Ein Wiedergänger der islamischen Revolution

In den Vorberichten über die Wahlen in Iran wurde häufig hervorgehoben, dass sogar konservative Kandidaten mit reformerischen Attitüden auftraten; nun wird ausgerechnet ein ultrakonservativer Kandidat in die Stichwahl gehen. Von Navid Kermani

Mahmoud Ahmedinejad; Foto: AP
Für Europa und möglicherweise auch die USA wäre ein Staatspräsident Ahmedinejad der grösste anzunehmende Unfall ihrer Iranpolitik, meint Navid Kermani

​​Man stelle sich eine Wahl in Europa vor: Der rechten Partei gelingt es, ihren Vorsprung bis in die letzten Umfragen zu halten, allerdings mit immer knapperem Abstand zu den regierenden Linken. Die Hochrechnungen sehen zunächst die Rechten vorne, dann die Linken. Noch Stunden nach Schliessung der Wahllokale deutet nichts auf eine Sensation hin.

Plötzlich steigt eine rechtsradikale Partei, die weder im Wahlkampf noch in den politischen Diskussionen eine Rolle gespielt hat, aus dem Nichts der Prognosen und Hochrechnungen auf. Als später das offizielle Endergebnis verkündet wird, hat sie es mit rund zwanzig Prozent auf den zweiten Platz geschafft. Die Sozialdemokraten finden sich weit abgeschlagen auf dem fünften Platz wieder.

So unrealistisch das Szenario wirkt, so macht es doch vielleicht am ehesten noch den Schock begreiflich, in dem Iran sich seit dem vergangenen Samstag befindet. Wie konnte es geschehen, dass die Analytiker und Meinungsforschungsinstitute in Teheran, die iranischen Intellektuellen ebenso wie die ausländischen Journalisten sich kollektiv und in solchem Ausmass geirrt haben?

Zersplitterte Reformkräfte

In den unzähligen Weblogs und Internetforen, den Kommentaren und Stellungnahmen der reformorientierten Öffentlichkeit, den Gesprächen von Politikern und Intellektuellen mit den persischsprachigen Diensten der westlichen Radiosendungen tastete man sich zunächst vor zu möglichen Erklärungen.

Vor allem wurde auf die Apathie der Bevölkerung hingewiesen und die offizielle Wahlbeteiligung von über sechzig Prozent in Zweifel gezogen. Viele Kommentatoren beklagten zudem die Zersplitterung der Reformkräfte, die gleichzeitig mit Aufrufen zum Boykott und zur Wahl zweier konkurrierender Kandidaten in die Wahlen gegangen waren.

Wandte sich der linkspopulistische Geistliche Mehdi Karrubi mit einfachen Versprechen an die ärmere Bevölkerung, so schien der ehemalige Bildungsminister Mostafa Moin mit klaren Signalen an die Frauen, die Dissidenten und die ethnischen und religiösen Minderheiten zuletzt immer mehr Zuspruch aus den städtischen Mittelschichten zu erhalten.

Zur Zersplitterung der Reformkräfte trug auch die Kandidatur des ehemaligen Staatspräsidenten Hashemi Rafsanjani bei. So verschlagen er sei, habe der einstige Staatspräsident als einziger Politiker Irans die Macht, sich gegen den Revolutionsführer zu behaupten und die Verständigung mit den Vereinigten Staaten durchzusetzen - so dachten viele Wähler, insbesondere innerhalb der westlich orientierten Geschäftswelt und Schickeria des Teheraner Nordens.

Dies alles erklärte aber noch nicht den Erfolg Ahmedinejads. Die Konservativen mögen insgesamt noch ein Viertel der iranischen Bevölkerung repräsentieren, vielleicht zehn, vielleicht fünfzehn Millionen Wähler. Aber es ist schwer vorstellbar, dass ein Ultraradikaler wie Ahmedinejad es innerhalb dieser Wählerschaft auf die fast sechs Millionen Stimmen gebracht hat, mit denen er in die Stichwahl gegen Hashemi Rafsanjani einzieht.

Selbst den traditionellen und ärmeren Bevölkerungsschichten, die am stärksten noch die Islamische Republik in ihrer bestehenden Form unterstützen, steht der Sinn nämlich nicht mehr nach islamistischen Exzessen und aussenpolitischer Isolation, für die Ahmedinejad geworben hat.

Verdacht auf Wahlbetrug

Mit Mehdi Karrubi war es einem der dienstältesten Politiker der Islamischen Republik vorbehalten, am Samstagnachmittag erstmals öffentlich auszusprechen, was immer mehr Iraner dachten: dass sie betrogen worden sind, und zwar im grossen Stile. In einer Pressekonferenz beschuldigte Karrubi den Wächterrat, das Militär und die Freiwilligenmiliz der Basidschis, die Wahlen zugunsten des radikalen Aussenseiters manipuliert zu haben.

Karrubi konkretisierte seine Vorwürfe zunächst nicht, sondern kündigte nur an, Beweise vorlegen zu können, Videoaufnahmen und abgehörte Gespräche. Dennoch war jedem Beobachter in Teheran klar, was Karrubi meinte. Mit eigenen Augen hatten viele Iraner gesehen, wie gegen Abend Wähler mit Bussen von Wahllokal zu Wahllokal gefahren wurden, um geschlossen zur Urne zu gehen.

Karrubis Wut, der er lautstark Ausdruck gab, gipfelte in der Feststellung, dass in Iran alle Macht ohnehin bei einer Person liege, egal wen die Menschen wählten. Gemeint war kein anderer als Revolutionsführer Ali Khamenei. Unter allen Kandidaten war Ahmedinejad der einzige, der die Fahne der Revolution hochgehalten und Khamenei bedingungslose Loyalität signalisiert hatte.

Die anderen konservativen Kandidaten und zumal Hashemi Rafsanjani waren mit einem betont gemässigten, pragmatischen Programm angetreten, das sowohl die Öffnung zum Westen wie auch die Liberalisierung im Inneren fortzusetzen versprach.

Vor allem aber haben sie viel zu viel eigenen machtpolitischen Ehrgeiz, um die Autorität des Revolutionsführers bedingungslos zu akzeptieren. Nur ein Radikaler wie Ahmedinejad, der an die Doktrin der "Herrschaft des Rechtsgelehrten" (welayat-e faqih) noch tatsächlich im Sinne einer religiösen Heilslehre glaubt, wird sich als Präsident mit der Rolle eines Öffentlichkeitsbeauftragten im Büro des Revolutionsführers begnügen.

Das Ende der inneren Machtkämpfe, welche die Islamische Republik seit dem Tode Khomeinys prägen und sich auch im Inneren der konservativen Machtelite abspielen, wäre die erhoffte Folge.

Nicht zufällig warb Ahmedinejad mit dem Slogan, "die Kultur des Martyriums" stärken zu wollen. Für Menschen wie ihn ist die Islamische Republik nicht nur das Ergebnis der Revolution von 1979, sondern die Zielvorstellung der schiitisch-islamischen Heils- und Leidensgeschichte.

Diese Geschichtsinterpretation basiert auf dem chiliastischen Charakter der schiitischen Volksfrömmigkeit und spricht denen, die in der vierzehnhundertjährigen Reihe der Glaubenskämpfer und Märtyrer stehen, einen fast messianischen Auftrag zu. Die Islamische Republik gründet sich damit in letzter Instanz auf den Willen Gottes, und das verleiht denen, die ihn ausführen, die ideologische und psychologische Legitimation, sich im Zweifel über den Volkswillen hinwegzusetzen.

Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum Mustafa Moin, der zweite gescheiterte Reformkandidat, in seiner Erklärung nicht bloss den Vorwurf des Wahlbetrugs wiederholte, sondern offen vor der "Gefahr des Faschismus" in Iran warnte.

Unsicherer Ausgang

In die Stichwahl am Freitag geht Mahmoud Ahmedinejad als Aussenseiter. Ganz chancenlos ist er aber nicht. Hashemi Rafsanjani verfügt zwar über enorme finanzielle und propagandistische Mittel und kann angesichts seines radikalen Konkurrenten jetzt erst recht die Rolle des weltoffenen Pragmatikers spielen. Aber zugleich ist er bei weiten Teilen der Bevölkerung unbeliebt, und zwar sowohl unter Gegnern wie unter Anhängern des Regimes. Ahmedinejad hingegen wird keine Mühe haben, seine Wählerschaft zu mobilisieren.

Für Europa und möglicherweise auch die USA wäre ein Staatspräsident Ahmedinejad der grösste anzunehmende Unfall ihrer Iranpolitik. Über Monate hinweg hatten die Europäer kaum einen Zweifel mehr daran gelassen, dass es in ihren Gesprächen mit Teheran nur um eine Lösung der Atomfrage ging.

Unter allen Kandidaten schien Hashemi Rafsanjani am ehesten dafür geeignet zu sein, dem Westen die gewünschten Sicherheitsgarantien zu geben. Dafür wäre die Islamische Republik mit weitreichender ökonomischer und politischer Unterstützung belohnt worden. Das Thema Demokratie oder die Unterstützung der Reformbewegung, die eben nicht bloss aus Khatami besteht, sondern inzwischen weit ins säkulare Lager reicht, spielte so gut wie keine Rolle in den Gedanken der Europäer.

Auch die Vereinigten Staaten hatten zuletzt signalisiert, auf die Linie der Europäischen Union einschwenken und mit einem Wahlsieger Rafsanjani ins Geschäft kommen zu wollen. Die Hoffnung des Westens, sich mit dem Regime in Teheran zu verständigen, dürfte sich bei einem Wahlsieg Ahmedinejads zerschlagen. Die Hoffnung auf Demokratie könnte sich dagegen - so paradox es klingen mag - neu beleben.

Ende der Apathie?

Zuletzt war es den Reformern nicht mehr gelungen, die breite Bevölkerung dafür zu gewinnen, sich aktiv für politische Veränderungen einzusetzen. Die meisten Iraner hatten sich bei aller Unzufriedenheit eingerichtet im Status quo, der sich immerhin im Alltag wesentlich liberaler darstellt als vor der Ära Khatamis. Ein Staatspräsident Rafsanjani würde die vielen neuen Nischen der privaten Selbstentfaltung kaum schliessen.

Ihm geht es nicht um Ideologie, sondern um Macht. Sollte das Regime es aber mit Ahmedinejad wagen, die gesellschaftlichen Freiheiten, die in den letzten Jahren erreicht worden sind, rückgängig zu machen, dürfte dies die Bevölkerung aus ihrer Apathie reissen.

Die Gefahr eines gewaltsamen Machtkampfes ist dabei alles andere als ausgeschlossen; und dann wird der Westen sich doch noch entscheiden müssen, auf welcher Seite er steht. Und womöglich einsehen, dass Sicherheit und Stabilität im Nahen Osten nicht ohne Demokratisierung zu erreichen sind.

Navid Kermani

© Neue Zürcher Zeitung, 21.06.2005

Der deutsch-iranische Schriftsteller und Orientalist Navid Kermani lebt in Köln. Zuletzt erschien von ihm der Erzählband "Du sollst" (Ammann-Verlag)

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