Süß wie pürierte Datteln

Vor Kurzem ist eine bemerkenswerte Kompilation somalischer Musik erschienen: "Sweet as broken dates" ("Süß wie pürierte Datteln") erinnert uns daran, dass Somalia - trotz der Medienbilder eines Landes, das vom Bürgerkrieg gespalten ist - einst ein Ort mit einer blühenden Musikkultur war. Von Richard Marcus

Von Richard Marcus

Nachdem das Militär in den späten 1960er Jahren die angeblich korrupte damalige Regierung gestürzt hatte, fand in Somalia eine kulturelle Erneuerung statt. Die neue – streng nationalistische und sozialistische – Führung traf Maßnahmen zur Stärkung der somalischen Identität. Sie verabschiedete nicht nur Gesetze zur Bekämpfung der Korruption, sondern kümmerte sich auch um die Ausbildung der Bevölkerung. Eine allgemeines Schul- und Gesundheitssystem wurde eingeführt, und die Analphabetenrate konnte von fast 99 Prozent auf unter 50 Prozent gesenkt werden. Wichtiger noch war, dass Somali zur Amtssprache des Landes erklärt wurde und dass die Sprache erstmals richtig systematisiert wurde, damit sie auch zum Schreiben verwendet werden konnte.

All dies führte dazu, dass die kulturelle Szene aufblühte. Auch wenn uns das heute auf ersten Blick sonderbar erscheinen mag: Denn schließlich wurde damals alles – von Theateraufführungen bis hin zu Popgruppen – vom Staat finanziert. Natürlich konnte die Regierung dadurch die Kulturszene direkter kontrollieren, allerdings entstand auch eine Atmosphäre, in der private Bands aufblühen und in Bars und anderen Veranstaltungsstätten ihr Publikum finden konnten. Wenn man sich die 16 Titel des Albums anhört, die aus den 1970er und frühen 1980er Jahren stammen, fällt es uns schwer, zwischen den unabhängigen und den von der Regierung finanzierten Bands einen Unterschied herauszuhören.

Was bei dieser Song-Sammlung besonders bemerkenswert ist – abgesehen davon, dass sie überhaupt existiert –, ist die einzigartige Vielfalt der musikalischen Einflüsse, die es damals in Somalia gab. Die Vokalarrangements, insbesondere die der weiblichen Sängerinnen, erinnern an den Sound, den man auch mit südostasiatischer Musik verbinden könnte, sie wecken insbesondere Reminiszenzen an Bollywood-Musicals. Auch wenn man nicht versteht, was gesungen wird, kann man sich in der Schönheit der Kadenzen und der einzelnen Stimmen verlieren. Und hört man die Frauen auf diesem Album singen, versteht man, warum jemand den Gesang einer Frau als "süß wie pürierte Datteln" empfinden kann.

Musikalischer Schmelztiegel

Dies erklärt, warum die Aufnahmen "Sweet as Broken Dates" genannt wurden, und der Rest der Geschichte erschließt sich dem Zuhörer durch die Bezeichnung "Lost Somali Tapes" (die "verlorenen Somali-Aufnahmen"). Diese Lieder stammen buchstäblich von schlichten Kassettenaufnahmen, die damals von diesen Bands gemacht wurden. Obwohl offensichtlich große Anstrengungen unternommen wurden, um diese Musik so weit wie möglich hörbar zu machen, waren dennoch  – angesichts der Herkunft des Originalmaterials – gewisse Klangverluste nicht zu vermeiden. Also sollte man sich über das Knistern, Rauschen sowie ein paar Verzerrungen nicht wundern, sondern dies als Zeichen einer authentischen Musikkultur werten.

Abgesehen davon sind der Platte einige wirklich unglaubliche Klänge zu entnehmen. Denken wir nur einmal daran, dass diese Stücke aus der Zeit der frühen 1970er bis 1990er Jahre stammen und welche Arten von Musik damals populär waren. Ein Teil der Aufnahmen wurde außerhalb Somalias gemacht, insbesondere die Stücke, die aus späteren Dekaden stammten. Diese entstanden überall da, wo es somalische Auswanderer gab – von Kanada bis Dubai.

Vielfältige Klangwelten

Doch ganz gleich woher die Aufnahmen tatsächlich stammen: Man merkt, dass man keine der Gruppen in eine bestimmte Stilschublade einordnen kann. Auf fast allen Titeln hören wir eine Mischung von Elementen wie Soul, Funk, Reggae und sogar Disco, die ideenreich mit südostasiatischen und afrikanischen Klängen kombiniert wurden.

Noch faszinierender ist, wie auf diese Weise über das ganze Album hinweg einmalige Klangkombinationen erzeugt werden konnten.  Hier drückt jede Band ihrer Musik ihren ganz eigenen Stempel auf. Beispielsweise erinnert das Eröffnungsstück der CD, "Buuraha U Dheer" ("Die höchsten Berge") von Nimco Jamaac, zunächst an Bollywood, aber im Laufe des Songs nimmt man zunehmend auch andere musikalische Elemente wahr.

Ab der zweiten Hälfte des Albums stellt man schließlich fest, dass die Arrangements viel mehr vom amerikanischen Soul und Funk beeinflusst sind als von anderen Musikstilen. Klassische Bläserabschnitte betonen den Rhythmus, und das stetige Hämmern von Bass und Schlagzeug treibt die Stücke voran. So kann man verstehen, warum viele der Interpreten vor allem amerikanische Musiker als ihre großen Vorbilder angegeben hatten.

Postkoloniale Wiedergeburt kultureller Identität

Auch wenn man die Texte der Songs nicht versteht, bekommt man durch ihre englische Übersetzung einen guten Eindruck davon, worum es dort inhaltlich geht. Die Musik ist in erster Linie dazu da, das Publikum zum Tanzen zu bringen, was bedeutet, dass es hauptsächlich um die in der Popmusik üblichen Themen der Liebe geht – wie Männer, die Frauen schlecht behandeln, oder unerfüllte Leidenschaften. (Musiktitel wie "Wegen meiner Lebensumstände abgewiesen", "Romeo und Julia" und "Männer sind grausam und liebenswürdig" legen hiervon ein Zeugnis ab.)

Das Booklet, das der Aufnahme beiliegt, stellt eine wundervolle Mischung aus Interviews und Essays über die somalische Popmusik jener Zeit dar. Den Produzenten von Ostinato Records ist es gelungen, einige Mitglieder dieser Bands ausfindig zu machen und Interviews mit ihnen zu machen. Ihre Erinnerungen der damaligen Zeit helfen dem Zuhörer zum besseren Verständnis jener wichtigen kulturellen Phase der somalischen Geschichte. Natürlich gab es damals mehr als nur Popmusik, aber diese stand symbolisch dafür, wie die Menschen nach der Kolonialzeit versuchten, ihre eigene kulturelle Identität wiederzuentdecken.

"Sweet As Broken Dates" ist ein faszinierendes Porträt eines Landes, über das nur wenige von uns heute Bescheid wissen. Denkt man darüber nach, was sich hätte entwickeln können, wenn diese innovativen musikalischen Klangwelten nicht durch die Kriege und den Terror der 1990er Jahre ein jähes Ende gefunden hätten, zerreißt es einem das Herz. Aber vielleicht können diese Tonaufzeichnungen aus der somalischen Vergangenheit ja eine neue Generation von Musikern dazu inspirieren, die musikalische Traditionen ihres Landes eines Tages wieder aufleben zu lassen.

Richard Marcus

© Qantara.de 2017

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff