Einheit in der Vielfalt

Da sich Deutschlands Muslime vielen verschiedenen Gemeinschaften zugehörig fühlen, müssen noch viele Hürden genommen werden, um einen Zusammenschluss aller Verbände zu erwirken, meint Riem Spielhaus.

Von Riem Spielhaus

Jahrestreffen der islamischen Gemeinschaft in Deutschland 2005; Foto: Ikhlas Abbis
Lassen sich die vielfältigen ethnischen und gesellschaftlichen muslimischen Gemeinschaften in Deutschland unter dem Dach eines zentralen Verbandes zusammenfassen?

​​Die derzeitige Situation in Deutschland scheint paradox. Da signalisieren Regierungsstellen und islamische Organisationen Gesprächsbereitschaft, und dennoch kommen sie nicht zusammen. In den vergangenen Wochen verwiesen Presseartikel darauf, dass die islamischen Dach- und Spitzenverbände zusammen weniger als die Hälfte der ca. drei Millionen Muslime in Deutschland vertreten und deshalb ihr Anspruch als Ansprechpartner für die Regierung in Sachen Islam zu fungieren kaum gerechtfertigt sei.

Keine Vertretung der schweigenden Mehrheit

Die 'schweigende Mehrheit' der Muslime sei durch sie nicht repräsentiert. Indem Forderungen praktizierender Muslime nach Gleichstellung mit den Kirchen und der jüdischen Gemeinde und nach Gesprächen mit Regierungsvertretern mit dem Hinweis darauf verweigert werden, dass sie nicht alle 3 Millionen Muslime vertreten, wird eine gemeinsame Interessen- und Zurechnungsgemeinschaft unterstellt. Es lohnt sich, die zugrunde liegende Definition von 'Muslimsein' zu hinterfragen, die auf Abstammung und nicht Glaubenspraxis oder religiöser Überzeugung beruht.

Die Erläuterungen der letzten offiziellen Schätzung zur Anzahl der Muslime aus dem Jahr 2000 verdeutlichen, dass die geschätzten 2,8 bis 3,2 Millionen alle in Deutschland lebenden Menschen aus mehrheitlich muslimischen Herkunftsländern erfassen. Sie wurde aus den Migrationsstatistiken hergeleitet. Dabei entscheidet, in welche Familie oder Ethnie man hineingeboren wurde und nicht für welche Weltanschauung oder Religion man sich entschieden hat.

Somit beschreibt 'Muslim' einen kulturell-religiösen Hintergrund, der mehr oder weniger Einfluss auf Glaubenspraxis und Lebensweise haben kann. In der Forderung nach einer Vertretung für 'die Muslime' wird der Begriff jedoch als die Anhänger einer bestimmten Religion bezeichnend verstanden. Zugrunde liegt eine Auffassung von Religionszugehörigkeit, in der unterschiedliche Interpretationen, Religionswechsel, Kulturwandel oder gar die Abkehr von der Religion nicht vorgesehen sind.

Konstruktion der Muslime als kohärente Gruppe

Im öffentlichen Diskurs werden 'Muslime' zunehmend als eine kohärente Gruppe konstruiert, deren Handeln vorwiegend im Islam begründet sei. Immer häufiger wird auf alle Menschen mit muslimischem Hintergrund verwiesen und gleichzeitig angenommen, dass in ihrem Leben der Islam eine bestimmende Rolle spiele. Debatten um Zwangsehen, 'Ehrenmorde' und mangelnde Bildungserfolge von Jugendlichen mit muslimischem Hintergrund zeigen dies. Zugewanderte aus mehrheitlich muslimischen Ländern werden seit einiger Zeit nahezu in allen relevanten Themenbereichen als 'Muslime' wahrgenommen und so über ihren vorausgesetzten Glauben definiert.

Komplexe Kausalzusammenhänge, die zu Problemen oder gar Konflikten führen, werden dabei häufig vereinfacht und auf das Muslimsein reduziert. Das versperrt die Sicht auf Problemlösungen. So gilt es vorhandene Probleme nicht nur zu benennen, sondern auf der Grundlage klarer Analysen zu beheben. Dabei reicht es nicht, Gründe im Islam zu suchen. Vielfältige Strategien sind nötig, um vollständige Integration zu gewährleisten. Die Abkehr vom Islam würde keineswegs die meisten vorhandenen Probleme lösen. Eine solche Annahme wird weder an den sozialen Problemen der nachwachsenden Generation der Bevölkerung Deutschlands noch an denen der Situation benachteiligter Frauen etwas ändern.

Vielmehr, und die Bundeskanzlerin hat dies mit ihrer Initiative für einen Integrationsgipfel erkannt, gilt es, die Grenzen nicht zwischen Muslimen und Nichtmuslimen zu ziehen, sondern diejenigen zusammenzubringen, die sich im Sinne der Gesamtgesellschaft engagieren wollen: Muslime und Nichtmuslime, für bessere Integration und Zukunftschancen von Jugendlichen, gegen das Abdriften in nihilistische Extremismen und gegen häusliche Gewalt. In diese Bemühungen können gar nicht genug Organisationen einbezogen werden.

Eine Vielfalt auch an muslimischen zivilgesellschaftlichen Initiativen kann nur zuträglich sein. Integration von Menschen mit muslimischem Hintergrund – ob praktizierend oder nicht, kann jedoch nur gelingen, wenn zivilgesellschaftliche Organisationen und Parteien ihnen offen stehen, ihr gesellschaftliches Engagement ernst genommen und angenommen wird.

Suche nach einem Ansprechpartner für die Politik

Die Forderungen nach einem Ansprechpartner haben jedoch gerade auf Länderebene ganz pragmatische Gründe. Wenn es um Forderungen in religiösen Fragen geht, um Fragen der Glaubenspraxis oder die Repräsentanz von Muslimen auf protokollarischer Ebene, dann ist Klarheit nötig, die bisher jedoch fehlt. Mitten in Gesprächen mit einem islamischen Verband über die Einführung von Religionsunterricht konnte ein konkurrierender auftauchen, der ebenso beanspruchte, Religionsunterricht anzubieten. Ähnliches gilt für Festakte, bei denen Landes- oder Bundesregierungen die Repräsentanten der größten Religionsgruppen in Deutschland einladen.

Riem Spielhaus; Foto: privat

Wenn auf christlicher Seite je eine Vertretung für Protestanten und Katholiken sowie eine Person für die jüdische Glaubensgemeinschaft eingeladen wird, dann scheint es wenig praktikabel, die Muslime mit einer Anzahl von Vertretern einzuladen, die ihrer religiösen und ethnischen Vielfalt angemessen erschienen. Wollen Muslime also gleich behandelt werden wie jüdische und christliche Glaubensgemeinschaften, so müssen ihre Verbände Professionalität, Beständigkeit, Transparenz in der Entscheidungsfindung und Einheit leben. Genau das haben mehrere Dach- und Spitzenverbände erkannt, die seit Februar 2005 über die Bildung einer deutschlandweiten Repräsentanz der Muslime beraten. Sie versuchen, was in einigen Bundesländern mal mehr, mal weniger gut gelungen ist, wo sich die Landesdachverbände Schura Hamburg, Niedersachsen und IR Hessen gebildet haben.

Geplant ist eine föderale Struktur - von der kommunalen über die Landes - bis zur Bundesebene mit Wahlen in allen Mitgliedsmoscheen. Dennoch, eine Vertretung in religiösen Fragen kann lediglich diejenigen Menschen mit muslimischem Hintergrund repräsentieren, die sich als gläubige Muslime verstehen und zudem auch auf eine solche Vertretung wert legen. Schätzungen gehen davon aus, dass nicht mehr als 30 Prozent der drei Millionen in Deutschland lebenden Menschen mit muslimischem Hintergrund regelmäßig eine Moschee besuchen.

Möglicherweise gehen die übrigen 70 Prozent lieber zu Sport- und Gesangsvereinen und sehen sich durch Amnesty International, deutsche Parteien, Frauen- oder Migrantenvereine eher vertreten, als durch irgendeine religiöse Organisation. Selbst die praktizierenden Muslime sind in vieler Hinsicht zu heterogen, als dass die Grundlagen für einen über die relativ abstrakte Vorstellung von der muslimischen Weltgemeinschaft (umma) hinausgehenden Zusammenschluss schon bestünden. Sie stammen aus über 60 Ländern, sind ethnisch verschieden, leben unter unterschiedlichsten sozioökonomischen Bedingungen und gehören ebenso unterschiedlichen Bildungsschichten an.

Ein Zusammenschluss muss daher hart erarbeitet werden, indem zahlreiche Brücken über kulturelle, sprachliche und nicht zuletzt theologische Mauern gebaut werden. Ähnlich der europäischen Integration geht es hier um eine Einheit in der Vielfalt. ​​

Riem Spielhaus

© Qantara.de 2006

Die Autorin ist Islamwissenschaftlerin an der Humboldt Universität in Berlin und ehrenamtlich in der Muslimischen Akademie tätig.