Pakistan in Aufruhr

Der Anschlag auf den pakistanischen Ex-Premier Imran Khan stellt eine Zäsur in der pakistanischen Politik dar. 2018 war er mit Hilfe des Militärs an die Macht gekommen. Jetzt geht Khan immer mehr auf Distanz zu seinen einstigen Förderern. Eine Analyse von Mohammad Luqman

Von Mohammad Luqman

Am 3. November wurde der pakistanische Ex-Premier und jetzige Oppositionsführer Imran Khan während einer Kundgebung in der Stadt Wazirabad bei einem Attentat angeschossen. Der Attentäter wurde schnell überwältigt und befindet sich in polizeilichem Gewahrsam. Die Hintergründe der Tat sind noch nicht vollständig aufgeklärt. Innenminister Rana Sanaullah bezeichnete den Anschlag als den religiös motivierten Akt eines Einzeltäters. Imran Khan führt zurzeit einen Massenprotestzug in Richtung der Hauptstadt Islamabad an, wo er seiner Forderung nach sofortigen Neuwahlen Nachdruck verleihen will.

Am Tag nach dem Anschlag sitzt der Schock tief in Pakistan. Die seit der Entmachtung Khans ohnehin aufgebrachten Anhänger von Khans Partei PTI (Pakistan Tehrik-e Insaf) mutmaßen dubiose Kreise aus dem Militär hinter der Tat und Khan selbst heizte diese Spekulationen zusätzlich in einer Stellungnahme aus dem Krankenhaus an. Darin warf er Premier Shehbaz Sharif, Innenminister Rana Sanaullah und General Faisal Naseer vom Militärgeheimdienst ISI vor, in den Anschlag auf seine Person verwickelt zu sein. Diese Anschuldigung bedeutet einen Tiefpunkt in der Beziehung zwischen Khan und dem mächtigen "Establishment“, wie das Militär in Pakistan euphemistisch genannt wird.

Vor drei Jahren, bei der Machtergreifung Khans, sah das freilich anders aus. Analysten sind sich einig, dass der Wahlsieg von Khans Partei PTI 2018 auf das "political engineerung“ der Militärs zurückzuführen war. Damals galt es, Nawaz Sharif aus dem Amt zu jagen, der sich mit dem mächtigen Chef der Streitkräfte angelegt hatte. Nach seiner gewonnenen Wahl wurde Khan nicht müde zu betonen, dass er und das "Establishment" auf einer Linie lägen. Von der Opposition bekam er spöttisch den Beinamen "Selected“ und "Ladla“, "Liebling des Militärs“.

Der ehemalige Premier Imran Khan wurde angeschossen; Foto: Foto: Pakistan Tehrik-e Insaf/AFP/picture-alliance
Am 3. November wurde der pakistanische Ex-Premier und jetzige Oppositionsführer Imran Khan während einer Kundgebung in der Stadt Wazirabad angeschossen. Der Attentäter wurde schnell überwältigt und befindet sich in polizeilichem Gewahrsam. Die Hintergründe der Tat sind noch nicht vollständig aufgeklärt. Innenminister Rana Sanaullah bezeichnete den Anschlag als den religiös motivierten Akt eines Einzeltäters. "Es wird vermutet, dass PTI-Anhänger in ihrem Protestmarsch auf die Hauptstadt Islamabad Waffen mitführen,“ schreibt Mohammed Luqman. "Ob Khan für eine Rückkehr an die Macht eine gewalttätige Auseinandersetzung provozieren will, kann noch nicht eingeschätzt werden. Sicher ist jedoch, dass der Anschlag ihm in die Hände spielt.“



Doch seitdem hat sich die Situation grundlegend verändert. Der "Ladla“ hat sich zu einem erklärten Gegner der mächtigen Generäle gemausert. Hinter dem plötzlichen Sinneswandel steckt eine längere Auseinandersetzung zwischen Khan und seinen einstigen Förderern.

Zankapfel ISI-Chef

Die ersten Anzeichen für Risse in der Beziehung zwischen Khan und dem Militär kamen im Oktober 2021 an die Öffentlichkeit. Khan brüskierte Militärchef Bajwa, indem er seine Zustimmung zur Neubesetzung des Chefpostens von ISI, dem Militärgeheimdienst, lange hinauszögerte. Offiziell untersteht ISI direkt dem Premierminister, doch in Wahrheit bestimmt der Armeechef die wichtige Personalie, während die politische Führung nur pro forma zustimmt.

Khan wollte eine Verlängerung der Amtsperiode des ausscheidenden ISI-Direktors General Faiz, offiziell wegen der veränderten geopolitischen Lage im Nachbarland Afghanistan. Inoffiziell wohl wegen dessen enger Verbindung und Sympathien für die PTI. Militärchef General Bajwa beabsichtigte dagegen, seinen engen Vertrauten General Nadeem auf diesen wichtigsten Posten zu hieven. Hinter den Kulissen tobte ein heftiger Streit. Am Ende beugte sich Khan dem Druck des Militärs, das bekanntlich keine Einmischung der politischen Führung in seine internen Angelegenheiten duldet. Schon damals spekulierten viele, Khans Tage als Premier seien nun gezählt.

Die Unfähigkeit der PTI-Regierung, die wachsende Wirtschaftskrise in den Griff zu bekommen, zog zusätzlich den Zorn der Bevölkerung nicht nur auf die Regierung, sondern auch auf das Militär auf sich, welches für den Wahlsieg der PTI verantwortlich gemacht wurde. Für das Militär war das ein Imageschaden, den es zu bereinigen galt.

Bereits 2020 musste General Bajwa in Saudi-Arabien die Wogen zwischen beiden Ländern glätten, nachdem die öffentliche Kritik von Khans Regierung an Saudi-Arabiens fehlender Unterstützung im Kaschmirkonflikt Riad ersichtlich verärgert hatte. All dies führte zu wachsenden Spannungen zwischen den Generälen und Imran Khan.

Pakistans neuer Regierungschef Shehbaz Sharif; Foto: Akhtar Soomro/Reuters
Pakistans Regierungschef Shehbaz Sharif, Nachfolger von Imran Khan: Bereits 2021 wurden daher in Geheimtreffen zwischen der Opposition und dem Militär Optionen für einen Regierungswechsel ausgelotet, wie Mohammed Luqman schreibt. Dabei einigte man sich wohl auf die "Minus-One“-Lösung, d.h. auf eine Regierung der Opposition, die Rückkehr von Ex-Premier Nawaz Sharif, der sich im Londoner Exil aufhält, galt dem Militär als nicht akzeptabel, sein Bruder Shehbaz dagegen schon.

2021 wurden daher in Geheimtreffen zwischen der Opposition und dem Militär Optionen für einen Regierungswechsel ausgelotet. Dabei einigte man sich wohl auf die "Minus-One“-Lösung, d.h. auf eine Regierung der Opposition ohne die Rückkehr von Ex-Premier Nawaz Sharif, der sich im Londoner Exil aufhält. Sein Bruder Shehbaz galt als akzeptabel.

Dann versagten plötzlich PTI-Abgeordnete ihrem Parteichef die Loyalität, zuerst auf der Bundesebene im Nationalparlament, wo Khan ein Misstrauensvotum nicht überstand, seinen Posten verlor und später in Punjab, der größten Provinz des Landes. Das Militär ließ daraufhin mehrmals verkünden, man sei nun neutral und werde sich nicht in die politischen Angelegenheiten einmischen. Militärchef General Bajwa erklärte zudem, keine Verlängerung seiner Amtszeit nach November 2022 anzustreben.

Imran Khans Populismus

Um dem politischen Fiasko halbwegs zu entgehen, schuf Imran Khan die Mär eines politischen Komplotts gegen ihn, in das angeblich die Amerikaner verwickelt gewesen seien, weil er eine unabhängigere Außenpolitik verfolgt habe. Die neue Regierung sei nichts anderes als ein Produkt der USA.

Eine Chiffre der pakistanischen Botschaft in Washington wurde von Khan entsprechend umgedeutet. Khan hofft, mit seinem anti-amerikanischen Populismus genug Stimmen für einen erneuten Wahlerfolg bei den Parlamentswahlen erzielen zu können. Dass der Populismus Imran Khan durchaus hilft, zeigten mehrere Zwischenwahlen, bei denen Khans Partei PTI einige Siege erlangen konnte.

Später veröffentlichte geheime Mitschnitte von Khans Telefonaten belegen, dass Khan mit seinen Mitstreitern bewusst die Idee eines ausländischen Coups hinter seinem Machtverlust entwarf. Wahrheit spielt in der pakistanischen Politik bekanntlich eine untergeordnete Rolle. Übrigens haben anonyme Leaks von abgehörten Gesprächen eine lange Tradition in Pakistan. Erst kürzlich tauchten abgehörte Telefongespräche des amtierenden Premiers Shehbaz Sharif in den sozialen Netzwerken auf. Wer genau hinter diesen Leaks steckt, wurde nie aufgeklärt.

Militärparade am Unabhängigkeitstag Pakistans; Foto: Mohammed Semih Ugurlu/AA/picture-alliance
Das mächtige Militär unter Druck: Die Polarisierung spaltet die pakistanische Gesellschaft und die Kritik der PTI-Anhänger am Militär wird zusehends heftiger und aggressiver. Die Tötung des bekannten Journalisten und PTI-Sympathisanten Arshad Sharif am 23. Oktober durch die kenyanische Polizei veranlasste in einem seltenen Vorgang den ISI-Chef General Nadeem dazu, persönlich in einer Pressekonferenz jegliche Beteiligung am Tod des Journalisten zurückzuweisen. PTI-Anhänger bezichtigen den Geheimdienst des Mordes an Ashraf, der in Pakistan wegen seiner Kritik an den Generälen und einer drohenden Anklage wegen Landesverrat aus dem Land geflohen war.

Das Militär im Fadenkreuz der Kritik

Die Polarisierung spaltet die pakistanische Gesellschaft und die Kritik der PTI-Anhänger am mächtigen Militär wird zusehends heftiger und aggressiver. Die Tötung des bekannten Journalisten und PTI-Sympathisanten Arshad Sharif am 23. Oktober durch die kenyanische Polizei veranlasste in einem seltenen Vorgang den ISI-Chef General Nadeem dazu, persönlich in einer Pressekonferenz jegliche Beteiligung am Tod des Journalisten zurückzuweisen. PTI-Anhänger bezichtigen den Geheimdienst des Mordes an Ashraf, der wegen seiner Kritik an den Generälen und einer drohenden Anklage wegen Landesverrat aus dem Land geflohen war.

In der ohnehin aufgeheizten Stimmung gießt der Anschlag auf Imran Khan nur noch mehr Öl ins Feuer. Bei Protesten skandierten aufgebrachte PTI-Anhänger offen Richtung der Armee "Go Bajwa Go“ und andere schworen mit erhobenen Kalaschnikows Rache an Innenminister Rana Sanaullah.



Es wird vermutet, dass PTI-Anhänger in ihrem Protestmarsch auf die Hauptstadt Islamabad Waffen mitführen. Ob Khan für eine Rückkehr an die Macht eine gewalttätige Auseinandersetzung provozieren will, kann noch nicht eingeschätzt werden. Sicher ist jedoch, dass der Anschlag ihm in die Hände spielt.

Mohammad Luqmann

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