Vom Wahlgewinn der Bruderschaft profitieren

Der Ausgang der Parlamentswahlen in Ägypten, aus der die Muslimbruderschaft gestärkt hervorging, wirft die Frage auf: Soll man Demokratisierungstendenzen unterstützen, auch wenn dadurch islamistische Bewegungen gestärkt werden? Von Nathan Brown und Amr Hamzawy

Der Ausgang der jüngsten Parlamentswahlen in Ägypten, aus dem die Muslimbruderschaft als vielleicht stärkste Oppositionsbewegung in der gesamten arabischen Welt hervorging, wirft die Frage auf: Soll man Demokratisierungstendenzen weiterhin unterstützen, auch wenn dadurch islamistische Bewegungen gestärkt werden? Von Nathan Brown und Amr Hamzawy

Der geistige Führer der Muslimbruderschaft Mohammad Mehdi Akef, Foto: AP
Vor Mehdi Akef hatten bereits verschiedene Führer der Bruderschaft die strategische Entscheidung getroffen, politische Teilhabe und zumindest eine teilweise demokratische Öffnung zu befürworten

​​Die Ergebnisse der Wahlen in Ägypten, bei denen die Bruderschaft 76 Sitze im Abgeordnetenhaus gewann (zuvor waren es 17 gewesen), riefen einiges Erstaunen hervor. Dennoch wäre es wünschenswert, wenn das neu erwachte Interesse der amerikanischen Regierung an demokratischen Verhältnissen im Nahen Osten sich davon nicht beirren ließe.

Denn schließlich hat diese Wahl die Muslimbruderschaft nicht an die Macht gebracht, sondern lediglich dazu geführt, dass sie zu einer, wenn auch beträchtlichen, Oppositionsgröße geworden ist. Insofern besteht nun auch die Chance, dass sich ein demokratisches Zusammenspiel von Regierung und Opposition etabliert, wie es in Ägypten Jahrzehnte lang nicht zu beobachten war.

Die ägyptische Muslimbruderschaft, die 1928 gegründet wurde, ist nicht Al Qaida. Gleichwohl hat sie in dem halben Jahrhundert ihres Bestehens, obwohl sie sich selbst weitgehend friedlich verhalten hat, gewalttätige Gruppierungen ideologisch gestützt, so etwa Dschihadisten.

In den letzten Jahren haben verschiedene Führer der Bruderschaft jedoch die strategische Entscheidung getroffen, politische Teilhabe und zumindest eine teilweise demokratische Öffnung zu befürworten, da sie darin die einzige realistische Möglichkeit sehen, für die Regierung von Präsident Hosni Mubarak eine Herausforderung darzustellen.

"Der Islam ist die Lösung"

Das derzeitige Programm der Bewegung hält an dem Slogan "Der Islam ist die Lösung" zwar weiter fest – ein emotionaler Slogan, wie die eigenen Wortführer durchaus einräumen. Das ausführliche Parteiprogramm konzentriert sich jedoch fast ausschließlich auf liberale Reformen.

Für den stellvertretenden Vorsitzenden der Bruderschaft, Mohammad Habib, sind entsprechend die Hauptanliegen der Bewegung: keine Restriktionen mehr für das Entstehen neuer politischer Parteien, Aufhebung der Notstandsgesetze, Stärkung des Parlaments und der Rechtsprechung gegenüber der Exekutive, sowie Befreiung aller politischen Gefangenen.

Die Bruderschaft hat sich allerdings nicht aus idealistischen Gründen zu diesem demokratischen Programm bekannt. Vielmehr sind die äußerst besorgniserregenden autoritären und undemokratischen Praktiken der ägyptischen Regierung von Anfang an darauf ausgerichtet gewesen, gegen die Bruderschaft und ihre Sympathisanten eingesetzt zu werden.

Demokratische Reformen liegen insofern durchaus in deren Interesse, und der Ruf nach ihnen wird umso lauter, je deutlicher die Führer dieser Bewegung spüren, wie populär sie geworden sind.

Der gesellschaftliche Rückhalt der Bruderschaft

Dass es Jahrzehnte lang kaum politischen Pluralismus in Ägypten gab, hat die säkularen Oppositionsparteien gelähmt, und wie die jüngsten Wahlen gezeigt haben, sind diese heute marginal und im Zerfall begriffen.

Ganz anders die Bruderschaft, der es gelungen ist, in der Gesellschaft solidarische Netzwerke auf die Beine zu stellen, die soziale und wirtschaftliche Unterstützung anbieten und großes Vertrauen genießen.

Aus Mangel an Alternativen sind viele Ägypter nicht abgeneigt, die Bruderschaft schon allein aufgrund ihres guten Rufs zu wählen. Die Bewegung verfügt nämlich nicht nur über eine eindrucksvolle Organisationsstruktur und große finanzielle Ressourcen, sondern kultiviert in ihren Kadern auch ein Ethos persönlicher Rechtschaffenheit im Dienst der Gemeinschaft.

Die Wählerstimmen, die die Bruderschaft erhält, sind insofern nicht nur ein Ausdruck des Protests gegen die herrschende Ordnung, sondern zeugen auch von dem Willen, eine wirkungsvolle Alternative zu unterstützen, die nicht korrupt ist.

Zwischen Taktieren und Tolerieren

Gleichwohl geht der Wille zu politischen Reformen bei der Bruderschaft nicht so weit, dass sie sich deshalb von bestimmten Ansätzen, die liberale Geister noch immer irritieren, verabschieden würde. Ihre Haltung zur Rolle der Frau beispielsweise hat sich zwar bereits gewandelt, bleibt aber einem konservativen Religionsverständnis verhaftet.

Und die Position, die sie gegenüber der christlichen Minderheit, den Kopten, einnimmt, ist nach wie vor ambivalent.

Es gibt also durchaus Anlass, sich zu fragen, inwieweit sich die Bruderschaft dem Prinzip demokratischer Bürgerlichkeit, für das sie sich in letzter Zeit einsetzt, tatsächlich verpflichtet fühlt. Nicht auszuschließen ist beispielsweise, dass sie sich im Hinblick auf die Kopten doch eher für ein Konzept entscheidet, in dessen Rahmen letztere lediglich eine tolerierte Minderheit darstellen.

In Amerika macht man sich aber auch Sorgen über die außenpolitischen Positionen der Bruderschaft. Die Bewegung hat zwar versucht, die Gemüter in dieser Hinsicht zu beruhigen: Mohammad Mehdi Akef, ihr Führer, hat in jüngsten Presseerklärungen versichert, die Bruderschaft würde alle von der ägyptischen Regierung unterzeichneten Abkommen respektieren, auch das Friedensabkommen mit Israel.

Dennoch bedient sie sich weiterhin einer politischen Rhetorik, bei der kein gutes Haar an den USA und an Israel bleibt – und nimmt auch weiterhin entsprechende politische Positionen ein.

Dialog statt Ausgrenzung

Aber demokratischer Wandel kommt nicht dadurch zustande, dass man abwartet, bis liberale Kräfte auftreten, die den Amerikanern genehm sind. In der arabischen Welt entsteht Demokratie viel eher aus der täglichen Auseinandersetzung in einem politischen Prozess, in welchem die regierenden und die opponierenden Kräfte zu der Einsicht gelangen, dass sie einander nicht aus dem Feld schlagen können.

Insofern kann der starke Auftritt, den die Muslimbruderschaft bei den letzten Wahlen hatte, durchaus zur Demokratisierung des Landes beitragen: wenn nämlich die jetzige Regierung Möglichkeiten findet, der Popularität der Bruderschaft ebenso Rechnung zu tragen wie ihrer Forderung nach politischen Reformen.

Präsident Mubarak wird möglicherweise versuchen, die Regierung Bush davon zu überzeugen, dass die Muslimbruderschaft nicht nur eine politische Herausforderung für seine Regierung darstellt, sondern auch eine Bedrohung für die Sicherheit des Landes.

Wenn die USA sich dieser Sichtweise anschließen, unterstützen sie möglicherweise auch eine Rückkehr zu der Politik, die bereits in den 90er Jahren in die Sackgasse führte. Damals bekämpften Regierungen und islamistische Bewegungen einander auf weniger zivilisierte Weise als mit Kampagnen.

Nathan Brown und Amr Hamzawy

© Carnegie-Stiftung 2005

Die Autoren sind Senior Associates beim Projekt zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit der Carnegie-Stiftung für Internationalen Frieden. Dieser Kommentar war zuerst in der im Libanon erscheinenden englischsprachigen Zeitung "The Daily Star" zu lesen.

Übersetzung aus dem Englischen: Ilja Braun

Qantara.de

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