"Tahrir/Taksim" - der Soundtrack der Revolution

Islam Chipsy, Arabian Knightz oder Kardeş Türküler lieferten den Sound zu einer neuen Protestkultur. Auf dem Tahrir- und dem Taksim-Platz träumten die Menschen gleichermaßen von einem neuen, alternativen Gesellschaftsentwurf, dem vor allem in der Kunst Ausdruck verliehen wurde. Von Amin Farzanefar

Von Amin Farzanefar

Ein gradueller Unterschied zwischen Tahrir und Taksim betrifft möglicherweise die unterschiedliche Präferenz für das Gemalte bzw. das Geschriebene: Die ägyptische Bilderflut, die immense Fülle von Graffiti, mit ihrer riesigen Spannbreite von Bezügen und Bedeutungen fand so in der Türkei kein Gegenstück. Dort gab es eher eine Schwemme von Schriftzügen - neben Durchhalteparolen, Solidaritätsappellen und Trauerkundgebungen vor allem unzählige spöttische Slogans und ironische Taglines, von denen viele den Premierminister direkt adressierten.

Nach zahllosen sarkastischen Kommentaren zum massiven Gaseinsatz konnte man an einem Kiosk in zentraler Lage lesen "Ayran yok! Biber Gazi var!" - es gibt kein Ayran, sehr wohl aber Pfeffergas. Dass ein martialischer "Ironman" sich im Superheldenkostüm als "Ayranman" beschildert, spielt ebenso auf die Aussage Erdogans an, nicht der Raki, sondern der Joghurtdrink seien das Nationalgetränk, wie auf die Selbstinszenierung des Premiers als "stählerner Mann".

Fast alles diente als Schreibunterlage, bis hin zu umgestürzten und ausgebrannten Autowracks so dass mit den Wörtern zusammen häufig "Ready mades" entstanden, die dem Slogan neue Bedeutungsnuancen verliehen: Beispielsweise hatte jemand auf einen Fernseher "Yalan!" ("Lüge!") geschrieben.

Urbanes Environment wurde so nicht nur zum Material revolutionärer Parolen, sondern zur Grundierung für kreative Wortspiele - die Stadt wird zum Comic – und zur Linksammlung: überall konnte man Hashtags lesen - #Redhack, Resistanbul, occupygezi und direngezi.

Der Sound von Töpfen und Pfannen

Interaktivität prägt auch die Präsentation der Musik: Bereits im April – lange vor Ausbruch der Polizeigewalt - gab es im Gezipark Solidaritätskonzerte. In der Folge gehörten Bands und Musiker zu den kreativsten Teilnehmern, texteten alte Protestlieder um, unterlegten Liebeslieder mit neuem Inhalt oder komponierten gleich neue: Als das nächtliche Topfschlagen als lautstarke Solidaritätskundgebung verboten wurde, konterte die bekannte Gruppe "Kardeş Türküler" mit einem auf Küchengeräten vorgetragenen Song: "Tencere Tava Havasi", der "Sound von Töpfen und Pfannen" (die ethnisch bunt gemischte Gruppe lässt sich seit den Neunzigern von den verschiedensten Musikkulturen der Türkei inspirieren und verkörpert damit quasi das pluralistische Anliegen der Bewegung).

In Ägypten war die Rolle der Musik womöglich noch zentraler: In der Revolution fanden zahlreiche in den „Underground“ abgedrängte alternative Gruppen endlich ihr Publikum – bei Konzerten auf dem Tahrirplatz, oder durch zigtausende Klicks ihrer Videos. Zum "Soundtrack der Revolution" gehörten nicht nur zahlreiche Rock- und Rapinterpreten: "Rebel" von Arabian Knightz bzw. A-Rush, "Leave/Irhal" von Ramy Essam, das von Ahmed Fouad Negm geschriebene, dann von Sheikh Imam gesungene "Egyptian Intifada", oder die romantische Revolutionshymne schlechthin: "Sout al-Horeya/The Voice of freedom" von Amir Eid, Hany Adel und Sherif Mostafa.

Aus der Peripherie ins Zentrum: Sha'abi-Musik

Auch die neue Musikrichtung des Elektro-Sha'abi, eine Variante der um 1970 in ärmeren Arbeitervierteln entstandenen Sha'abi-Musik fand ihren Weg aus der Peripherie in das Stadtzentrum. Die Interpreten - Amr Haha, DJ Figo, Sadat, Oka and Ortega und vor allem Islam Chipsy - verspotten in ihren Texten auch die Versprechungen der Revolution – "The People Want Revolution" wird zu "The People Want Five Pounds Phone Credit" - und zeigen damit ihre Volksnähe und Wandelbarkeit.

Zu den wichtigsten Aktivistengruppen am Tahrir gehörten die von jahrzehntelanger Zensur und langatmigen Genehmigungsanträgen frustrierten ägyptischen Filmemacher. Gegenüber der katastrophalen Berichterstattung der offiziellen Medien, waren sie das "Auge der Revolution", das andere alternative Perspektiven suchte. Das Kairoer Kollektiv "Mosireen" versucht anhand gesammelter Filmbeiträge die Chronologie der Ereignisse zu dokumentieren.

In Istanbul erstellte "Videoccupy" ein ebensolches, um vielseitigen und barrierefreien Informationszugang bemühtes Archiv. Das internationale "Dokumentarist"-Filmfestival, von der Eskalation überrascht, hatte seine Vorführungen und den Wettbewerb direkt in den Gezipark verlegt.

Das türkische Filmschaffen, das trotz aktueller Blüte größtenteils noch in den 1970ern und 1980ern wurzelt, hat völlig neue Impulse bekommen, die sich erst nach Monaten und Jahren manifestieren werden.

Kairo, Istanbul: die Zeltlager sind geräumt. Die Kunst ist wieder in den Alltag, in die Nischen des gesellschaftlichen Raumes gesickert. Angesichts drängender politischer Probleme steht die kulturelle Renaissance im Moment nicht sehr weit oben auf der Agenda – doch die einmal erfolgte Explosion kreativer Energien wird auch nach dem vorläufigen Ende der Unruhen – visuell ablesbar an der Wiedereingliederung der "Sonderzonen" Tahrir und Taksim in den Verkehrsfluss - weit reichende Folgen auf das kulturelle Leben und das künstlerische Selbstverständnis haben. Die Ereignisse rund um die Plätze haben Eines unwiderruflich gezeigt: Das Mögliche ist machbar.

Amin Farzanefar

© Goethe Institut 2014

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de