Der politische Niedergang der Religionen

Im Nahen Osten wurden ehemals religiös bestimmte Konflikte mittlerweile von strategischen und sicherheitspolitischen Interessen abgelöst. Die politische Rolle der Religion nimmt ab. Eine Bestandsaufnahme von Shlomo Ben-Ami

Von Shlomo Ben-Ami

Wenn man sich die Konflikte im Nahen Osten vor Augen führt, ist die Religion wahrscheinlich mit das erste, was einem durch den Kopf geht. Heute aber spielen konkurrierende strategische Interessen und imperiale Reflexe eine noch viel größere regionalpolitische Rolle als religiöse oder sektiererische Spaltungen. Diese Entwicklung kann durchaus positiv sein.

Nehmen wir beispielsweise die Tatsache, dass Saudi-Arabien gegen den Iran um regionalen Einfluss kämpft. Der Wettbewerb zwischen den beiden Staaten wurde lange Zeit als Ergebnis der sunnitisch-schiitischen Spaltung gesehen, doch eine viel größere Rolle spielt dabei, dass es sich um zwei gegensätzliche politische Systeme handelt: Irans revolutionäres Regime, das entschlossen ist, das regionale Gleichgewicht der Kräfte zu verändern, konkurriert gegen die konservative Monarchie Saudi-Arabiens, die versucht, die alte Ordnung in der Region zu zementieren.

Freund oder Feind? Konfliktlagen nach dem Arabischen Frühling

In diesem Zusammenhang macht es auch Sinn, dass der Iran die Proteste des Arabischen Frühlings unterstützt hat. Für einen arabisch dominierten Nahen Osten ist der nichtarabische Iran ein natürlicher Feind, aber in einem muslimischen Nahen Osten könnte das Land ein Hegemon sein. Also unterstützte der Iran freie Wahlen in den Umbruchsstaaten und sagte voraus, die Wähler würden die Islamisten an die Macht bringen.

Das ultrakonservative saudische Königshaus hingegen verabscheut derartige politische Umwälzungen und sieht sich von der arabischen Demokratie verständlicherweise grundlegend bedroht. Also versuchten die Saudis, die Aufstände zu bekämpfen, egal ob die Demonstranten Schiiten (wie in Bahrain) oder Sunniten (wie in Ägypten) waren. Gleichzeitig hielt das Königreich an seinem Bündnis mit den Vereinigten Staaten fest – der westlichen Großmacht, von der sich der Iran am stärksten bedroht fühlt. In diesem Sinne ging es beim Arabischen Frühling um den Aufstieg und die Unterdrückung des politischen Islam.

Arabischer Frühling in Bahrain: Demonstrationen am 16.02.2013 in Daih, westlich von Manama; Foto: AFP/Getty Images
Zeitenwende und neues Schisma im Zuge der Arabellion: Der Iran hatte die Proteste des Arabischen Frühlings unterstützt. Das ultrakonservative saudische Königshaus hingegen verabscheute derartige politische Umwälzungen und sah sich von der arabischen Demokratie verständlicherweise grundlegend bedroht. Also versuchten die Saudis, die Aufstände zu bekämpfen, egal ob die Demonstranten Schiiten (wie in Bahrain) oder Sunniten (wie in Ägypten) waren.

Darüber hinaus passen die Bündnisse im Nahen Osten nicht mehr in die sunnitisch-schiitischen Schubladen. Dass die regionalen Konflikte immer weniger religiös, sondern immer stärker politisch beeinflusst sind, wird dadurch noch verstärkt. Beispielsweise hat die fundamental-sunnitische Hamas, die den Gaza-Streifen regiert, hauptsächlich deshalb überlebt, weil sie vom Iran finanziert wurde.

Die Spaltung der sunnitischen Staatenwelt

Auch der Oman, der von Ibaditen und Sunniten dominiert wird, hat engere Beziehungen zum Iran als zu Saudi-Arabien. Die beiden kontrollieren gemeinsam die wichtigen Öltransportrouten in der Straße von Hormus. Tatsächlich wird der Oman jetzt beschuldigt, dem Iran dabei zu helfen, Waffen für die Huthi-Rebellen in den Jemen zu schmuggeln – wo der Iran und Saudi-Arabien einen Stellvertreterkrieg führen.

Auch Qatar pflegt engere Beziehungen zum Iran, als es Saudi-Arabien gefällt. Die beiden Länder teilen sich riesige Gasfelder. Dementsprechend setzten sich die Saudis im letzten Jahr – gemeinsam mit den Vereinigten Arabischen Emiraten, Ägypten und Bahrain – an die Spitze einer Koalition arabischer Staaten, um Qatar diplomatisch zu isolieren und mit Sanktionen zu belegen.

Aber die Türkei, eine weitere sunnitische Macht, unterhält in Qatar eine Militärbasis. Und dies ist nicht die einzige Quelle der Spannungen zwischen Saudi-Arabien und der Türkei: Auch über die Muslimbruderschaft sind sie sich nicht einig. Während die Saudis die Bruderschaft als existenzielle Bedrohung betrachten, hält die Türkei sie für ein Modell islamistischer Politik, das es wert ist, verteidigt zu werden. Auch ist die Bruderschaft für die Türkei ein Mittel, um ihren Einfluss innerhalb der arabischen Welt zu vergrößern.

Dies aber führte zu Konflikten mit einer weiteren sunnitischen Macht: Ägypten. Für den ägyptischen Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi ist die Muslimbruderschaft ein Erzfeind. Die Ägypter scheinen ihre Interessen auch dadurch bedroht zu sehen, dass die Türkei regional an Bedeutung gewinnt und sich zum Hauptvertreter der palästinensischen Sache erklären will.

Das neue Verhältnis zu Israel

Dass die religiösen Konflikte durch strategische und sicherheitspolitische Interessen ersetzt wurden, lässt sich vielleicht am besten daran erkennen, dass sich das Verhältnis der arabisch-sunnitischen Staaten – einschließlich der Golfmonarchien und Ägypten – zu Israel verändert hat. Israel war einst der ungläubige Hauptfeind der arabischen Welt. Die wirtschaftlichen und militärischen Errungenschaften des Landes wurden lange Zeit als Beleg dafür gesehen, dass die arabischen Staaten gescheitert waren. So wurde Israel in der Region zwar gehasst, aber auch widerwillig bewundert.

Doch angesichts dessen, dass der iranische Einfluss wächst und sich der islamistische Terrorismus weiter ausbreitet, ist Palästina für Saudi-Arabien die geringste Sorge. Die strategischen Interessen der Saudis haben sich so grundlegend geändert, dass sie, als US-Präsident Donald Trump Jerusalem als Israels "ewige Hauptstadt" anerkannte, keinerlei Einwände hatten. Andere sunnitische Golfmonarchen und auch Ägypten gehen sogar so weit, dass sie mit Israel sicherheitspolitisch zusammenarbeiten.

Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu bei einer Rede am 2 Februar 2017 in Ariel; Foto: Getty Images/AFP/J. Guez
Forcierter Siedlungsbau unter Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu: "Tatsächlich hat Israels religiös-nationalistische Koalition bei ihrem Versuch, die Kontrolle über die besetzten Gebiete zu behalten, ihre Seele an christliche Antisemiten verkauft: nämlich die amerikanischen Evangelisten. Sie sind leidenschaftliche Unterstützer der Kolonialisierung Judäas und Samarias", schreibt Shlomo Ben-Ami.

Auch in Israel selbst wird die Religion immer mehr durch Politik ersetzt. Bei seinem Expansionskurs im Westjordanland geht es Ministerpräsident Benjamin Netanjahu nicht um das Judentum, sondern um politische Macht. Immerhin würde ein Zweivölkerstaat unter palästinensischer Mehrheit bedeuten, das "Jüdische" des Landes erheblich zu verwässern.

Tatsächlich hat Israels religiös-nationalistische Koalition bei ihrem Versuch, die Kontrolle über die besetzten Gebiete zu behalten, ihre Seele an christliche Antisemiten verkauft: nämlich die amerikanischen Evangelisten. Sie sind leidenschaftliche Unterstützer der Kolonialisierung Judäas und Samarias. Dass sich Netanjahu mit ihnen verbündet, ist also nicht nur für die überwiegend liberale jüdisch-amerikanische Gemeinde ein Affront, sondern auch für die mächtige rabbinische Elite in Israel selbst.

Als letztes Beispiel für ein Land im Nahen Osten, das die Politik gegenüber der Religion an erste Stelle setzt, kann der Irak angeführt werden. Die Amerikaner versuchen dort, den immer größeren iranischen Einfluss zurückzudrängen. Und dabei wird nun ausgerechnet Muktada al-Sadr, der feurige schiitische Prediger, der früher an der Spitze tödlicher Angriffe gegen US-Truppen stand, zu ihrer größten Hoffnung.

Die Wiedergeburt des irakischen Nationalismus

Al-Sadr ist Anführer einer zusammen gewürfelten Allianz reformierter Islamisten, säkularer zivilgesellschaftlicher Gruppen und der irakischen Kommunistischen Partei. So konnte er die jüngsten Parlamentswahlen gewinnen, indem er versprach, den Iran durch eine nationalistische Welle aus dem Irak zu drängen. Anfang dieses Jahres besuchte Sadr die streng iranfeindlichen Kronprinzen Saudi-Arabiens und der Vereinigten Arabischen Emirate. Für den Iran ist er jetzt das größte Hindernis für den strategischen Einfluss, den das Land im Irak gewinnen will.

Der schiitische Geistliche Muktada al-Sadr; Foto: AFP/H. Madani
Iraks neuer Königsmacher Muktada al-Sadr: Bei Wahl am 12. Mai hatte überraschend die Liste des schiitischen Klerikers Muktada al-Sadr die meisten Stimmen gewonnen. Der 44 Jahre alte Al-Sadr gilt als kontroverse Figur. Nach dem Sturz von Langzeitherrscher Saddam Hussein 2003 bekämpfte seine Mahdi-Armee die US-Truppen. In den vergangenen Jahren wandelte er sich zu einem der schärfsten Kritiker des politischen Establishments in Bagdad. Im Wahlkampf forderte der Geistliche Reformen und setzte auf soziale Themen. Für die Wahl ging er ein Bündnis mit den Kommunisten ein.

Das heutige Chaos im Nahen Osten wurzelt hauptsächlich in seinem historischen Erbe – vor allem darin, wie beliebig dort damals die Grenzen gezogen wurden. Weiterhin mangelt es der Region an visionärer Führung. Und auch religiöse und sektiererische Spaltungen haben ihren Teil zur Krise beigetragen.

Zweifellos ist die Lage immer noch angespannt und schwer in den Griff zu bekommen. Aber dadurch, dass die politische Rolle der Religion abnimmt, könnte sich die Region für Fortschritte und Modernisierung öffnen. Und Logik und Diplomatie haben bei den strategischen und sicherheitspolitischen Interessen immer schon eine größere Rolle gespielt als innerhalb der Religion.

Shlomo Ben-Ami

© Project Syndicate 2018

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff

Shlomo Ben-Ami ist Vizepräsident des Toledo International Center for Peace. Er ist Verfasser von "Scars of War, Wounds of Peace: The Israeli-Arab Tragedy".