Von der Vergangenheit in Afghanistan eingeholt

Die afghanisch-amerikanische Autorin Nadia Hashimi; copyright: Nahid Popal
Die afghanisch-amerikanische Autorin Nadia Hashimi; copyright: Nahid Popal

In ihrem neuen Roman schildert die amerikanisch-afghanische Autorin Nadia Hashimi das traumatische Leben einer jungen Frau, die in Afghanistan alles verloren hat und sich in den USA ein neues Leben aufbauen will. Richard Marcus hat den Roman für Qantara.de gelesen.

Von Richard Marcus

Für die meisten von uns steht Afghanistan für religiösen Extremismus, Terror und Krieg. Und doch ist Afghanistan vielen Menschen eine Heimat. Das gilt auch für die Hauptfigur in Nadia Hashimis Buch "Sparks like Stars" (dt "Funken wie Sterne"), Sitara Zamani. Sie ist die Tochter des Chefberaters von Sardar Daoud, dem Präsidenten Afghanistans vor der sowjetischen Invasion Ende der 1970er Jahre. Die junge Sitara lebt wohlbehütet mit ihrer besten Freundin, der Enkelin von Daoud, im Präsidentenpalast. Sie wird von allen verwöhnt – von der bewaffneten Präsidentengarde bis zum diplomatischen Personal.

Als aufgewecktes und neugieriges Kind lauscht sie mit Vorliebe den Gesprächen der Erwachsenen. Aus ihrer kindlichen Sicht erfahren wir, wie der Kalte Krieg zwischen der Sowjetunion und den USA bereits vor der Invasion 1980 in Afghanistan ausgetragen wird. Jedes Mal, wenn die USA oder die UdSSR Geld für einen Staudamm oder ein anderes Infrastrukturprojekt bereitstellen, muss die jeweils andere Seite nachlegen, so erklärt es ihr Vater. Präsident Daoud und seine Berater sind davon überzeugt, dass ihr Land immer dann profitiert, wenn sie die beiden Supermächte gegeneinander ausspielen können.

Das alles findet 1979 mit einer von den Kommunisten initiierten Verschwörung gegen Daoud ein jähes Ende. Wie es der Zufall wollte, hatte sich Sitara in jener Nacht aus dem Schlafzimmer geschlichen, das sie mit ihren Eltern und ihrem Bruder im Präsidentenpalast teilte, weil sie nicht schlafen konnte. So entging sie dem Mordanschlag, dem ihre gesamte Familie zum Opfer fiel. Der Wachsoldat Shair entdeckt sie und schmuggelt sie aus dem Präsidentenpalast, wodurch sie dem Gefängnis oder dem möglichen Tod entgeht. Nachdem Shair sie einige Tage bei seiner Familie versteckt hält, nimmt eine Amerikanerin sie auf, die für den diplomatischen Dienst der USA in Kabul tätig ist.

Cover von Nadia Hashimis "Sparks like Stars" (erschienen bei Harper Collins)
Mutig, aufschlussreich, berührend und trotz allen Schmerzes voller Hoffnung: "Sparks Like Stars“ ist eine Geschichte über Heimat – über Amerika und Afghanistan, Tragödie und Überleben, Selbstfindung und Erinnerung – unnachahmlich erzählt von Nadia Hashimi.

Von dort aus verfolgt Hashimi die abenteuerliche Reise ihrer Protagonistin in die USA. Als einziges überlebendes Mitglied einer der herrschenden Familien Afghanistans ist ein Kopfgeld auf Sitara ausgesetzt, eine erschütternde Vorstellung.

Nach vielen Irrungen und Wirrungen, darunter einem kurzen Aufenthalt in einer furchtbaren Pflegefamilie, findet sie schließlich in Amerika bei ihrer Adoptivmutter eine neue Heimat. Der Frau, die sie ganz zu Anfang von den Straßen Kabuls aufgelesen hatte.

Erst ein neuer Name – dann ein neues Leben?

Sitara nimmt den Namen ihrer Schwester Aryana an, die in Amerika geboren wurde, aber bereits als Säugling verstorben war. Ihre US-Geburtsurkunde verhilft Sitara zum ersehnten Pass und sie wird später eine erfolgreiche Onkologin. Unter ihrem neuen Namen und in einem neuen Leben glaubt sie, die durchlittenen Schrecken endgültig hinter sich lassen zu können.

Ihr Schmerz bricht sich teilweise wieder Bahn, als die USA nach den Anschlägen vom 11. September 2001 von einer Welle der Wut gegen Afghanistan ergriffen werden, obwohl die Mehrzahl der Attentäter aus Saudi-Arabien stammte. Doch es ist ausgerechnet ein Patient, der Jahre später ihren sorgfältig errichteten Schutzschild mit einem Schlag durchbricht. Wie hätte sie damit rechnen können, dass derselbe Wachsoldat, der sie damals rettete, jetzt in ihrer Praxis auftaucht? War dieser Mann wohlmöglich auch mit Schuld an der Ermordung ihrer Familie?

Mit der Begegnung brechen Schmerz und Wut und all die Verletzungen aus ihrer traumatischen Kindheit über sie herein, die sie längst für vergessen und vergangen geglaubt hatte. Beim nächsten Termin konfrontiert sie den ehemaligen Wachsoldaten mit der Vergangenheit und fordert ihn auf, ihr zu sagen, wohin die Leichen ihrer Eltern verschleppt wurden und ob er sie erschossen habe. Schließlich sucht sie ihn sogar in seiner Wohnung auf und verlangt nach Antworten, die er ihr nicht geben kann oder will.

Schon zuvor deutet Hashimi an, wie verletzlich Sitara alias Aryana tatsächlich ist. Kleine Episoden in der Erzählung lassen kommende Konflikte erahnen. Ihre sorgsam geordnete Beziehung zu ihrem Freund, die es beiden nicht erlaubt, viel Zeit miteinander zu verbringen, lässt darauf schließen, wie schwer es ihr fällt, Nähe zuzulassen. Das ist typisch für Menschen mit einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS).

Verbunden mit ihrer Weigerung, offen damit umzugehen, wer sie ist und woher sie kommt, vermittelt diese Angst vor Nähe ein Bild von einem zutiefst traumatisierten Menschen. Sie lebt fast ausschließlich für ihre Arbeit. Als sie an ihrem vermeintlich sicheren Zufluchtsort von der eigenen Vergangenheit eingeholt wird, zerbricht beinahe ihre sorgfältig konstruierte Welt.

Vom Trauma eingeholt

Die Adoptivmutter ist zwar schon lange nicht mehr im diplomatischen Dienst tätig, hat dort aber immer noch ihre Kontakte. So erfährt Sitara alias Aryana, dass die afghanische Regierung die nach dem Staatsstreich angelegten Massengräber öffnet, um die Toten zu identifizieren. Sie ist fest entschlossen, nach Afghanistan zurückzukehren und in Erfahrung zu bringen, ob die Leichen ihrer Eltern und ihres Bruders unter den Exhumierten sind.

Das in fast vierzig Jahren Krieg verwüstete Land hat nichts mehr mit dem Land ihrer Kindheit gemein. Die einst belebten Viertel Kabuls sind jetzt zu Ruinen verkommen, zwischen denen verlassene Autowracks vor sich hinrotten.

Sie schöpft Hoffnung, als sie erfährt, dass offenbar auch der Bruder ihrer Jugendfreundin das Mordkommando überlebt hat. Zusammen mit anderen Überlebenden wurde er ins Gefängnis geworfen, bevor der Schah von Persien die Ausreise erwirken konnte. Mittlerweile lebt er in der Schweiz, reiste aber ebenfalls nach Afghanistan, als er vom Vorhaben der Regierung erfuhr, die sterblichen Überreste der im Putsch Getöteten zu bergen.

Nadia Hashimi erzählt eine fesselnde, berührende und letztlich lebensbejahende Geschichte. Von der idyllischen Kindheit Sitaras bis hin zum Ringen der erwachsenen Frau, die sich als Aryana ein neues Leben erkämpft, verfolgen wir das Porträt eines Menschen, der mit einem schmerzhaften Trauma kämpft und sich allmählich davon befreien kann.

Gleichzeitig lässt uns Hashimi etwas von dem Schmerz erahnen, den Afghanistan als Konfliktherd der Weltmächte erlitten hat. In Sitaras Geschichte, die sich über die letzten rund vierzig Jahre erstreckt, spiegelt sich auch die Geschichte ihres geschundenen Heimatlandes. Falls ein Land kollektiv an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet, dann ist es Afghanistan. Hashimi bringt es mit ihrer Hauptfigur auf den Punkt.

In unserer medial übersättigten Welt lassen uns die Ereignisse auf der anderen Seite des Globus oft kalt. In Sparks Like Stars zeigt Nadia Hashimi die traumatische Realität. Wir empfinden den Schmerz hinter den Schlagzeilen der Zeitungen und erfahren vom Leid derjenigen, die in den Nachrichten namenlos bleiben.

Richard Marcus

© Qantara.de 2021

Nadia Hasehemi, Sparks like Stars, William Morrow Verlag 2021, 458 S.

Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers