einer Verschwörung.

Glauben Sie, dass es Ihrem Projekt gelingt, eine Brücke zwischen der islamischen Welt und dem Westen zu bauen?

Gosbard: Für Muslime kann die psychologische Erläuterung des Korans tatsächlich solch eine Brücke sein. Nicht-Muslime werden dagegen vor allem die Schönheit des Korans entdecken. So erging es mir jedenfalls. Dem Koran gelang es, eine Brücke der Liebe zwischen mir und meinen Studenten zu schaffen. Sie zeigten mir die Schönheit ihrer Kultur, wofür ich ihnen immer dankbar sein werde.

Interview von Hisham Adem

© Qantara.de 2008

Übersetzung aus dem Englischen von Daniel Kiecol

Ofer Grosbard, geboren 1954 in Israel, stammt aus einer deutsch-litauischen, jüdischen Familie. 1973 nahm er am Yom-Kippur-Krieg teil. Er ist klinischer Psychologe und Psychoanalytiker sowie Autor mehrerer Bücher, darunter "Israel auf der Couch" (2001) und "Lizenz zum Wahnsinn" (2003). Zurzeit ist er Dozent an der Haifa University.

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