Ein offenes Ohr für Muslime

Seit vier Jahren gibt es das muslimische Seelsorge-Telefon in Berlin, weltweit das erste überhaupt. Egal ob Ehekrise oder Probleme beim Fasten - Muslime hören hier anderen Muslimen zu, helfen ihnen in schwierigen Lebenslagen. Die Nachfrage danach wächst rasant. Aygül Cizmecioglu berichtet.

Ein Glas mit frisch gebrühtem Minztee und ein Notizblock griffbereit daneben - mehr braucht Selma nicht, um stundenlang Trost zu spenden. Die 23-Jährige sitzt in einem kleinen Hinterhaus-Büro in Berlin.

"Inschallah, meine Schwester", hört man sie sagen, bevor sie das Telefon auflegt. "Gerade rief eine neu konvertierte Muslimin an. Sie fühlt sich aufgrund ihres Kopftuchs an der Uni ausgegrenzt und brauchte einfach jemanden, um darüber zu sprechen", erklärt sie.

Weniger Ängste, mehr Vertrauen

Hand am Telephon; Foto: ©MuTes
Beachtliche Resonanz: Das Muslimische Seelsorgetelefon wurde 2009 vom Trägerverein Islamic Relief in enger Zusammenarbeit mit dem Caritasverband für das Erzbistum Berlin und dem Diakonischen Werks Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (DWBO) in Berlin gegründet.

​​Selma kennt dieses Gefühl aus eigener Erfahrung. Sie selbst verhüllt aus religiösen Gründen ihre Haare und weiß, welch argwöhnische Blicke sie damit auf sich zieht. "Hier herrscht einfach eine größere Empathie. Die Muslime fühlen sich eher verstanden und müssen sich und ihre Religion nicht groß erklären", so Selma. Seit eineinhalb Jahren arbeitet die Studentin ehrenamtlich bei der muslimischen Telefonseelsorge.

2009 wurde die Hotline ins Leben gerufen. Der Anstoß kam von der Konkurrenz. Die christliche Seelsorge hatte über Jahre die Erfahrung gemacht, dass sie Muslime mit ihrem Angebot nicht erreichen konnte. Zu groß war die religiöse Hemmschwelle.

In Kooperation mit der Caritas und der Diakonie wurden schließlich muslimische Seelsorger ausgebildet. Finanziert wird das Projekt bis heute von Islamic Relief, einer weltweit vernetzten muslimischen Wohlfahrtsorganisation.

Islam als Türöffner

Imran Sagir, ein Berliner Moslem mit indischen Wurzeln, war von Anfang an dabei. Er ist der Geschäftsführer des muslimischen Seelsorge-Telefons. Seit der Gründung vor vier Jahren haben mehr als 12.000 Menschen hier angerufen. Und die Nachfrage wächst. Inzwischen gibt es eine 24-Stunden-Hotline. Die Themenpalette reicht von Ehekrisen bis zur Spielsucht.

Der Islam an sich spiele in den Gesprächen eher eine Nebenrolle. Imran Sagir betont, dass das muslimische Seelsorge-Telefon nicht die religiöse Kompetenz eines Imams ersetzen könne. Vielmehr sei die Religion ein Türöffner.

"Sehr bewegend war zum Beispiel der Anruf einer jungen Muslimin, die zuvor vergewaltigt worden war", erzählt Sagir. "Sie hatte alles vor ihrer Familie verschwiegen. Erst bei uns fasste sie den Mut, über die Tat zu sprechen. Wir konnten die junge Frau am Ende davon überzeugen, zu einer Therapeutin zu gehen."

Zuhören können und Ängste abbauen

Zuhören können – das ist das oberste Gebot, sowohl bei der christlichen als auch bei der muslimischen Seelsorge. Doch während Weihnachten die Telefone bei den kirchlichen Angeboten heiß laufen, spürt man hier keinen Ansturm an religiösen Feiertagen wie dem Ramadan.

Imran Sagir; Foto: © A. Cizmecioglu
Telefonische Seelsorge als Mission: Imran Sagir betreut auch die Ausbildung der muslimischen Seelsorger. Diese dauert fast ein halbes Jahr.

​​"Das liegt vielleicht daran, dass familiäre Einsamkeit in der muslimischen Community eher seltener vorkommt", glaubt Imran Sagir. Auch die Altersstruktur der Hilfesuchenden unterscheidet sich. "Hier rufen vor allem junge Menschen an", so Sagir.

Für viele ältere Muslime dagegen ist es immer noch undenkbar, sich fremden Menschen anzuvertrauen, selbst wenn die Seelsorge vollkommen anonym abläuft. Sprachprobleme kämen hinzu. "Deswegen haben wir neben Deutsch auch den bilingualen Dienst", erklärt Imran Sagir. "Auf Türkisch z.B. oder Bosnisch, Arabisch oder Urdu."

Entscheidend sei es, Ängste abzubauen. Da sind sich Imran Sagir und Selma einig. Beide bezeichnen sich als gläubige Muslime, so wie die meisten der 73 ehrenamtlichen Mitarbeiter. Unter ihnen sind Akademiker, Hausfrauen mit und ohne Kopftuch, Unternehmer, deren Eltern überwiegend aus der Türkei oder aus Marokko stammen.

Sie selbst sind hier in Deutschland geboren und gehören einer neuen, selbstbewussten Generation von Muslimen an. Ihr Ziel: der deutschen Gesellschaft ein modernes Bild vom Islam zu vermitteln. Und dazu gehört es auch, mit der Technik zu gehen. Die muslimische Seelsorge soll in Zukunft nicht nur am Telefon stattfinden, sondern auch virtuell in Chatform.

Aygül Cizmecioglu

© Deutsche Welle 2013

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de