Lieder für kommende Tage

Das diesjährige Morgenland Festival eröffnete mit der Premiere von Kinan Azmehs Musiktheater-Werk „Songs vor Days to Come“. Marian Brehmer hat das Festival für Qantara.de besucht.

Von Marian Brehmer

Sachten Schrittes bewegt sich Kinan Azmeh über die Bühne. Er geht an Sami vorbei, dem Protagonisten des Stücks,  der vor einer hohen Metallwand auf einem Stuhl sitzt und in einer Mischung aus Apathie und Verzweiflung ins Leere starrt. Seiner Klarinette entlockt Azmeh in wenigen Momenten die ganze Bandbreite an Emotionen, die das Instrument herzugeben vermag. In den fein abgestimmten Vierteltönen vermischen sich Klage und Hoffnung. Darin scheint bereits alles zu liegen, was sich in den nächsten neunzig Minuten Schauspiel auf der Bühne entfalten wird.

Die Symphoniker im Orchestergraben begleiten Azmeh mit romantisch–arabesken Rhythmen und schaffen damit die Klanglandschaft für eine Aufführung, die dem mittelgroßen norddeutschen Theater viel abverlangt hat. Kinan Azmehs Komposition „Songs for Days to Come“ ist die größte Produktion, an die sich das Morgenland Festival Osnabrück unter Leitung von Michael Dreyer in seiner Geschichte herangewagt hat.

Das Musiktheater-Projekt basiert auf fünfzehn Gedichten zeitgenössischer syrischer Poeten, die mit ihren Versen die Leiden des Bürgerkriegs verarbeiten. Die Dichter und Dichterinnen stammen aus Azmehs Freundeskreis. Während der Entstehung seines Werks stand er mit ihnen in Kontakt. Die Verse bilden die Grundlage für drei Liedzyklen und ein eigens komponiertes Libretto. Alle Liedtexte sind auf Arabisch, um dem Publikum ein Gefühl von der Schönheit und Melodik dieser Sprache zu vermitteln. 

Fulminantes Comeback

Das Theater Osnabrück ist zum Auftakt des diesjährigen Morgenlandfestivals bis auf den letzten Platz besetzt. Erwartung liegt in der Luft. Nachdem das wohl renommierteste Festival für orientalische Musik in Mitteleuropa in den letzten beiden Pandemie-Jahren entweder online oder in abgespeckter Form stattfinden musste, erscheint die diesjährige Eröffnung als fulminantes Comeback.

„Songs for Days to Come“ macht anhand der Geschichte des Syrers Sami die Auswirkungen von Gewalt und Trauma auf uns Menschen greifbar. Sami, meisterhaft gespielt von Jan Friedrich Eggers, steht für das Schicksal unzähliger Syrer, deren Leben durch den Bürgerkrieg brutal erschüttert wurden.

 

 

Das Stück blickt in einer Reihe von eindringlichen Szenen auf Samis Leben zurück – beginnend mit seiner in Sinnlosigkeit erstarrten Tätigkeit als Beamter, die schon vor dem Krieg einen inneren Kampf in Sami entfesselte. Die widerstrebenden Gedanken in ihm, ausgesprochen von frivolen Damen in wallenden Kleidern, treiben ihn zunehmend zur Verzweiflung.

Mit dem Aufziehen des Krieges zerfällt Samis Realität weiter, wird das Stimmengewirr auf der Bühne immer chaotischer. In Versatzstücken werden Momente aus dem Kriegsverlauf nacherzählt – die Dominanz einer Gewaltherrschaft, das Grauen des Bombenterrors und die quälende Ungewissheit über die eigene Zukunft.

In einer der bewegendsten Szenen wird Samis Hochzeit nacherzählt. Klarinettist Azmeh und Oud-Spieler Issam Rafea – beide leben inzwischen in New York – werden zu Musikanten der Feier. Der Osnabrücker Opernchor spielt eine ausgelassene Festgesellschaft. Doch die anfängliche Lebensfreude und Leichtigkeit wird durch einen Bombenangriff jäh zur Tragödie. Das Brautkleid ist nun blutbesudelt, ein Symbol für all die Leben und Lebensträume, die der Krieg zerstörte.

Die syrische Sängerin Dima Orsho, ebenfalls ein bekanntes Gesicht des Morgenland Festivals, intoniert nun mit gen Himmel gestreckten Händen einen Trauergesang. Der berückend schönen Melodie liegt ein Gedicht von Aref Hamza aus dem Jahr 2013 zugrunde: „Ein halber Mond scheint über den Städten, in denen niemand übrig ist...“

„Songs for Days to Come“ feiert mit seinem Schwerpunkt auf der Lyrik auch die arabische Sprache –  trotz eines bitteren Beigeschmacks. Mehr als nur zu betrauern, was verloren gegangen ist, stellt das Musiktheater die Resilienz syrischer Kunst heraus. Für die korrekte Aussprache der Gedichte erhielt der Osnabrücker Opernchor monatelanges Sprachtraining. Dirigent Daniel Inbal durfte sich in die Feinheiten des arabischen Musikstils einarbeiten. Die Mühen, so lässt sich an diesem Abend erleben, haben sich gelohnt.

Tischtennisbälle als Symbol des Protests

In der Schlussszene des Stücks regnet es Tischtennisbälle von der Bühnendecke – in Anspielung auf eine Protestaktion syrischer Aktivisten, die im Bürgerkrieg eine riesige Ladung von Pingpong-Bällen mit Botschaften wie „Freiheit!“ oder „Du und ich sind Brüder“ beschriftet hatten, um die regimetreuen Soldaten dazu zu bewegen, die Waffen im Kampf gegen die eigene Bevölkerung niederzulegen. Die Bälle wurden damals auf eine steil abfallende Straße in der Nähe des Damaszener Präsidentenpalastes gekippt.

Azmeh verwendet den Ping-Pong-Ball als Symbol für die Kreativität des Widerstands und die gewaltfreien Ursprünge des syrischen Protests, auch wenn sie letztlich in eine nicht enden wollende Gewaltspirale mündeten. „Der Krieg bringt das Schlimmste in uns hervor. Wir wissen nicht mehr, wer wir sind“, heißt es an einer Stelle von Azmehs Werk.

Azmeh, der zwar seit 1998 in den USA lebt, dessen Schaffen sich jedoch weiterhin um das musikalische Erbe seiner Heimat dreht, sieht seine Komposition als universelles Werk über unsere Zeit, die von Tragödien geprägt ist: „,Songs for Days to Come‘ ist von Syrien inspiriert, spricht aber die ganze Welt an“, wird der Künstler im Begleitheft zur Aufführung zitiert. Tatsächlich hat Azmehs Stück mit dem Ukraine-Krieg an den Grenzen Europas unerwartet an Aktualität gewonnen.

Marian Brehmer

© Qantara.de 2022

 

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