Ungenügender Status Quo

Nach abermaligen Mängeln bei den jüngsten Parlamentswahlen steht Afghanistan vor der Alternative, erkannte Fehler zu korrigieren oder den politischen Systemkollaps zu riskieren. Ein Kommentar von Babak Khalatbari

Afghanischer Wähler in Kandahar; Foto: dpa
Bei der Parlamentswahl am 18. September 2010 war es in vielen Landesteilen zu massiven Wahlmanipulationen gekommen. Zudem hatten Taliban-Einheiten Wahlhelfer und Kandidaten entführt sowie Wahllokale beschossen.

​​Als Fazal Ahmad Manawi, der Vorsitzende der unabhängigen Wahlkommission (IEC), Ende November das offizielle Ergebnis der Parlamentswahlen vorstellte, sagte er, die Abstimmung sei "bei allen Unzulänglichkeiten ein Erfolg für die IEC, die afghanische Regierung, das afghanische Volk sowie die internationale Staatengemeinschaft". Viele Beobachter teilen diese Einschätzung nur bedingt.

So wird bemängelt, dass nur 10,5 Millionen Menschen wahlberechtigt waren – 7 Millionen weniger als bei der Präsidentschaftswahl ein Jahr zuvor. Zudem wurden beträchtliche Betrügereien beanstandet. Bei der Wahlbeschwerdekommission (ECC) gingen mehr als 5.000 Beschwerden ein. Daraufhin erklärte sie knapp ein Viertel der 5,6 Millionen abgegebenen Stimmen für ungültig und entzog 24 Abgeordneten das Mandat.

In der südöstlichen Provinz Ghazni sorgt zudem der Wahlerfolg der Hazara-Minderheit für Aufsehen. Zwar stellen Paschtunen dort die Mehrheit der Bevölkerung, sie errangen aber kein einziges der elf Mandate. In Afghanistan dienen Provinzen als Wahlkreise. Sie haben aber jeweils mehrere Abgeordnete.

Als gewählt gelten die Kandidaten mit den meisten Stimmen. Es ist unplausibel, dass unter den ersten elf in Ghazni kein einziger Paschtune gewesen sein soll. Das offizielle Endergebnis für diese Provinz steht denn auch noch aus – angeblich aus technischen Gründen.

Unklare Kräfteverhältnisse

Die Kräfteverhältnisse im Parlament bleiben indessen trotz der Verkündung der Wahlergebnisse unklar. Das liegt daran, dass Parteien in der afghanischen Politik praktisch keine Rolle spielen. Die allermeisten der rund 2.500 Kandidaten gingen als unabhängige Bewerber ins Rennen. Nur 1,2 Prozent vertraten eine Partei.

Sitzung des afghanischen Parlaments in Kabul; Foto: dpa
"Das Wahlsystem muss den Prinzipien der repräsentativen Demokratie entsprechend korrigiert werden", meint Khalatbari, denn die "einfachen, nicht-übertragbaren Stimmen in Parlamentswahlkreisen mit mehreren Abgeordneten haben sich nicht bewährt."

​​Präsident Hamid Karsai sagt nun, rund 100 der 249 neuen Abgeordneten neigten ihm zu. Sein Gegenkandidat bei der Präsidentschaftswahl im vorigen Jahr, Abdullah Abdullah, brüstet sich mit rund 90 Unterstützern. Die wahren Machtverhältnisse werden sich wohl erst zeigen, wenn das Parlament das neue Kabinett bestätigen soll.

Ein afghanisches Sprichwort besagt, dass ein Haus früher oder später einstürzt, wenn der erste Stein falsch gesetzt wurde. Leider scheint das auch für die Entwicklung der afghanischen Demokratie zu gelten. Aus zahlreichen Mängeln verschiedener Wahlgänge wurden bislang kaum Lehren gezogen. Wesentliche Punkte wären aber:

  • Das Land braucht eine neue Wählerregistrierung, denn die Manipulation der Wählerlisten hat ein gewaltiges Ausmaß angenommen. Eine Volkszählung mit integrierter Wählerregistrierung wäre essenziell, um Wahlbetrug künftig vorzubeugen.
  • Das Wahlsystem muss den Prinzipien der repräsentativen Demokratie entsprechend korrigiert werden. Einfache, nicht-übertragbare Stimmen in Parlamentswahlkreisen mit mehreren Abgeordneten haben sich nicht bewährt. Bezeichnenderweise erfahren die Spitzenreiter in jeder Provinz viel höheren Zuspruch als die letztgewählten Kandidaten und haben somit eine höhere demokratische Legitimation. Im Parlament haben dann alle Abgeordneten jeweils eine Stimme.
  • Ohne Parteien mit erkennbarer Programmatik können legitime Wahlen und mithin das demokratische System nicht nachhaltig Fuß fassen.
  • Drohender Systemkollaps?

    Kurz nach Bekanntgabe der Ergebnisse der Parlamentswahlen ließ der stellvertretende Generalsstaatsanwalt Rahmatullah Nazari verlautbaren, die IEC hätte damit noch ein bis zwei Wochen warten sollen, bis die Ermittlungen zu Betrugs- und Bestechungsvorwürfen abgeschlossen wären.

    Es zeichnet sich somit ein Interessenkonflikt zwischen Staatsanwaltschaft, Oberstem Gerichtshof und Präsident auf der einen Seite sowie IEC und ECC auf der anderen Seite ab.

    Afghanistan steht vor der Alternative, erkannte Fehler zu korrigieren oder sich mit dem ungenügenden Status Quo zu arrangieren. Die erste Option bedeutet einen zwar schmerzhaften, aber notwendigen Schritt in Richtung Transparenz, Verantwortung und gute Regierungsführung. Die zweite Option dagegen bedeutet Stagnation und beinhaltet das Risiko eines politischen Systemkollapses.

    Babak Khalatbari

    © Zeitschrift Entwicklung und Zusammenarbeit 2011

    Babak Khalatbari hat als Politikwissenschaftler promoviert und leitet seit 2005 das Büro der Konrad-Adenauer-Stiftung in Kabul.

    Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de

    Qantara.de

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