Bürgerliche Frömmigkeit als Fortschrittsfaktor

Delhi im 19. Jahrhundert: Ein muslimisches Bürgertum entsteht, geprägt durch seine Frömmigkeit. Margrit Pernau zeigt in ihrem Buch "Bürger mit Turban", dass diese religiöse Selbstdefinition als Produkt der Modernisierung zu verstehen ist. Nadja-Christina Schneider stellt das Buch vor.

Foto: AP
Die Jama Masjid in der Altstadt von Delhi ist die größte Moschee des Landes. Sie wurde von 1650 bis 1656 errichtet und ist somit Zeuge der Umwälzungen des 19. Jahrhunderts.

​​In der Geschichte Indiens existierte keine Ständeordnung wie in Europa und die für den Begriff des "Bürgers" prägende Stadtentwicklung war ebenfalls eine gänzlich andere. Auch stellt die koloniale Situation des 19. Jahrhunderts die Frage der politischen Partizipation unter andere Vorzeichen. Doch trotz dieser Unterschiede sieht die Historikerin Margrit Pernau unter muslimischen Gruppen in Delhi ein mit der bürgerlichen Identität deutscher Wirtschafts- und Bildungsbürger vergleichbares Zusammengehörigkeitsgefühl.

Diese empfundene gemeinsame Identität entwickelte sich seit den 1860er Jahren und trug dazu bei, die Zweiteilung der muslimischen Gesellschaft teilweise zu überwinden.

Zu diesem muslimischen Bürgertum zählt Pernau Kaufleute, Händler und jene Gruppen, die ihren Lebensunterhalt durch ihre erworbene Bildung verdienten, darunter Verwaltungsfachkräfte, Juristen und Ärzte. Während die zuletzt genannten in der nordindisch-muslimischen Gesellschaft traditionell zu den "Edlen" oder "Ashraf" gehörten, wurden die Händler als Teil des "Volkes" oder "Ajlaf" betrachtet.

Und obwohl es sich bei den "Ashraf" nicht um einen geschlossenen Stand handelte, gelang bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts nur wenigen Händlern der Aufstieg in das Shariftum.

Religion als treibende Kraft der Verbürgerlichung

Rotes Fort in Delhi; Foto: AP
Das Rote Fort in Delhi zeugt von der Baukunst während des Mogulreiches. Die Festungs- und Palastanlage aus rotem Sandstein wurde Mitte des 17. Jh. errichtet.

​​Erklärbar wird diese Entwicklung durch die tiefgreifenden Veränderungen, die das 19. Jahrhundert in Delhi prägten. Während jene Gruppen, die unter den Moguln zahlreiche Privilegien genossen, in Folge der britischen Landreform abstiegen, gelang vor allem den muslimischen Händlern in der aufblühenden Handelsmetropole Delhi der Aufstieg zur neuen Elite. Gleichzeitig vollzog sich der Übergang von der indirekten zur direkten kolonialen Herrschaft der Briten in Indien, der mit dem endgültigen Niedergang der Mogulherrschaft einherging.

Durch diesen Wegfall der islamischen Herrschaft ging die Verantwortung, den islamischen Charakter des Gemeinwesens zu bewahren, auf die Gemeinschaft der Muslime über. Damit die Grundlagen eines gottgefälligen Lebens für jeden Muslim zugänglich waren, musste die auf den normativen Texten basierende Gelehrsamkeit zunächst einmal über die Autoritäten hinaus Verbreitung finden: Dies beförderte eine rege Übersetzungstätigkeit vom Arabischen ins Persische und später auch ins Urdu.

Zunehmende Bedeutung religiöser Identitäten

Gestützt auf die neuen theologischen Werke und den Einfluss des indischen Reformislams wurde so ein öffentlicher Raum für bürgerliche Laien geschaffen, innerhalb dessen sie ihren Führungsanspruch über die Gemeinschaft der Muslime reklamieren konnten.

Im Unterschied zu vergleichbaren Bewegungen in Europa schloss dies jedoch nicht den Anspruch auf politische Teilhabe ein, denn im Kontext der kolonialen Situation war es für die Muslime jahrzehntelang Erfolg versprechender, sich mit den Herrschern zu arrangieren.

​​Die Frage des bürgerlichen Selbstverständnisses berührte auch die Frage, wie aus Sicht der muslimischen Bürger des ausgehenden 19. Jahrhunderts das politische Gemeinwesen aller Inder beschaffen sein sollte, um ein geregeltes Zusammenleben der verschiedenen Gemeinschaften zu garantieren. Denn gerade im Verlauf des 19. Jahrhunderts stellt Pernau in Delhi eine zunehmende Bedeutung religiöser Identitäten sowie daraus folgender Abgrenzungstendenzen zwischen den einzelnen Gemeinschaften fest, die in den folgenden Jahrzehnten zunehmend politisiert wurden.

Unter den muslimischen Bürgern Delhis existierten offenbar unterschiedliche Konzepte der Gemeinschaft und des Gemeinwesens. So zeigt Pernau, dass der Begriff qaum ursprünglich jene muslimische Gruppierungen bezeichnete, die sich auf einen gemeinsamen geografischen Ursprung bezogen. In anderen Zusammenhängen wurde qaum wiederum als Bezeichnung für die Gemeinschaft aller in Indien lebenden Muslime verwendet. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zeigt sich dagegen etwa bei dem Reformdenker Sayyid Ahmad Khan eine programmatische Neuinterpretation des Begriffs qaum, der damit die nationale Gemeinschaft aller Inder ungeachtet der Religion bezeichnete.

Die Rolle der Religiosität war eine andere

Gleichzeitig sorgte aber auch die Betonung des arabischen Ursprungs der Religion im Reformislam dafür, dass die Vorstellung einer weltweiten Gemeinschaft der Muslime (umma) bestärkt wurde – insbesondere nach der Revolte von 1857, dem großen indischen Aufstand gegen die britische Kolonialherrschaft. Spätestens gegen Ende des 19. Jahrhunderts kam dann der Begriff der Nation (watan) mit ins Spiel.

Hier waren es vor allem die Ärzte, so Pernau, die die Forderung nach einem Handeln zugunsten des Allgemeinwohls (rifat-e am) am deutlichsten auf das Wohlergehens der Nation (bah-budi-e watan) ausrichteten. Ob und inwieweit die Vorstellung eines politischen Gemeinwesens jenseits der eigenen Gemeinschaft für das bürgerliche Selbstverständnis der Delhier Muslime von Bedeutung war, lässt sich nicht eindeutig klären.

Dessen ungeachtet zeigt Pernau sehr überzeugend, wie entscheidend die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts für viele tiefgreifende Veränderungen der indischen Gesellschaft war, die bislang später datiert oder – wie insbesondere die Rolle der Religiosität – rückblickend zu einem ahistorischen Merkmal erklärt wurden. Auch die politische Organisation religiös definierter Gemeinschaften muss demnach als Produkt der Modernisierung verstanden werden.

Durch den Reichtum an Urdu-Quellen, die Pernau für dieses Buch neu erschlossen hat, handelt es sich bei "Bürger mit Turban" um eine gewinnbringende Lektüre für Geschichtsinteressierte.

Nadja-Christina Schneider

© Qantara 2008

Margrit Pernau, Bürger mit Turban. Muslime in Delhi im 19. Jahrhundert, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2008

Dr. Nadja-Christina Schneider ist Südasienwissenschaftlerin und als Lehrbeauftragte am Institut für Asien- und Afrikawissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin tätig.

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