Pionier moderner kritischer Islamwissenschaft

Der algerische Philosoph und Reformdenker Mohammed Arkoun, kultureller Grenzgänger und Wegbereiter neuer Lesarten des Islam, ist im Alter von 82 Jahren am Abend des 14. September 2010 in Paris verstorben. Eine zentrale Figur des zeitgenössischen islamischen Bewusstseins hat die Bühne verlassen. Ein Nachruf von Ursula Günther

Mohammed Arkoun; Foto: Ursula Günther
Eine wichtige Stimme des Islam: Mohammed Arkoun war einer der größten Denker des zeitgenössischen Islam. Ihm ging es "um nichts Geringeres als um das Neudenken des Islam als kulturelles und religiöses System", schreibt Ursula Günther.

​​ Mit dem Tode Mohammed Arkouns verklingt eine wichtige Stimme. Eine Stimme, die ihr Gegenüber, gleich welchen Bekenntnisses, zu Perspektivwechseln aufforderte, es mit dem eigenen Ungedachten, dem Schattenbereich konfrontierte und längst fällige Fragen in den Raum stellte.

Mohammed Arkoun wurde im Februar 1928 in Taourirt-Mimoun in der Großen Kabylei in eine traditionelle Großfamilie hineingeboren. Er musste sehr früh und schmerzhaft erfahren, dass er als Berber im kolonisierten Algerien doppelt marginalisiert war, denn er sprach – zunächst einmal – weder die Sprache der Kolonialherren, noch die des Korans.

Dank eines Onkels konnte er bei den Weißen Brüdern auf ein Collège gehen, in Oran Abitur machen und das Studium der arabischen Literatur in Algier aufnehmen, das er um Jura, Philosophie und Geographie erweiterte. An der Sorbonne legte er die Agrégation in Arabischer Sprache und Literatur ab. Es folgte seine Dissertation über Ibn Miskawaih, mit der es ihm gelang, die Existenz eines arabischen Humanismus nachzuweisen.

Grenzgänger zwischen den Kulturen

Nach der Beschäftigung mit der klassischen Periode islamischer Geschichte richtete Arkoun seinen Fokus auf Fragen des zeitgenössischen Islam. Zunächst Professor für arabische Ideengeschichte in Paris Vincennes folgte er 1980 dem Ruf an die Sorbonne Nouvelle, wo er Direktor des Departments für Arabisch und Islamische Ideengeschichte sowie Herausgeber der Zeitschrift Arabica wurde, deren Spektrum er beträchtlich erweiterte.

Seine Emeritierung 1993 bedeutete keineswegs das Ende seiner Aktivitäten, im Gegenteil: Er folgte zahlreichen Einladungen als Gastprofessor ins europäische Ausland und in die USA. Besonders engagierte er sich am Institute of Ismaili Studies in London, sowohl durch regelmäßige Seminare und Gastprofessuren als auch als Mitglied im Aufsichtsrat. Für sein Werk wurde er mit zahlreichen Preisen und Ehrungen ausgezeichnet.

Den Islam neu denken

Mohammed Arkoun ging es um nichts Geringeres als um das Neudenken des Islam als kulturelles und religiöses System. Seine Kritik der islamischen Vernunft erfolgte mit Hilfe von radikalen Perspektivwechseln, verbunden mit dem Anspruch auf Bedeutungspluralität, auch wenn dies das Ende von Eindeutigkeiten und Einheit(lichkeiten) nach sich ziehen sollte.

Studenten studieren den Koran in einer Moschee; Foto: dpa
Mohammed Arkoun plädierte für eine vorurteilsfreie Wissenschaft vom Orient und seinen "islamischen Kulturen und Gesellschaften" und kämpfte deshalb dafür, dass die Islamstudien nicht nur in der Orientalistik gelehrt werden.

​​ Die so dringend erforderlichen Perspektivwechsel erreichte er, indem er sowohl moderne Erkenntnisse der Sozial- und Geisteswissenschaften als auch deren Methoden auf die Beschäftigung mit dem Islam übertrug und diese durch eigene Konzepte ergänzte bzw. erweiterte. Das erfolgte sehr früh, das heißt parallel zur Formierung der großen geistesgeschichtlichen Strömungen des 20. Jahrhunderts wie Strukturalismus, Semiotik, strukturale Anthropologie, Diskursanalyse oder Postmodernismus.

Mit diesem sehr eigenwilligen Ansatz verließ er das zum Teil selbst gewählte methodische Ghetto der Islamforschung und entwarf Gegenstrategien, die allerdings nicht immer auf Gegenliebe stoßen sollten. Sie finden ihren Ausdruck zum Beispiel in seinem Anliegen einer angewandten Islamwissenschaft oder den theoretischen Konzepten von koranischer und islamischer Wirklichkeit, der Buchgesellschaften, des Ungedachten und Undenkbaren. Diese wirkten sich nachhaltig auf seine Annäherung an den Koran aus. Die von der Schule der Annales entwickelte Analysekategorie des imaginaire übertrug er sehr früh auf vom Islam geprägte Gesellschaften und das islamische Denken und differenzierte es immer stärker aus.

Ein Intellektueller in der Revolte

​​ Arkouns Gedankenwelt und die von ihm entwickelten und im Laufe seines Forscherlebens immer klarer konturierten Konzepte sind komplex und kompliziert und am ehesten mit der Metapher eines Rhizoms oder dem unendlichen Sternenmuster maurischer Fayencen zu vergleichen: ein enges Geflecht sich immer weiter verzweigender Aspekte, deren eigentlicher Ursprung schwer auszumachen ist und die sich überdies immer weiter verzweigen und neue Verbindungen entstehen lassen. Gerade das Rhizom steht für den von Arkoun so dringlich erachteten Paradigmenwechsel: Ganzheitlichkeit statt Dualismus, Vielfalt statt Einheitlichkeit. Das entspricht seinem integrativen Ansatz: Das Ganze lässt sich nur innerhalb einer radikalen Bedeutungspluralität und Vielschichtigkeit entfalten.

Mohammed Arkoun war nicht nur ein scharfsinniger Intellektueller und Humanist aus tiefstem Herzen mit einem feinsinnigen Humor, sondern auch ein leidenschaftlicher, charismatischer Redner und engagierter Lehrer. Er fühlte sich "all dem zugehörig, was der Intelligenz neue Verbindungen zu eröffnen vermag!" und verstand sich selbst als "ein Intellektueller in der Revolte".

Möge er Recht behalten, dass Gedanken ein Eigenleben entwickeln und weiterhin ihre Wirkung jenseits der Mauern kognitiver Grenzziehungen und dominanter Ideologien entfalten.

Ursula Günther

© Qantara.de 2010

Dr. Ursula Günther ist Islamwissenschaftlerin. Ihre Dissertation "Mohammed Arkoun – Ein moderner Kritiker der islamischen Vernunft" ist 2004 beim Ergon-Verlag erschienen.

Redaktion: Lewis Gropp/Qantara.de

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