Angst vor einer dritten Intifada

Die Gewalt zwischen Israelis und Palästinensern eskaliert erneut. Ohne einen weiteren Anlauf für eine Zwei-Staaten-Lösung wird sich die Lage nicht dauerhaft beruhigen. Eine Analyse von Ingrid Ross aus Jerusalem

Von Ingrid Ross

Sie wollen sich nicht fügen und mit leeren Versprechen abspeisen lassen: Eine neue Generation von Palästinensern ist nach der zweiten Intifada im Schatten der gescheiterten Oslo-Abkommen in den palästinensischen Gebieten aufgewachsen, die das gleiche Thema beschäftigt, wie die Generation ihrer Eltern. Sie verlangen ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit und Würde und wollen die israelische Herrschaft abschütteln.

Die Auseinandersetzungen zwischen Israelis und Palästinensern, Demonstrationen und Angriffe – diesmal mit Stichwaffen –, haben wieder zugenommen. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu tut sich schwer, Antworten auf die erneute Eskalation zu finden, die zu einer Beruhigung der Lage beitragen können. Bislang werden die Protestierenden und Angreifer weder von der im Westjordanland regierenden Fatah-Bewegung noch von der Hamas gesteuert, so wie es in den vorangegangen Aufständen der Fall war.

Öl ins Feuer

Daher ist es schwer, die Täter und Aktivisten zu kontrollieren oder gegen sie vorzugehen. Die Maßnahmen, die Netanjahu nun ergriffen hat, tragen nicht zur Deeskalation bei, sondern bewirken das Gegenteil: Der Einsatz von scharfer Munition gegen Palästinenser, die an der Mauer und den Checkpoints im Westjordanland und an der Grenze des Gazastreifens demonstrieren und mit Steinen und Brandsätzen werfen, führte bereits zu weiteren Todesfällen und heizt die Lage weiter an.

Warum kehrt keine Ruhe ein in Israel und Palästina? Ein Grund ist, dass der israelisch-palästinensische Konflikt jahrzehntelang lediglich verwaltet wurde und es seit den Oslo-Verhandlungen kaum ernsthafte Versuche zur Lösung gab. Palästinenser bezweifeln gar, dass es je die Absicht Israels war, mit den Oslo-Abkommen den Konflikt zu lösen.

Von israelischen Sichreheitskräften erschossener Attentäter am Damskus-Tor vor der Jerusalemer Altstadt; Foto: picture alliance/ZUMA Press/M. Abu Turk
Neue Dimension der Gewalt: Seit Monatsbeginn wurden bereits mehr als 30 Palästinenser bei Anschlägen oder Protestaktionen getötet. Im gleichen Zeitraum starben sieben Israelis bei Attentaten. Die meisten Attentäter kamen aus arabischen Vierteln Ost-Jerusalems. Erst am Dienstag hatten zwei Attentäter in einem Linienbus neben Messern auch eine Schusswaffe eingesetzt und zwei Passagiere getötet. Zudem starb ein Rabbiner, als ein Palästinenser in einem ultraorthodoxen Viertel von Jerusalem mit seinem Auto eine Bushaltestelle rammte.

Viele sind davon überzeugt, dass die israelische Regierung der Errichtung der palästinensischen Autonomiebehörde nur zustimmte, um sich von der Last zu befreien, als Besatzungsmacht für die öffentlichen Dienstleistungen in palästinensischen Ortschaften in den besetzten Gebiete zuständig zu sein. Aussagen wie die des stellvertretenden Verteidigungsministers Eli Ben-Dahan, der am vergangenen Samstag sagte, "die Palästinenser müssen einsehen, dass sie keinen Staat haben werden und dass Israel sie beherrschen wird", sind Bestätigung für all jene, die dem Bekenntnis zur Zwei-Staaten-Lösung von israelischen Politikern schon immer misstraut haben.

Schlaglicht auf den ungelösten Nahostkonflikt

Es scheint schon fast in Vergessenheit geraten zu sein: Die Ursache der aktuellen Auseinandersetzungen ist der nach wie vor ungelöste Nahostkonflikt. Die Staatsgründung Israels 1948 war mit Vertreibung und Enteignung verbunden, für die es bis heute keine Übernahme von Verantwortung oder gar Wiedergutmachung gab. Die Hamas hat das Existenzrecht Israels noch immer nicht anerkannt. Die Palästinenser empfinden die fortwährende israelische Besatzung zunehmend als existenzbedrohend. Der Siedlungsbau schreitet im Westjordanland mit weiteren Vertreibungen und Landenteignungen durch den israelischen Staat und Siedler fort und verhindert die Entstehung eines künftigen palästinensischen Staates auf einem zusammenhängenden Gebiet.

Vielen Palästinensern wird ihre Lebensgrundlage entzogen. Siedler machen den Palästinensern das Leben schwer, indem sie unter anderem deren Felder in Brand setzen. Das israelische Militär schaut in den meisten Fällen tatenlos zu oder schützt sie bei den Straftaten gar noch.

Selbst schwere Verbrechen von Siedlern, wie der Brandanschlag auf die Dawabsheh-Familie in Duma, bei dem mehrere Familienmitglieder starben, bleiben ohne Strafverfolgung. Die internationale Gemeinschaft wird zwar nicht müde zu betonen, dass die Ansiedlung der eigenen Bevölkerung auf besetztem Gebiet nach internationalem Recht illegal ist, doch werden diese Mahnungen von der israelischen Regierung weitgehend ignoriert.

Siedlungsbau bei Bethlehem im Westjordanland; Foto: picture alliance/dpa
"Die Palästinenser empfinden die fortwährende israelische Besatzung zunehmend als existenzbedrohend. Der Siedlungsbau schreitet im Westjordanland mit weiteren Vertreibungen und Landenteignungen durch den israelischen Staat und Siedler fort und verhindert die Entstehung eines künftigen palästinensischen Staates auf einem zusammenhängenden Gebiet", schreibt Ingrid Ross.

Ohne Hoffnung auf Bildung und würdige Arbeit

Ein ähnlich bedrückendes Bild zeigt sich in Jerusalem: Der von Palästinensern bewohnte Ostteil der Stadt wurde von Israel 1980 annektiert. Die Bewohner erhielten Aufenthaltsrecht in der Stadt, jedoch keine israelische Staatsangehörigkeit. Dort haben sich durch jahrzehntelange Vernachlässigung ghettoartige Gegenden gebildet, in denen Kinder mit wenig Chancen auf Bildung und ohne Hoffnung auf würdige Arbeit aufwachsen.

Nach der Eroberung wurden im östlichen Stadtgebiet Siedlungen gebaut, die eine Teilung der Hauptstadt in einen israelischen und einen palästinensischen Teil im Falle eines künftigen Friedensvertrags kaum möglich machen. In vielen Ost-Jerusalemer Stadtteilen übernehmen jüdische Israelis einzelne Häuser oder bauen größere Wohnkomplexe, um mit ihrer Präsenz den Anspruch auf das gesamte Jerusalem als ewige, unteilbare Hauptstadt des Staates Israel zu unterstreichen. An diesen Orten kommt es häufig zu Auseinandersetzungen mit palästinensischen Kindern und Jugendlichen, denen für das Werfen von Steinen oder Brandsätzen drakonische Strafen auferlegt werden – seit letztem September sind es mindestens vier Jahre Gefängnis und hohe Geldbußen für die Eltern der Kinder.

Die Mehrheit der palästinensischen Gesellschaft zweifelt angesichts all dieser Entwicklungen am politischen Kurs von Präsident Abbas. In dem Maße wie das Vertrauen in ihn und seine Fatah-Bewegung sinkt, steigt die Eigeninitiative von "Grassroots"-Gruppen, die sich nicht zu- oder unterordnen lassen. Es sind vor allem Jugendliche und Frauen, die derzeit protestieren und Verzweiflungstaten begehen. Die ältere Generation, die mit dem Kurs von Abbas unzufrieden ist, scheint sie gewähren zu lassen.

Auch wenn Mitglieder der israelischen Regierung es nicht wahrhaben möchten: Um zu einer dauerhaften Beruhigung der Lage zu kommen, führt wohl kein Weg daran vorbei, einen neuen Anlauf zur Beendigung der Besatzung und der Umsetzung einer Zwei-Staaten-Lösung zu nehmen. Dass dazu ein anderes Format benötigt wird als direkte bilaterale Gespräche zwischen Besatzern und Besetzten, zeigt das Scheitern der Kerry-Initiative Anfang dieses Jahres.

Noch immer gelten die USA als Hauptvermittler im Konflikt. Ohne sie wird auch die Europäische Union oder das Nahost-Quartett keine neue Verhandlungsinitiative starten. Washington zeigt sich aber derzeit abwartend und führt einen policy review durch. Die gegenwärtige Krise sollte Anlass für ein neues Engagement der internationalen Gemeinschaft sein. Die jüngsten Ausschreitungen zeigen, dass insbesondere die junge palästinensische Generation nicht bereit ist, sich mit dem Status quo abzufinden.

Ingrid Ross

© Qantara.de 2015

Ingrid Ross leitet das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in Ost-Jerusalem. Vor ihrer Tätigkeit in den Palästinensischen Gebieten war sie als Referentin für den Nahen und Mittleren Osten in der FES-Zentrale in Berlin und als "Junior Expert" im FES-Büro in Herzliya tätig.