"Wie hälst du es mit der Religion?"

Migranten aus islamisch geprägten Ländern wird oft eine starke Religiösität zugeschrieben. Doch viele vertreten einen moderaten Islam oder kehren sich sogar vollständig vom Islam ab. Eine neue Studie wirft einen Blick auf die Gläubigkeit von Muslimen in Deutschland. Kersten Knipp mit Einzelheiten

Junge Frauen diskutieren; Foto: picture alliance/dpa
Viele Migranten, beispielsweise aus der Türkei, sind mit ihrer Religion, dem Islam, nur locker verbunden. In ihrem Alltag spielt der Glaube keine entscheidende Rolle.

​​Über drei Millionen Muslime leben derzeit in Deutschland, viele von ihnen haben ein liberales Verständnis ihres Glaubens. Sie sehen in ihrer Religion vor allem einen Teil ihrer Herkunftskultur, ohne ihren Glauben tatsächlich zu praktizieren. Die deutsche Gesellschaft jedoch nimmt diese säkularen Muslime oder auch "Kulturmuslime" kaum wahr, denn sie sind im Unterschied zu den religiösen Muslimen nicht organisiert und treten öffentlich kaum in Erscheinung.

Dennoch werden Migranten aus der Türkei oder auch Marokko von vornherein mit dem Islam und mit Religiosität im Allgemeinen in Verbindung gebracht. Eine neue Studie hat vor kurzem belegt, dass dieses Bild nicht der Wirklichkeit entspricht.

Der Psychologe und Migrantenforscher Halil Uslucan ist einer der Autoren der Studie. "Jugendliche werden ihrerseits sehr stark auf die islamische Identität hin befragt", so Uslucan. "Und in der Tat denken sie dann über ihre eigenen kulturellen, religiösen auch ethnischen Wurzeln verstärkt nach, obwohl diese Jugendlichen häufig hier geboren wurden. Es sind Fremdzuschreibungen, die dann zu Selbstzuschreibungen werden, und die Differenz dann auch bewusster markiert wird."

Die Religionskenntnisse sind oft gering

Das heißt, wenn ein Jugendlicher ständig erlebt, dass man ihn als Muslim bezeichnet, beginnt er in vielen Fällen erst dann, über seine religiöse Herkunft nachzudenken, die im Elternhaus vorher nicht unbedingt gelebt wurde.

Bild Halil Usulcan; Foto: Universität Magdeburg
Die Art, wie Religion im Alltag ausgeübt wird, gibt Aufschluss über den tatsächlichen Grad der Religiösität, sagt Halil Usulcan.

​​Dies kann zu einem Bekenntnis zu einer Religion führen, die man inhaltlich so gut wie gar nicht kennt. "Wenn sie gezielt einige dieser Jugendlichen nach dem Islam fragen", so Halil Uslucan, "so haben sie vielleicht nicht mehr Kenntnisse als irgendein anderer."

Der Anstoß sich selbst als Muslim zu bezeichnen, auch wenn man kein von der Religion geprägtes Leben führt, ist nicht selten als eine Reaktion auf das gesellschaftliche Umfeld zurückzuführen.

"Wenn sie zum Beispiel jemanden haben, der aus einer türkischen Familie stammt, die nach 1980 wegen des Militärputsches aus der Türkei hierher als Linker geflohen ist", so Raoul Motika, Islamwissenschaftler an der Universität Hamburg, "der sich dann womöglich hier in der SPD engagiert hat und dessen Kinder jetzt auf die Universität gehen, dann haben sie natürlich etwas völlig anderes, als wenn sie ländlich ostanatolische Eltern, Großeltern haben mit einem extrem niedrigen Bildungshintergrund. Oder wenn die Frau zwecks Heirat nach Deutschland geholt wurde."

"Jetzt sind wir alle irgendwie Muslime"

Wer vom Herkunftsland der Migranten direkt auf deren religiöse Einstellung schließt, übersieht dabei all jene Muslime, die mit ihrer Religion nur locker verbunden sind. Islamwissenschaftler sprechen von ihnen als so genannte Kulturmuslime. Außerdem gibt es Migranten aus islamischen Ländern, die sich bewusst vom Islam getrennt haben und sich als Ex- oder Nicht-Muslime bezeichnen.

Bild Mina Ahadi; Foto: ZdE
Mina Ahadi ist die Vorsitzende des Zentralrats der Ex-Muslime. Der Verein startete mit der Kampagne "Wir haben abgeschworen".

​​So etwa Mina Ahadi, die iranisch-stämmige Vorsitzende des Zentralrats der Ex-Muslime, ein im Jahr 2007 in Deutschland gegründeter Verein. "Wir waren vor vier, fünf Jahren alle Ausländer. Auf einmal ist etwas passiert, und wir wurden langsam zu Muslimen. Jetzt sind wir alle irgendwie Muslime, in den Medien und in der Öffentlichkeit", so Mina Ahadi.

Um herauszufinden, wie die Einwanderer aus islamischen Ländern es tatsächlich mit der Religion halten, stellt der Psychologe Uslucan seinen muslimischen Probanten im Gespräch eine scheinbar ganz schlichte Frage: "Würden sie sich als gläubig bezeichnen?" Bei 88 bis 92 Prozent derjenigen, die in Deutschland gefragt werden, und bei 93,5 Prozent derjenigen, die in der Türkei gefragt werden, lautet die Antwort: "Ja, natürlich islamisch."

Religiösität im Alltag

Bei dieser Antwort darf man jedoch nicht übersehen, dass es im Islam keine Religionsfreiheit gibt. Man wird sozusagen als Muslim in eine islamische Gesellschaft geboren, die man nicht verlassen darf. Islamisten fordern für den Abfall vom Islam sogar die Todesstrafe. Vor diesem Hintergrund antwortet kaum jemand aus einem vom Islam geprägten Land, dass er kein gläubiger Muslim sei.

"Deshalb muss man Filterfragen einbauen", sagt Halil Uslucan, der diesen Aspekt bei seinem Forschungsprojekt berücksichtigt. "Beispielsweise derart, ob sie auch täglich beten, ob sie im Ramadan fassten, ob sie freitags zur Moschee gehen. Dann geht die Rate deutlich auf unter 50 Prozent runter. Die Frage nach Religiösität im Alltag ist für die Identität viel bedeutender als eine allgemeine Zuordnung und Zugehörigkeitsgefühle zum Islam."

Auf diese Weise wird auch deutlich, dass neben einem stark politisch ausgerichteten Islam, wie ihn etwa manche muslimische Organisationen vertreten, auch ein privater und besonders moderater Islam unter den Migranten gelebt wird.

Kersten Knipp

© Deutsche Welle 2009

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