Triumph des Klangs über die Grenzen

Sie stammen aus dem Irak, Iran und der Türkei, leben im Exil oder zuhause – doch sie sind allesamt Kurden. Die Musiker von Nishtiman lassen den Zusammenhalt eines Kulturraumes neu erstehen. Stefan Franzen stellt die Gruppe vor.

Von Stefan Franzen

"Wir hatten ja schon immer kurdische Künstler, die eine bestimmte Region, ein Genre vertreten und gezeigt haben", sagt der künstlerische Leiter und Perkussionist des Sextetts Nishtiman, Hussein Zahawy. "Doch Nishtiman hat einen pionierhaften Aspekt. Wir sprechen hier von einer Nation mit langer Geschichte und Kultur, die in vier Teile zerrissen wurde. Eine Nation mit vielen unterschiedlichen Farben, was das Essen, die Kleidung, die Bräuche, die Religionen angeht, die sie alle in Harmonie vereint. Es gibt kurdische Juden, Muslime, Christen und jede Menge vorislamische Religionen. Und mit der Musik ist es genauso, auch da gibt es viele Farben. Das Konzept bei der Gründung von Nishtiman 2013 war, all diese kurdische Musik auch für Nicht-Kurden zu spielen, ihnen den Eindruck dieser ganz speziellen Geographie zu vermitteln."

Zahawy selbst wuchs im irakischen Teil Kurdistans auf, kam aber schon früh nach London, da sein Vater im kurdischen Widerstand tätig war und fliehen musste. In England studierte der Sohn Musik und Musikwissenschaft, die zweite Heimat öffnete ihm die Türen zu vielen Klangwelten, er konnte mit vielen Formationen rund um die Welt auftreten. "Doch jeder Mensch braucht etwas, woran er festhalten kann", sagt er, "und meine Wurzeln haben mir immer Identität gegeben."

Das "Nishtiman Project", das er zusammen mit seinem langjährigen Compagnon, dem Komponisten, Arrangeur, Langhalslauten- und Spießgeigenspieler Sohrab Pournazeri auf die Beine stellte, kann man somit als die konsequente künstlerische Ausformung dieser Identität bezeichnen. "Nishtiman" bedeutet Heimat, und diesen Begriff fasst Zahawy weiter: "Heimat ist dort, wo du verwurzelt bist. Doch diese Wurzeln können wachsen, wie bei einem Baum, bei dem du den unterirdischen Teil gar nicht siehst."

Lebendige Tradition mit vielen Gefühlsebenen

Wer Nishtiman lauscht, bekommt den Eindruck von lebendiger Tradition mit vielen Gefühlsebenen:Rasante Tanzmusik mit kräftigen Unisono-Chören, tobende Perkussion und ekstatische Schalmei-Ausbrüchen etwa äußern sich einerseits im Stück "Aman Aman". Andererseits sind rhythmisch freie Liebesschwüre wie "Ghanj Khalil" aus dem türkischen Teil zu finden, in denen die klagende Duduk von Ertan Tekin mit der betörenden Stimme von Donya Kamali duettiert. Oder das epische "Shirin": Es entstand am Kreuzungspunkt persischer und arabischer Klänge an der iranisch-irakischen Grenze.

Im melancholisch-getragenen Titelstück "Kobanê" entwirft das Ensemble schließlich mit dem filigranen Hackbrett Santur von Mayar Toreihi, der kreisenden Kamancheh-Geige und der Laute Tanbur eine einzigartige Dramaturgie, in der sich die expressiven, verzierungsreichen Facetten der einzigartigen Vokalistin entfalten können. Mit diesem Stück ehren Nishtiman die syrische Stadt, bei deren Befreiung vom IS vor allem auch kurdische Frauen erheblichen Anteil hatten. "Ob du nun kurdisch bist oder nicht", sagt Zahawy, Kobanê steht als Symbol dafür, wie stark Frauen sein können."

Was das Repertoire jedoch vor allem so charakteristisch kurdisch macht, bekräftigt Zahawy, das sind die Stücke, die auf die besonderen Religionen verweisen. Da gibt es beispielsweise die im 14. Jahrhundert entstandene Gemeinschaft der Ahl-e Hakk, die sogenannten 'Leute der Wahrheit'. Sie sind vom Sufismus genauso beeinflusst wie vom Jesiden- und Alevitentum. Und bei ihnen, im Westen Irans, ist die Laute Tanbur ein heiliges Instrument.

Mythischer Aspekt kurdischer Kultur

Diese Funktion hatte sie auch schon im wesentlich älteren, vorislamischen Mithras-Kult, in dessen Zentrum der Verehrung die Sonne stand. Mit den Stücken "Khor Halat" und "Kohbod" tragen Nishtiman diesem archaischen, mythischen Aspekt kurdischer Kultur Rechnung. Man kann sich beim Hören einer Gänsehaut kaum erwehren, handelt es sich doch um Klänge, wie sie sonst im Nahen Osten wohl nirgends zu finden sind.

Ein großer, sehr bitterer Wermutstropfen bleibt in der noch jungen Geschichte von Nishtiman: Aufgrund des Bürgerkrieges ist es bislang nicht gelungen, das kurdische Spektrum zu komplettieren, sprich: Künstler aus dem syrischen Teil in die Besetzung aufzunehmen. "Die Musiker dort sind wegen der Kampfhandlungen nicht bewegungsfähig, sie haben keine Papiere, die ihnen die Ausreise erlauben würden", sagt Zahawy.

Während des Interviews betont er immer wieder, dass er keine Kommentare zur Politik abgeben wird, und so fällt seine Zukunftsprognose auch eher verhalten aus: "Ob die Kurden ihren eigenen Staat bekommen, das müssen die Politiker entscheiden. Wir waren immer eine friedfertige Nation, die ihre eigene Identität wollte. Aber wir reden von einer sehr fragilen Region und wir wissen nicht wie es enden wird. Es gibt immer diese Hoffnung, dass wir eines Tages in einem Staat namens Kurdistan in Frieden leben können. Und ich hoffe, dass wir mit unserer Musik zum Traum von einem eigenständigen Kurdistan beitragen können."

Stefan Franzen

© Qantara.de 2017