Niemand hat das Recht zu töten!

Als der Genozid an den Tutsi im Jahr 1994 wütete, schien die Gewalt vor niemandem Halt zu machen. Doch eine kleine religiöse Minderheit verweigerte ihre Beteiligung: die ruandischen Muslime. Sie setzten den Grausamkeiten ihren gewaltlosen Widerstand entgegen und konnten dadurch viele Menschenleben retten. Von Markus Weingardt

Von Markus Weingardt

Als am 6. April 1994 der ruandische Präsident bei einem angeblich von Tutsi verursachten Flugzeugabsturz ums Leben kommt und am selben Tag das landesweite Morden beginnt, wird klar: Der Genozid in dem ostafrikanischen Land war bereits lange im Vorfeld von einer kleinen Machtclique im Staatsapparat akribisch geplant worden. Ihr Ziel ist die vollständige Vernichtung aller Tutsi und oppositioneller Hutu. Durch das ganze Land ziehen Milizen mit Gewehren und Macheten. Menschen töten ihre langjährigen Nachbarn, Familienangehörige verraten sich gegenseitig, und Kirchen voller Schutzsuchender stehen in Flammen.

Beendet wird das Grauen erst durch den Vormarsch der "Ruandischen Patriotischen Front" (FPR), die schließlich die Hauptstadt Kigali einnimmt. Nun wird das ganze Ausmaß sichtbar: In nur hundert Tagen, vom 6. April bis 15. Juli 1994, wurden vor den Augen der Welt zwischen 800.000 und einer Million Menschen brutal ermordet, viele weitere flohen in die Nachbarländer.

Der Widerstand der ruandischen Muslime

Mitten in diesem Klima des Hasses und der Gewalt, inmitten eines Krieges, der zwischen Nachbarn, einstigen Freunden - und sogar innerhalb von Familien - ausgetragen wird, gibt es nur wenige, die sich gegen die Propaganda der Machthaber wehren. Die einzige Bevölkerungsgruppe, die sich fast kollektiv dem Hass und der Gewalt verweigert, sind die ruandischen Muslime. Sie stellen fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung (sowohl Hutu als auch Tutsi) in dem ansonsten nominell christlichsten aller afrikanischen Staaten.

Schon früh erkennen die muslimischen Gelehrten und religiösen Führer die drohende Gefahr und sensibilisieren die Gläubigen in ihren Gemeinden. Lehrer instruieren ihre Schüler in eigens aufgelegten Programmen, sich nicht von der Gewaltpropaganda verführen zu lassen.

Totenschädel und Gebeine, Völkermord in Ruanda 1994; Quelle: Getty Images
Bild des Grauens: In Ruanda wurden 1994 nach UN-Schätzungen zwischen 800.000 und einer Million Menschen innerhalb von nur 100 Tagen grausam ermordet. Der Rest der Welt schaute tatenlos zu. Der Völkermord gilt als eines der schwersten Verbrechen des 20. Jahrhunderts.

Auf der Basis des Koran lehren sie, dass Ethnizität nicht entzweien dürfe, dass vielmehr alle Menschen gleich seien und niemand das Recht habe, einen anderen zu töten. Geistliche ermahnen ihre Anhänger in Gottesdiensten, Medien und Flugblättern, dass es Pflicht eines jeden Muslim sei, sich für alle Opfer einzusetzen und nicht der Polarisierung zu verfallen, sich also auch nicht politischen Parteien anzuschließen.

In einem "Hirtenbrief", der in allen Moscheen des Landes verbreitet wird, rufen religiöse Führungspersönlichkeiten dazu auf, keiner Ideologie zu folgen, die nicht mit dem Koran vereinbar sei. Im Radio warnen sie das ganze Land, dass harte Zeiten bevorstünden, und fordern dazu auf, friedliche Werte beizubehalten.

Ihre Ablehnung gegenüber der Hasspropaganda gründet sich auf Werte, die sie unmittelbar aus dem Koran ableiten. Diese Werte stehen, so die Botschaft, im genauen Gegensatz zu der Ideologie der Hutu-­Milizen: Töten betrachten sie als Sünde gegen Gott, stattdessen rufen sie zu Gewaltlosigkeit, Schutz der Schwachen und Hilfe für Bedürftige auf, gleich welcher ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit.

Entschlossen gegen Hass und Gewalt

Ermutigt von der konsequenten Haltung ihrer religiösen Führer positionieren sich auch die muslimischen Gemeinden entschlossen gegen Hass und Gewalt. Neben der Weigerung muslimischer Hutu, sich an dem Morden zu beteiligen (oder aber mit Gegengewalt zu reagieren), leisten viele auch ganz aktiven, aber stets gewaltlosen Widerstand: Verfolgte finden in ihren Häusern und Moscheen Schutz, ohne Verrat fürchten zu müssen. Muslime verstecken Tutsi in ihren Siedlungen, versorgen sie mit Lebensmitteln und stellen sich zwischen sie und die Mörderbanden, was sie nicht selten ihr eigenes Leben kostet.

Einige errichten Straßensperren, um die Milizen am Vorrücken zu hindern, oder schleichen sich bei den Todesschwadronen ein, um deren Pläne auszuspionieren und dadurch die Flüchtlinge rechtzeitig zu warnen und in sichere Gebiete führen zu können. Andere retten Tutsi vor dem Ertrinken oder veranstalten "Schein-­Massaker" und "Schein­-Beerdigungen", mit denen sie die Hutu­-Milizen täuschen und zum Abzug bewegen.

er ehemalige ruandische Präsident Pasteur Bizimungu; Foto: Reuters
Der ehemalige Präsident des Landes, Pasteur Bizimungu, hatte sich zu Lebzeiten stets gegen die Exzesse der Hutu-Mehrheit in seinem Land gewandt und galt lange als Symbolfigur im Versöhnungsprozess. Bei der Vereidigung des ersten muslimischen Ministers im Kabinett, hatte er sich an die ruandischen Muslime mit den Worten gewandt: "Lehrt die anderen Ruander, wie man zusammenlebt!"

All dies geschieht freilich unter höchster Lebensgefahr. Sowohl der öffentliche Widerstand der religiösen Führer als auch der direkte Einsatz der Gemeinden und jedes Einzelnen birgt ein enormes Risiko, erfordert großen Mut und Entschlossenheit.

Die historischen Wurzeln des gewaltlosen Widerstands

Dieses beispielhafte Verhalten der ruandischen Muslime lässt sich zum Teil mit ihrer eigenen Geschichte erklären. Seit im 19. Jahrhundert der Islam durch indische und arabische Händler nach Ruanda gelangte, zählen seine Anhänger zu einer marginalisierten Minderheit. Während der Kolonialherrschaft, die eng mit den christlichen Kirchen verbunden war, wurden sie als Bedrohung wahrgenommen und in isolierte Siedlungen verbannt.

Auch nach der Unabhängigkeit grenzen Regierung und die überwiegend christliche Bevölkerung die Muslime aus und brandmarken sie als Fremde. Sie gelten weder als Hutu noch als Tutsi oder Twa, sondern werden als eine vierte, befremdliche Gruppe wahrgenommen.

Dr. Markus A. Weingardt; Foto: privat
Dr. Markus A. Weingardt ist Politik- und Verwaltungswissenschaftler, Friedensforscher mit dem Schwerpunkt Religion sowie Bereichsleiter Frieden bei der Stiftung Weltethos (Tübingen). Er ist außerdem Mitbegründer des Forschungsverbundes Religion und Konflikt. Zu seinen Veröffentlichungen zählen u.a. das Grundlagenwerk "Religion Macht Frieden" (2010) und "Was Frieden schafft" (2014).

An diese Erfahrungen der muslimischen Gemeinschaft in Ruanda knüpfte ihr gewaltloser Widerstand von 1994 an: Aufgrund der weitgehenden gesellschaftlichen Ausgrenzung wird ihr innerer Zusammenhalt gestärkt. Das gemeinsame religiöse Leben fördert das Gemeinschaftsgefühl zusätzlich (z.B. durch tägliches gemeinsames Beten oder gemeinsames Fastenbrechen im Ramadan).

Durch die selbst erfahrene Diskriminierung können sie sich mit den verfolgten Tutsi identifizieren. Der Glaube an religiös begründete Werte wie Gewaltlosigkeit und interethnische Nächstenliebe ist (auch) aus eigenem Interesse tief verankert. Er verbietet das Töten und gebietet den Schutz der Schwachen.

"Lehrt die anderen Ruander, wie man zusammenlebt!"

Aufgrund der weitgehenden politischen Ausgrenzung bestehen zudem keinerlei Verbindungen zu den Parteien. Dadurch haben die Muslime – im Gegensatz zu den christlichen Kirchen – genug Distanz, um frühzeitig die Entwicklung von Politik und Propaganda richtig einschätzen zu können; überdies bieten sich ihnen keinerlei Vorteile durch eine Beteiligung am Genozid.

Durch den erschwerten Zugang zu öffentlichen Schulen werden Kinder und Jugendliche weniger mit hetzerischer Hutu­ bzw. Regierungspropaganda infiltriert; hingegen konnten an den eigenen muslimischen Schulen Sensibilisierungsprogramme gegen Hass und Gewalt durchgeführt werden.

Zwar gab es auch einzelne Muslime, die sich von ihrer Gemeinde abwandten und am Morden beteiligten. Gleichwohl wurden zahllose Menschen – Tutsi und oppositionelle Hutu, Muslime und Christen – durch die Hilfe von Muslimen gerettet, wie jüngst auch der offizielle Bericht des UN-­Sonderermittlers Christian P. Scherrer bestätigt.

Auch wurde bis heute kein einziger islamischer Geistlicher wegen Mithilfe am Genozid angeklagt. Stattdessen bat der ehemalige Präsident des Landes, Pasteur Bizimungu, bei der Vereidigung des ersten muslimischen Ministers im Kabinett, an die ruandischen Muslime gewandt: "Lehrt die anderen Ruander, wie man zusammenlebt!"

Markus Weingardt

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