Besondere Beziehungen auch zu Palästina?

Aref Hajjaj beleuchtet das schwierige deutsch-palästinensische Verhältnis und argumentiert für einen aktiveren Beitrag der Bundesrepublik zur Herstellung von Frieden und Stabilität in der Krisenregion Nahost.

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Außenminister Fischer und Palästinenserchef Arafat

​​Es gibt "besondere" Beziehungen zwischen Deutschland und dem Staat Israel, die bekanntermaßen auf den Nationalsozialismus und die damit verbundene Judenverfolgung zurückzuführen sind. Im Grunde genommen gibt es so etwas wie "besondere" Beziehungen auch im Verhältnis zwischen Deutschland und dem noch nicht staatlich geformten Palästina.

Deutscher Sonderfall

Während bilaterale Beziehungen trotz allgemein bestehender Interdependenz regionaler und internationaler Art in der Substanz von den jeweils zwei betroffenen Staaten frei bestimmt und gesteuert werden, ist es hinsichtlich des deutsch-palästinensischen Verhältnisses etwas anders. Denn dort ist der äußere Faktor nicht nur kontinuierlich vorhanden, sondern er prägt auch dieses Verhältnis maßgeblich.

Palästina ist nämlich von Israel erneut fast völlig besetzt bzw. es unterliegt gänzlich seiner militärischen, wirtschaftlichen und territorialen Kontrolle. Das problematisiert das politische Verhältnis Deutschlands zu Palästina und gestaltet es schwieriger als das Verhältnis Deutschlands zu anderen Staaten.

So stellte Bundesaußenminister Fischer auf einer Veranstaltung der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin am 25. Mai trotz der dramatischen Ereignisse von Rafah im Gazastreifen und des im Bau befindlichen "Sicherheitszauns" fest, dass die "Roadmap" (die Nahost-Friedensinitiative des Quartetts USA, EU, UNO und Russland) nach wie vor existiere, wobei er den Palästinensern vorwarf, in diesem Kontext "pessimistisch" zu denken.

Gratwanderung zwischen Israel und Palästina

Gleichzeitig ist es für die deutsche Politik schon seit geraumer Zeit eine Gratwanderung, der Besonderheit der Beziehungen zu Israel Rechnung zu tragen und gleichzeitig eine dem Gewicht Deutschlands angemessene moralische, politische und wirtschaftliche Rolle gegenüber den Palästinensern zu spielen.

Während die Nahostpolitik unter den Bundeskanzlern Adenauer und Erhard primär von der "moralischen Verpflichtung" gegenüber dem jüdischen Staat getragen war, wurde sie danach zunehmend ausgewogener und differenzierter. Gewiss hat sie allerdings bis auf den heutigen Tag ihre Bevorzugung israelischer Positionen und Interessen nie abgeschüttelt.

Gleichzeitig fungiert Deutschland nicht nur innerhalb der EU, sondern auch weltweit als der größte Geber für die Palästinensischen Gebiete. Allein 1994-1998 erhielt die Palästinensische Autonomiebehörde € 1.5 Milliarden von der EU. 25 % davon stellte Deutschland zur Verfügung. Hinzu kamen weitere deutsche Beträge im bilateralen und humanitären Rahmen.

Die "Palästinenser", sofern man hier alle über einen Kamm scheren kann, misstrauten schon immer den außenpolitischen Positionen Deutschlands in Hinblick auf Israel , sahen im damaligen Machtzentrum Bonn eine Stütze für Zionismus und Neokolonialismus.

Die neuen Akzente der deutschen Nahostpolitik seit der Ära Schmidt/Genscher wurden allerdings von den Palästinensern als Versuch gewürdigt, den Konflikt im Nahen Osten ausgewogener zu beurteilen.

Dennoch beklagen sie die nach ihrer Auffassung weiterhin bestehende Bevorzugung Israels in diesem Konflikt. Viele unter ihnen registrierten mit Verbitterung den Umstand, dass auch der amtierende Bundesaußenminister Joschka Fischer, der redlich um eine dauerhafte Beilegung des palästinensisch-israelischen Konflikts bemüht ist, bei der Evaluierung der Gewaltspirale auf beiden Seiten häufig den "Terrorismus" der Palästinenser verurteilt, während er im Falle Israels den relativierenden und fast verharmlosenden Begriff der "Vergeltungsschläge" gebraucht.

Diese Sprachregelung verrät ein gerütteltes Maß an Voreingenommenheit. Viele Palästinenser hätten es als Zeichen der Ausgewogenheit und Gerechtigkeit angesehen und hoch eingeschätzt, wenn Fischer neben seiner legitimen Verurteilung palästinensischer Angriffe auf israelische Zivilisten die israelischen Gewaltmaßnahmen gegen die Palästinenser nicht nur relativiert, sondern sie so bezeichnet hätte, wie sie auch tatsächlich sind.

Schließlich wird die Tötung von unbeteiligten Zivilisten oder die gezielte Liquidierung von potenziellen palästinensischen Attentätern durch Israel von vielen unabhängigen internationalen Beobachtern, ja, von der Mehrheit der Weltgemeinschaft, als völkerrechtswidrig bzw. als Form des Staatsterrorismus definiert und verurteilt.

Verharmlosung des Holocaust

Missverständnisse und Fehleinschätzungen gibt es sicherlich nicht nur auf einer Seite. Mancher Politiker oder Journalist in Deutschland beklagt sich häufig zu Recht darüber, dass viele Palästinenser (und nicht nur diese) ein Ereignis von dramatischer Tragweite wie den Holocaust zu marginalisieren versuchen.

Dabei handelt es sich hier meist nicht um eine Variante der "Ausschwitz-Lüge". Gemeint ist vielmehr, dass von palästinensischer Seite häufig moniert wird, diese Geschehnisse prägten maßgeblich auch nach so vielen Jahrzehnten zu Unrecht das Verhältnis zwischen Deutschland einerseits, Israel und den Juden andererseits.

Ein solcher palästinensischer Einwand lässt sich leicht entkräften, zumal dieses Thema für sich genommen auf ein Kapitel der Geschichte Bezug nimmt, das die Beziehungen Deutschlands zu den Juden unmittelbar betrifft, nicht jedoch zu den Palästinensern.

Nachvollziehbar hingegen ist die Empörung der Palästinenser darüber, dass sie aufgrund von Ereignissen, für die sie überhaupt nicht verantwortlich gemacht werden können, politisch und häufig auch rechtlich benachteiligt werden. Einseitigkeit geht schließlich mit einer Form der Benachteiligung einher.

Andere Palästinenser argumentieren im Hinblick auf die jüngste deutsche Geschichte klüger und differenzierter. Sie relativieren den Holocaust und dessen Bedeutung für das Verhältnis zwischen Deutschland und den Juden gar nicht und sehen darin erst Recht kein bloßes "Detail der Geschichte".

Allerdings fordern sie Deutschland auf, ähnlich manchem deutschen Moralphilosophen wie Helmut Gollwitzer, auch im Verhältnis zu den Palästinensern die Maxime einer "moralischen Verpflichtung" gelten zu lassen, da das palästinensische Volk nach ihrer Auffassung schließlich Hauptopfer der von Deutschland "mitverschuldeten" Staatsgründung Israels sei.

Ohne den Holocaust, argumentieren sie, wäre die Gründung des Staates Israel weder der Form noch dem Tempo nach zu Stande gekommen. Aus dieser Argumentation leitet sich, wohl gemerkt, ein moralischer, keinesfalls materieller Anspruch ab.

Plädoyer für ein entkrampftes Verhältnis

Viele Palästinenser meinen, dass zunächst das deutsch-palästinensische Verhältnis entkrampft werden müsse. Im politischen Kontext heißt das, dass man ihnen gegenüber vor allem von offizieller Seite aufgeschlossener und weniger deklaratorisch auftreten solle.

Und dass man hierzulande - ob von seiten des Staates, der Medien oder der Öffentlichkeit - nicht dauernd das hohe Lied der "political correctness" immer dann anzustimmen beginnt, wenn eine klare, Israel-kritische Bilanz im Zusammenhang mit der Siedlungspolitik, der Abriegelung der palästinensischen Gebiete und der Zerstörung Hunderter von Häusern zu ziehen wäre.

Palästinenser in Deutschland plädieren für die Errichtung von "besonderen" Beziehungen zwischen ihrem künftigen Staat Palästina und Deutschland - allerdings im positiven und nicht wie im gegenwärtig verkrampften Sinne.

So erwarten sie z.B., dass Deutschland, das die Palästinenser wie kein anderer Geber wirtschaftlich und finanziell großzügig unterstützt, sich bei seinen Partnern in Europa und in der Welt für eine zügige und effiziente Hilfe des künftigen Staates einsetzen sollte.

Sicherlich ist diese Vorstellung von einem besonderen Verhältnis zwischen Deutschland und Palästina weder der Politik noch der Öffentlichkeit hierzulande vermittelbar. Tatsache ist aber, dass das Vorhandensein "besonderer" Beziehungen zu den beiden Kontrahenten des palästinensisch-israelischen Konflikts Garant für eine wirklich ausgewogene und mithin aktivere deutsche Nahostpolitik wäre.

Es mag optisch aber so erscheinen, als käme die Errichtung besonderer Beziehungen zu den beiden Konfliktparteien im Nahen Osten gedanklich und operativ einer Quadratur des Kreises gleich.

In Wirklichkeit wäre dies grundsätzlich und operativ ein Schritt in die richtige Richtung bzw. ein aktiver und von der Weltgemeinschaft gewollter Beitrag der Bundesrepublik und der EU zur Herstellung von Frieden, Stabilität und wirtschaftlichem Aufschwung in der gesamten nahöstlichen Region.

Aref Hajjaj

© Qantara.de 2004

Der Autor ist Vorsitzender des Palästina-Forums e.V.