Ein Visionär des interreligiösen Dialogs

Der Philosoph, Imam und Lehrer Seyed Mehdi Razvi ist tot. Der Universalgelehrte wirkte seit den 1950er Jahren in Deutschland und galt als wichtiger Vertreter des interreligiösen Dialogs. Ein Nachruf von Hamida Behr.

Von Hamida Behr

Seit Mitte der 1970er Jahre war Seyed Mehdi Razvi am Islamischen Zentrum Hamburg damit beauftragt, eine deutschsprachige Gemeinde aufzubauen und zu betreuen. Er war zuständig für Seelsorge, Beratung und Erwachsenenbildung, organisierte Veranstaltungen, leitete Gebete und begleitete Menschen bei Konflikten, Eheschließungen, Scheidungen und Beerdigungen.

In Razvis wöchentlichen Koranseminaren fanden sich Sunniten, Schiiten, Christen, Atheisten und Agnostiker gleichermaßen. Sie alle suchten das Gespräch mit ihm und waren mit ihren Fragen bei ihm willkommen. Das Undenkbare war denkbar bei ihm, alle Fragen zum Jenseits, zu Gott und zum Sinn des Lebens wurden erörtert, über alles gemeinsam räsoniert.

Bei aller Sanftmut im direkten Umgang hat er nie die Auseinandersetzung gescheut. So widersprach er in einer eigenen Fatwa dem Bannfluch gegen Salman Rushdie und nahm Homosexuelle gegen Diffamierungen in Schutz.

Im Dialog mit islamischen Reformtheologen: Am Islamischen Zentrum Hamburg arbeitete Mehdi Razvi mit dem renommierten iranischen Theologen Mohammad Mojtahed Shabestari zusammen.

​​Einer seiner Schüler, der Schriftsteller Peter Schütt, erläutert seine Theologie folgendermaßen: "Seine von Liebe und Barmherzigkeit geprägte Gotteserfahrung ließ den Verdacht nicht zu, Gott halte es für richtig, dass Männer ihre Frauen schlagen, dass Dieben die Hände abgehackt werden und Ungläubige zur ewigen Hölle verdammt werden. Er hat stets energisch gegen die männliche Dominanz in der islamischen Theologie Stellung bezogen und immer wieder darauf hingewiesen, dass von den 99 Namen Gottes weit über die Hälfte mit weiblichen Tugenden und Eigenschaften verbunden sind."

Von Indien über Pakistan nach Deutschland

Imam Mehdi Razvi stammte aus einer traditionsreichen indischen Mogulfamilie, Nachfahren der Tochter des Propheten Mohammeds Fatima und ihres Mannes Ali. Er wurde 1930 geboren und verbrachte seine ersten Lebensjahre in der hinduistisch geprägten Provinz Bihar nördlich des Ganges. Die Familie war von der Enteignung durch die indische Regierung betroffen und musste in das neu gegründete Pakistan umsiedeln. Dort lernte Imam Ravzi auf einer Zugfahrt seine zukünftige Frau kennen, die aus Ostpreußen stammende Ingrid Kähler. Mit ihr kam er in den 1950er Jahren in seine neue Heimat Hamburg.

Anknüpfend an sein schon in Indien und Pakistan abgeschlossenes Studium der islamischen Theologie und Rechtswissenschaft studierte er Islamwissenschaften und christliche Theologie, beschäftigte sich intensiv mit der protestantischen Reformtheologie und wurde Lektor für Urdu. Doch eine wissenschaftliche Karriere in der Islamwissenschaft war ihm verwehrt, weil man ihm als Muslim unterstellte, es fehle ihm an wissenschaftlicher Neutralität.

Islamisches Denken in Deutschland

Meilenstein in Imam Razvis theologischem Wirken: "Entdeckungsreisen im Koran"

​​Razvis Wirken entfaltete sich zunächst außeruniversitär: Am Islamischen Zentrum Hamburg arbeitete er mit renommierten Theologen aus dem Iran zusammen – so etwa mit Mohaghegi, Beheschti, Khatami, Shabestari und Ansari. Zu seinen interreligiösen Dialogpartnern gehörten die christlichen Theologen Pöhlmann und Von Kirchbach.

Mit dem Münsteraner Pöhlmann führte er auch ein später in Buchform veröffentlichtes Streitgespräch über Abraham als Stammvater aller monotheistischen Religionen. Razvis "Entdeckungsreisen im Koran" – so der Titel seines wohl bedeutendsten Buches – sind ein Abbild seines Unterrichts, mit vielen Fragen von Teilnehmern, die darin enthalten sind.

Imam Razvi hat sich getreu der mutazilitischen Lehre leidenschaftlich für ein sinnhaftes Verstehen des Gotteswortes eingesetzt. "Aql" – Vernunft, war seine Richtschnur bei der Auslegung und Anwendung der Koranverse, so Peter Schütt. Er fühlte sich in die Belange der Muslime im deutschen Kontext ein und half, das Wesentliche von Unwesentlichen zu unterscheiden und Wege zu finden, die Tradition weiterzuführen.

Razvi legte neben der juristischen und philologischen Auslegung des Korans eine spirituelle Interpretation dar – ein Novum in Deutschland, wie Annemarie Schimmel im Vorwort zu Razvis Buch "Entdeckungsreisen im Koran" anmerkt. Imam Razvi bildete zahlreiche Imame aus, unter ihnen auch Imam Abu Ahmed Jakobi und Imamin Halima Krausen, die seine Aufgaben am Islamischen Zentrum Hamburg übernommen hat.

Toleranz gegenüber anderen Religionen

Der Respekt für andere Religionen und ihre Achtung war Imam Razvi in die Wiege gelegt worden. In seiner indischen Heimat lebte die muslimische Familie in einer mehrheitlich hinduistischen Umgebung. Muslime, Hindus, Buddhisten und Christen gingen bei ihnen ein und aus.

Razvi studierte die Schriften und Philosophien alle Religionen. Gerne beschrieb er die Vielfalt der Religionen. Die Ethik war für ihn die Grundlage aller Religionen. Eine gemeinsame Ethik zu formulieren war sein Anliegen, um in Achtung und Verständnis füreinander einzutreten.

Shmuel Jossifoff, Vertreter der Jüdischen Gemeinde Hamburg, der im interreligiösen Dialog viele Jahre mit Imam Razvi zusammengearbeitet hat, erklärte: "Imam Razvi ist ein Vorbild für uns alle. Er hat die schönsten Lehren des Islams verbreitet. Sein Wissen ist lebendig und wird durch seine Schüler weiter verbreitet."

Hamida Behr

© Qantara.de 2013

Hamida Behr studierte Islamwissenschaften und Erziehungswissenschaften in Hamburg und Khartum. Sie ist heute eine Schülerin von Halima Krausen.

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de