Sprachenvielfalt als Chance

Iran ist ein Vielvölkerstaat, in dem mehr als ein Dutzend Sprachen gesprochen werden. Diese Sprachen sind unter anderem: Persisch, Belutschi, Luri, Arabisch und Türkisch. Aber die Bildungspolitik des Landes ignoriert diese Sprachenvielfalt. Von Manutschehr Amirpur

Von Manutschehr Amirpur

Die Islamische Republik Iran setzt die Politik des alten Regimes fort und lässt nur die Erlernung der offiziellen Sprache (Persisch) zu, obwohl dies dem Verfassungsgebot widerspricht. Auch hier herrscht die im Nahen und Mittleren Osten übliche Tradition weiter: Ein Land, eine Sprache, auch wenn dies den Tatsachen widerspricht.

Ein Blick auf die Nachbarstaaten lässt das Problem erkennen. Das Land, das sich nach dem Ersten Weltkrieg Republik Türkei nennt, begründet seine Existenz auf der Doktrin, dass die Bevölkerung Kleinasiens nur eine Sprache und eine Religion hat. So werden die Kurden und Aleviten schlichtweg ignoriert.

Auch die Länder, die nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches infolge des Ersten Weltkrieges durch die französischen und englischen Mandatsmächte als Irak, Syrien, Libanon, Jordanien und Palästina ohne Rücksicht auf die völkischen und historischen Grenzen praktisch auf dem Reißbrett geschaffen wurden, befolgen diese Politik. Einer der Gründe für die Bürgerkriege in der Türkei und im Irak beruht auf dieser Politik nach dem Grundsatz: Es kann nicht sein, was nicht sein darf.

Missbrauch importierter Begriffe

Kompliziert wird die Angelegenheit, wenn beide Seiten mit neuen, importierten Begriffen miteinander streiten. Begriffe, für die sie nicht einmal richtige Wörter in ihren Sprachen geprägt haben. Sie beschuldigen sich gegenseitig zum Beispiel des Chauvinismus, Panturkismus, Panarabismus und Faschismus, sie reden von Nation, Nationalität, Nationalstaat und dergleichen mehr.

Während sich die europäischen Staaten nach langen blutigen Kriegen von dem Virus der Ideologien zu befreien suchen und sich in Wirtschafts-, Politik- und Wertegemeinschaften zusammenschließen, beharren die Politiker des Nahen und Mittleren Ostens mit Bezug auf ihre tatsächliche oder eingebildete Größe auf dem Nationalismus und versuchen, die gescheiterte europäische Tradition in einer anderen Form bei sich aufleben zu lassen.

Der Missbrauch dieser importierten Begriffe hat eine gewisse Tradition. Die Entdeckung der "glorreichen" Vergangenheit Irans durch deutsche Archäologen und Linguisten war ein Vorwand, den Virus des Rassismus nach Iran zu exportieren. Auch die iranischen Nachbarn sind davon nicht verschont geblieben.

Der berühmte Spruch von Atatürk: "Glücklich, wer sich Türke nennt", gehört zu solchen Äußerungen, die nach dem allmorgendlichen Singen der Nationalhymne vor dem Unterricht als Eid von einem Jungen und einem Mädchen gesprochen und von allen anderen Schülern wiederholt wird. Nun, da die Regierung eine gewisse Versöhnung mit den Kurden versucht, behauptet sie, dass sich dieser Spruch lediglich auf die Staatsbürgerschaft bezieht und nicht auf das türkische Volk.

Im Streit um den Muttersprachenunterricht in Iran werden wissenschaftliche und unbegründete Behauptungen aufgestellt, die letztlich zu Gewalt und Gegengewalt zwischen den Vertretern des Regimes und den Aktivisten führen. Die Völker, die ihre Muttersprache nicht lernen dürfen, beschuldigen die "Perser" des Chauvinismus und sagen, dass sie die türkische, kurdische, belutschische "Nation oder Nationalität" unterdrücken.

Die Persischsprachigen beschuldigen diese Völker ihrerseits des Separatismus, Pantürkismus und Panarabismus. Mit Hinweis auf das mittelpersische Aseri sagen sie, dass die Aserbaidschaner keine Türken seien, und die Araber keine Araber seien, weil Chuzestan bis weit in den Irak schon immer dem iranischen Territorium gehörte und Ktesiphon, die Hauptstadt der Parther und Sassaniden, in der Nähe des heutigen Bagdad lag. Das sind Wortgefechte, die mit den gegenwärtigen Tatsachen nichts zu tun haben.

Persepolis war die Hauptstadt des antiken Perserreichs unter den Achämeniden; Foto: picture-alliance/dpa/Boris Roessler
Regress auf die mystifizierte Geschichte der altpersischen Dynastien: Die Entdeckung der "glorreichen" Vergangenheit Irans durch deutsche Archäologen und Linguisten war ein Vorwand, den Virus des Rassismus nach Iran zu exportieren. Auch die iranischen Nachbarn sind davon nicht verschont geblieben.

Was heißt schon Perser?

Ein Volk unter diesem Namen existiert in Iran nicht. Sind damit die Menschen in der Provinz Fars gemeint? Was hat diese Bevölkerung für eine Macht, um die iranische Sprachpolitik zu bestimmen? Sind damit die persischsprachigen Provinzen Khorasan, Kerman, Isfahan usw. gemeint? Diese Menschen werden sich aber nicht anders nennen als Khorasaner, Kermaner, Isfahani. Wenn so ein Volk existiert hätte, wann haben sie jemals über das ganze Land regiert, um Iran ihre Macht aufzuzwingen?

Nach dem Zusammenbruch des Sassanidenreiches und einer 200-jährigen Herrschaft der Araber haben das Land überwiegend die türkisch- und mongolischstämmigen Iraner regiert. Gerade die beiden letzten Volksgruppen haben die persische Sprache nicht nur in Iran, sondern auch in Kleinasien, im Kaukasus, in Zentralasien und Indien gefördert. Die Hofsprache der Rumseldschuken in Ost-Anatolien war Persisch und ihre Hauptstadt Konya ein Zentrum der persischen Literatur, wo Mevlana (Maulana) Rumi, ein Gigant der persischen Dichtung, tätig war.

Die mongolischen Timuriden haben das Persische zur Hofsprache Indiens gemacht und Jahrhunderte lang gefördert und gepflegt, obwohl ihre ursprüngliche Sprache Tschagatai-Türkisch war. Das geschah nicht aus Liebe oder Verbundenheit zu einem bestimmten Volk, sie wurden von der Kraft der persischen Sprache angezogen, von der Sprache Ferdowsis und nicht von der Macht des iranischen Volkes, das sie ohnehin besiegt hatten. Auch in der heutigen Welt übt die englische Sprache diese Anziehungskraft auch dort aus, wo die Menschen nebenbei ihre anti-amerikanischen Ressentiments pflegen.

Auch der Vorwurf der anderen Seite ist historisch unbegründet: nämlich der Vorwurf des Separatismus. Es trifft schon zu, dass es in Iran separatistische Bestrebungen gegeben hat und auch heute noch gibt. Die kommen aber von außen und nicht von innen. Die ältesten von ihnen waren die Bestrebungen des Osmanischen Reiches, um das türkischsprachige Aserbaidschan von Iran zu trennen, eine Politik, die bis zum Ersten Weltkrieg andauerte.

Die osmanische Armee war bisweilen erfolgreich, besetzte Aserbaidschan und wurde unter großen Opfern der Aserbaidschaner und der Kizibasch (die selber mehrheitlich aus Anatolien stammten) zurückgeworfen. Nicht selten ließen beide Seiten verbrannte Erde zurück. Ein anderer Eroberungsversuch wurde vom russischen Zarenreich gestartet und führte zur Annektierung von siebzehn iranischen Städten in Transkaukasien und zu den Verträgen von Golestan und Turkmantschai, die von den Iranern mit dem Attribut "schändlich" bezeichnet werden.

Die nächste Bestrebung, Aserbaidschan völlig von Iran zu trennen, wurde gestartet, als die Alliierten im Zweiten Weltkrieg Iran besetzten. Doch die Bolschewiken konnten ihre Absichten nicht wie die zaristischen Russen durchsetzen, weil dieses Mal die Großmächte nicht mitmachten. Das Volk war ohnehin nicht auf ihrer Seite.

Der letzte erfolglose Versuch in dieser Hinsicht war der von Saddam Hussein angezettelte Krieg, um Chuzestan zu annektieren. Auch hier kämpften die chuzestanischen Araber, die heute des Separatismus beschuldigt werden, an vorderster Front, um die Integrität des Landes (des heutigen Iran) zu verteidigen. Dazu brauchten sie keine völkischen Ideologien und Begriffe wie Nation und Nationalstaat. Iran war seit der Zeit der Achämeniden immer ein Vielvölkerstaat und ist auch ohne diese importierten Begriffe bestehen geblieben.

Iranische Schülerinnen vor einer iranischen Landkarte; Foto: MEHR
Grundschulunterricht im Vielvölkerstaat Iran: Die Vermengung des muttersprachlichen Unterrichts mit dem Separatismus ist die Politisierung eines Grundrechts mittels trügerischer Vorstellungen. Hier handelt es sich um ein Menschenrecht, um das Recht auf Muttersprache, das in vielen internationalen Konventionen bestätigt worden ist.

Nur die Begründung, die Aserbaidschaner seien keine Türken, sondern türksprachig, weil dort in früheren Zeiten eine Sprache gesprochen wurde, die zum mittelpersischen Spektrum gehört, oder die Kurden seien die Nachkommen der Meder, das erste arische Volk, das Iran beherrschte, löst nicht das Problem. Diese Begründung klingt wie die Behauptung der Kemalisten, die die Kurden als Bergtürken bezeichnen. Das sind unterschwellige rassistische Aussprüche, die diesen Völkern nicht weiterhelfen. Sie sprechen heute Türkisch, Kurdisch oder Arabisch und wollen, dass in den Schulen auch in ihrer eigenen Sprache unterrichtet wird.

Politisierung eines Grundrechtes

Die Vermengung des muttersprachlichen Unterrichts mit dem Separatismus ist die Politisierung eines Grundrechts mittels trügerischer Vorstellungen. Hier handelt es sich um ein Menschenrecht, um das Recht auf Muttersprache, das in vielen internationalen Konventionen bestätigt worden ist. Die Verfassung der Islamischen Republik Iran hat den Weg für den Muttersprachenunterricht freigemacht.

Dort heißt es in Art. 15: "Die gemeinsame Sprache und Schrift des iranischen Volkes ist Persisch. Offizielle Urkunden, Schriftwechsel und Texte sowie Lehrbücher müssen in dieser Sprache und Schrift abgefasst sein. Der Gebrauch der einheimischen Sprachen und Dialekte in der Presse und in anderen Medien wie auch der Unterricht der entsprechenden Literatur in den Schulen ist jedoch neben der persischen Sprache frei." Dieser Artikel ist nicht eindeutig. Was heißt "Unterricht der entsprechenden Literatur in den Schulen"? Literatur in der Originalsprache?

Dann müssen die Schüler aber vorher eine Lese- und Schreibkompetenz in dieser Sprache erwerben, um die Literatur im Original lesen und verstehen zu können. Warum hat man dann nicht eindeutig vom Muttersprachenunterricht gesprochen? Wenn damit die übersetzte Literatur gemeint sein soll, führt dies nicht zur Erlernung der Sprache.

Was heißt "frei" beim Unterricht dieser Sprachen? Ist der Muttersprachenunterricht ein Wahlfach oder gehört er nur zu den Fächern, die privat unterrichtet werden sollen? Wer kommt für die Kosten auf? Bücher, Ausbildung der Lehrer und Einstellung des Lehrpersonals? Das sind Probleme, für deren Lösung die vergangenen Regierungen keine Mittel und Wege aufgezeigt haben. Probleme, auf die lediglich die Kandidaten des Präsidentenamtes zu Wahlzeiten aufmerksam werden.

Sobald Wahlen angesagt sind, kommen die Kandidaten nach Täbris, der größten Stadt der Minderheiten, und versprechen, dass sie die Frage der Muttersprache lösen werden, sobald sie für dieses Amt gewählt werden. Der letzte Präsident war auch keine Ausnahme von dieser Regel.

"Der Unterricht der Muttersprache der Iraner wird offiziell auf der Ebene der Schulen und Universitäten in völliger Durchführung des Artikels 15 der Verfassung und zur Verstärkung der Kultur und Literatur der iranischen Völker und zur Vermeidung ihres Untergangs durchgeführt" gehörte zu den wichtigsten Versprechungen von Rohani.

Er ging sogar einen Schritt weiter und sagte, dass in Täbris eine Akademie der Sprache und Literatur Aserbaidschans eröffnet wird. Da fragt sich der verwunderte Zuhörer, wie das eigentlich gehen soll, wenn man es nicht einmal geschafft hat, den Sprachunterricht in den Schulen zu organisieren.

Doch die Worte zeigten ihre Wirkung, und Rohani wurde in den Provinzen, in denen diese Völker mehrheitlich leben, mit mehr Stimmen gewählt als im Landesdurchschnitt. Das Schuljahr begann, vom Muttersprachenunterricht oder auch nur von einem Entwurf dazu war nichts mehr zu hören.

Apadana (Audienzhalle) von Persepolis, der Sommerresidenz der altpersischen Achämeniden (undatierte Aufnahme), Foto: MEHR
Der Iran war seit der Zeit der Achämeniden immer ein Vielvölkerstaat und ist auch ohne die importierten Begriffe Nation und Nationalstaat bestehen geblieben, schreibt Manutschehr Amirpur.

Die Sachverständigen sagen mit Recht, dass keine Bücher und keine Lehrer für so eine große Aufgabe vorhanden sind. Es hilft auch nichts, sich darüber zu wundern, warum im Laufe der vergangenen fünfunddreißig Jahre nach der Verabschiedung der Verfassung nicht dafür gesorgt wurde, die Voraussetzungen für die Verwirklichung dieses Verfassungsgebotes zu schaffen. Und wenn man darauf aufmerksam macht, dass diese Sprachen in den Nachbarländern unterrichtet werden, wird erwidert, dass man vermeiden wolle, die separatistischen Ansichten aus diesen Ländern mit einzuführen. Schon wieder die Angst vor Separatismus.

Angst vor dem Virus des Separatismus von jenseits der Grenze?

Die irakischen Kurden haben inzwischen ihr Ziel erreicht. In der autonomen Region Kurdistan wird die Muttersprache und in der Muttersprache unterrichtet, und in der Türkei wird seit 2013 nach langen Kriegen und Streitigkeiten die kurdische Muttersprache als Wahlfach angeboten.

Die arabischen, aserbaidschanischen und turkmenischen Sprachen werden seit vielen Jahren in den Schulen der Nachbarländer gelehrt. Diejenigen in Iran, die trotz des Mangels an Büchern und Lehrern in diesen Sprachen eine Zusammenarbeit mit diesen Ländern wegen des Separatismusgedankens scheuen, haben entweder kein Selbstvertrauen oder lesen die Geschichte rückwärts.

Welches dieser Länder hat solch eine demokratische Anziehungskraft, dass ein Teil Irans sich ihnen anschließen wollte? Abgesehen davon, dass Teile dieser Länder früher zu Iran gehörten und durch die Osmanen und Russen annektiert wurden. Wenn ein "Anschluss" beabsichtigt werden sollte, was ganz sicher nicht der Fall ist, müssten sie sich Iran anschließen.

Doch in der Gedankenwelt von heute sollten Überlegungen zu Grenzverschiebungen ohnedies keinen Platz mehr haben. In einer Zeit, in der die Länder der Europäischen Union sich in der Außen-, Wirtschafts- und Kulturpolitik immer mehr einander annähern und trotzdem ihre Grenzen für unantastbar halten, ist das Gerede über Grenzverschiebungen absurd und nichts anderes als ein Vorwand.

Denen, die vor Grenzverschiebungen trotzdem noch Angst haben, kann als Beispiel entgegengehalten werden, dass die Kultur Afghanistans heute nach mehreren Jahrzehnten Bürgerkrieg und Invasionen nur durch die iranischen Bücher am Leben erhalten worden ist. Wenn diese geistige Bluttransfusion nicht wäre, wäre diese ehrwürdige Kultur zusammengebrochen.

Warum soll nun Iran nicht ebenfalls die Möglichkeiten jenseits der Grenze in Bezug auf Arabisch, Türkisch, Turkmenisch und Belutschi in Anspruch nehmen und die Vielfalt der Sprachen und Literaturen im eigenen Lande stärken? Warum soll das Land freiwillig auf dieses riesige Kapital verzichten? Wenn die ersten Muslime bei der Begegnung mit den griechischen, iranischen, syrischen, ägyptischen, indischen Kulturen solche Zurückhaltung gezeigt hätten, wären sie nie imstande gewesen, große Denker wie Alkindi, Farabi, Avicenna, Razi, Ibn Khaldun und Averroes hervorzubringen.

Manutschehr Amirpur

© Fikrun wa Fann 2015

Manutschehr Amirpur ist viele Jahre Simultandolmetscher für Persisch und Deutsch gewesen und ist heute in der Redaktion von Fikrun wa Fann / Art & Thought für die persische Sprachversion zuständig (Andishe ve Honar).