Irans langer Arm im Zweistromland

Wandmalereien der Demonstrierenden nahe dem Bagdader Tahrir-Platz; Foto: Andrea Backhaus
Wandmalereien der Demonstrierenden nahe dem Bagdader Tahrir-Platz; Foto: Andrea Backhaus

Im Irak ermorden proiranische Milizen Demokratieaktivisten und die Regierung unternimmt nichts dagegen. Die Macht der Milizen gefährdet das Land – und die ganze Region. Eine Reportage von Andrea Backhaus aus Bagdad

Von Andrea Backhaus

Die Angst ist wie eine Klette. Sie klebt an ihm, er kann sie nicht abschütteln, so sehr es auch versucht. Immer, wenn er aus dem Haus geht, schaut er hinter sich, ob ihm jemand folgt; an jeder Straßenecke prüft er, ob irgendwo ein verdächtiges Auto parkt. Manchmal, sagt Mohammed al-Temimi, verfolge ihn ein schwarzer SUV ohne Nummernschild. Erst vor einer Woche hätten ihn vor einem Falafalladen zwei Männer angerempelt, die ausgesehen hätten wie Milizionäre, muskulös und mit rasierten Schädeln. "Sie wollten mir klarmachen, dass sie mich beobachten."

Mohammed al-Temimi unterstützt die Protestbewegung, die im Oktober 2019 in der irakischen Hauptstadt Bagdad und den südlichen Provinzen des Landes entstand und deren Anhänger gegen die Korruption und Vetternwirtschaft der Regierenden aufbegehren. Bis heute. Der 21-Jährige sitzt in einem Park in Bagdad im Gras und zieht an seiner Zigarette. Es sind um die 40 Grad Celsius an diesem Junitag, vom Tigris bläst ein heißer Wind herüber. Al-Temimi ist ein schmächtiger Mann mit leuchtenden Augen, die alle Winkel des Parks sondieren, während er von den Monaten erzählt, die sein Leben verändert haben.

"Ich habe auf den großen Umsturz im Irak gehofft", sagt Al-Temimi. Er sei euphorisch gewesen, als er auf dem Tahrir-Platz in Bagdads Zentrum mit tausenden Schülern, Studentinnen und Angestellten seine Wut herausgeschrien habe über die Kriminellen, wie er die politischen Führer nennt. Ein Neuanfang schien so greifbar in diesem Herbst 2019, als Premierminister Adil Abd al-Mahdi zurücktrat. Al-Temimi und die anderen glaubten daran, dass der Irak ein Land sein könnte, in dem auch jene eine gut bezahlte Arbeit finden, die nicht mit der Elite verbandelt sind. Dass ihr Land souverän sein könnte, frei vom Einfluss des Nachbarn Iran und dem Terror der Milizen. Frauen und Männer wie Al-Temimi, sie wollen Bürger in einem Rechtsstaat sein. An dieser Vision halten sie fest. Und das kann sie ihr Leben kosten.

Sicherheitskräfte am Tahrir-Platz in Bagdad; Foto: Andrea Backhaus
Sicherheitskräfte am Tahrir-Platz in Bagdad. Hier demonstrierten im Herbst 2019 tausende Schüler, Studentinnen und Angestellte gegen Korruption und Machtmissbrauch der politischen Führung. Ein Neuanfang schien greifbar, als Premierminister Adil Abd al-Mahdi zurücktrat. Die Aktivisten glaubten daran, dass der Irak ein Land sein könnte, in dem auch jene eine gut bezahlte Arbeit finden, die nicht mit der Elite verbandelt sind. Dass ihr Land souverän sein könnte, frei vom Einfluss des Nachbarn Iran und dem Terror der Milizen. Sie wollten Bürger in einem Rechtsstaat sein. Wer heute an dieser Vision festhält, lebt gefährlich im Irak.

Angreifer auf Motorrädern

Al-Temimi und die anderen Aktivisten fürchten vom Iran unterstützte schiitische Milizen, die im Irak immer mächtiger werden und die, sofern sie niemand aufhält, die Kontrolle im ganzen Land übernehmen könnten. Seit Beginn der Proteste wurden fast 600 Menschen getötet und rund 24.000 Menschen verletzt. Von Polizisten und Sicherheitskräften, die gewaltsam gegen die Demonstrierenden vorgehen. Aber auch von proiranischen Milizen, die Aktivisten, Menschenrechtlerinnen und Journalisten bedrohen, verschleppen und foltern. Manchmal exekutieren die Milizen ihre Opfer mitten auf der Straße. Das geschah der Menschenrechtlerin Reham Jakub aus Basra, die am Steuer ihres Autos saß, als Angreifer auf Motorrädern sie erschossen. Und dem Terrorismusexperten Hisham al-Hashimi, den Attentäter vor seinem Haus in Bagdad anschossen und der später seinen Verletzungen erlag. Erst vor wenigen Wochen wurde der Aktivist Ihab al-Wasni ermordet, danach versammelten sich Tausende auf dem Tahrir-Platz, um gegen die Gewalt der Milizen zu demonstrieren.

Die Anspannung steht der Stadt ins Gesicht geschrieben. Bagdad ist immer schwer gesichert, aber in diesen Tagen gleicht die Stadt einer Festung. An fast allen Kreuzungen in der Innenstadt wurden Checkpoints errichtet, rund um den Tahrir-Platz patrouillieren bewaffnete Sicherheitskräfte, die Zugänge zur Grünen Zone, in der Regierungsgebäude und ausländische Botschaften angesiedelt sind, lassen sich wegen der vielen Panzer kaum passieren.

Dabei schien es gerade noch, als würde sich der Irak erholen. Nachdem der sogenannte "Islamische Staat" (IS) im Irak 2017 als besiegt galt, atmete die Welt auf. Auch die Irakerinnen und Iraker hofften auf ein wenig Normalität. In Bagdad gab es kaum noch Anschläge, die Menschen flanierten wieder am Ufer des Tigris. Unter der scheinbar friedlichen Oberfläche aber wuchsen Probleme. Der Irak erlebte eine Finanzkrise, Korruption blockierte den Wiederaufbau. Die Vertreibung des IS hat im Land ein Machtvakuum hinterlassen, um das nun Milizen ringen, die teilweise untereinander verfeindet sind.

In der Altstadt von Bagdad; Foto: Andrea Backhaus
In der Altstadt von Bagdad. "Die Anspannung steht der Stadt ins Gesicht geschrieben,“ schreibt Andrea Backhaus. "Bagdad ist immer schwer gesichert, aber in diesen Tagen gleicht die Stadt einer Festung.“ Dabei schien es gerade noch, als würde sich der Irak erholen, nachdem der sogenannte "Islamische Staat" (IS) 2017 als besiegt galt. Doch unter der scheinbar friedlichen Oberfläche wuchsen die Probleme. Der Irak erlebte eine Finanzkrise, Korruption blockierte den Wiederaufbau. Die Vertreibung des IS hat ein Machtvakuum hinterlassen, um das nun Milizen ringen, die teilweise untereinander verfeindet sind.



 

Obwohl im Irak mehrheitlich Schiiten leben, hatten lange die sunnitischen Iraker die politische Macht inne. Saddam Hussein, der ab 1979 ein Gewaltregime errichtete, unterdrückte Kurdinnen, Schiiten und alle, die ihn kritisierten, brutal. Als die USA 2003 Hussein stürzten, setzten sie auch ein neues Wahlsystem ein. Seitdem haben immer schiitische Parteien die Mehrheit bekommen, sie stellen auch den Regierungschef und besetzen wichtige Positionen in Politik und Militär. Friedlich verlief der Übergang nicht, Nouri al-Maliki, Premierminister von 2006 bis 2014, diskriminierte nun die sunnitischen Iraker. Viele schlossen sich daraufhin sunnitischen Dschihadistengruppen an, Al-Kaida zum Beispiel und später dem IS. Der IS verübt bis heute Anschläge im Irak, zuletzt im Januar dieses Jahres auf einem Markt in Bagdad.

Und gleichzeitig erschüttert der Terror der proiranischen Gruppen das Land. Diese Milizen sind Teil der Al-Haschd asch-Schaʿbī, der sogenannten Volksmobilisierungseinheiten, eines Bündnisses paramilitärischer schiitischer Gruppen, das 2014 gebildet wurde, um den IS zurückzuschlagen. Der Einsatz der Milizen war damals kriegsentscheidend, denn die irakische Armee war im Kampf gegen den IS unterlegen. Einige Milizen wurden für diesen Einsatz neu gegründet, andere waren schon lange vorher im Irak aktiv gewesen. Die mächtigen Badr-Korps (heute Badr-Organisation) etwa, die Anfang der Achtzigerjahre im Iran gegründet wurden und gegen Saddam Hussein kämpften. Andere proiranische Milizen verübten nach dem Einmarsch der US-Amerikaner Attentate auf US-Truppen, einige ihrer Nachfolge- oder Splittergruppen tun das bis heute, seit dem tödlichen Drohnenangriff auf Irans Topgeneral Kassem Soleimani nahe dem Flughafen in Bagdad im Januar 2020 wieder verstärkt. Nicht wenige hier fürchten einen neuen Krieg, falls die US-Amerikaner gegen die Milizen zurückschlagen.

Die Milizen sind mächtiger als je zuvor



Mit dem Sieg über den IS wurden die Milizen mächtiger als je zuvor. Formell unterstehen sie dem irakischen Premierminister und sind Teil der irakischen Sicherheitskräfte, doch viele Milizen hören auf das Kommando der Revolutionsgarden in Teheran, von denen sie ausgebildet und beraten, teils auch finanziert werden; dazu gehört etwa die Kata'ib Hisbollah, die von den USA als Terrororganisation eingestuft wird.

Viele Milizen sind berüchtigt für ihre kriminellen Machenschaften und ihre Brutalität. Sie feuern Raketen auf US-Stützpunkte und attackieren Fahrzeuge ausländischer Diplomaten. Und sie räumen jene aus dem Weg, die sich für einen demokratischen Irak einsetzen. Die Verbrechen an den Aktivisten werden von einigen wenigen, besonders radikalen Milizen verübt, die immer grausamer vorgehen. Viele Aktivistinnen nennen vor allem zwei Milizen: Asa'ib Ahl al-Haqq, die von einer Kampfeinheit der iranischen Revolutionsgarde gegründet wurde, und Kata'ib Hisbollah. Eine Recherche der BBC stützt diese Annahme.

Ein Bild des getöteten Salah al-Schamari in der Straße, in der seine Familie lebt; Foto: Andrea Backhaus
Ein Foto des ermordeten 38-jährigen Aktivisten Salah al-Schamari. "Unsere Jugend will doch nur eine bessere Zukunft", sagt sein Vater, "aber jeder, der sich gegen die schlechten Zustände erhebt, wird umgebracht." Aus seiner Stimme klingt Bitterkeit, wie Andrea Backhaus in ihrer Reportage schreibt. „Bitterkeit hört man oft heraus, wenn man mit Irakerinnen und Irakern spricht.“ Al-Schamaris Eltern unterstützten die Demonstrationen, "weil sie sehen, dass sie vom Reichtum, über den der Irak etwa durch seine Ölreserven verfügt, nichts abbekommen. Weil sie kaum über die Runden kommen, während die politischen Führer in Luxus schwelgen.“





"Der Mord hat die ganze Familie zerstört"

Die Gewalt der Milizen zerreißt die Familien. Das berichten zum Beispiel die Eltern von Salah al-Schamari, einem 38-Jährigen, der einen Stand für Handyzubehör an einer Hauptstraße im Osten Bagdads betrieb. Al-Schamari war bei jedem Protest dabei. Selbst nachdem Scharfschützen ihm ins Bein geschossen hatten, postete er ein Video in den sozialen Medien, in dem er sagte: "Wir Demonstrierende werden ehrenvoll sterben, ihr anderen Iraker aber werdet erniedrigt sterben." Am 15. Dezember 2020 gegen 18 Uhr packte Al-Schamari gerade seine Sachen zusammen, als ihm Männer von hinten in den Rücken schossen. In seinem Körper steckten neun Kugeln.

So erzählen es Al-Schamaris Mutter und Vater. Sie sitzen auf dem Sofa in ihrem Wohnzimmer, an der einen Wand hängt ein übergroßes Foto von Salah, ein agiler Mann mit Cappy und akkurat gestutztem Bart, an der Wand gegenüber prangt eine Abbildung des Imam Al-Husain, eines Enkels des Propheten Mohammed, der eine zentrale Figur für schiitische Muslime ist. Im Haus der Eltern leben nun auch Al-Schamaris Frau und Kinder, zwei Mädchen und zwei Jungen. "Dieser Mord hat die ganze Familie zerstört", sagt die Mutter und zieht den schwarzen Tschador tief ins Gesicht. Der Vater nickt. "Unsere Jugend will doch nur eine bessere Zukunft", sagt er und seine Stimmt klingt bitter. "Aber jeder, der sich gegen die schlechten Zustände erhebt, wird umgebracht."



Bitterkeit hört man oft heraus, wenn man mit Irakerinnen und Irakern spricht. Wie so viele unterstützen auch Al-Schamaris Eltern die Demonstrationen, weil sie sehen, dass sie vom Reichtum, über den der Irak etwa durch seine Ölreserven verfügt, nichts abbekommen. Weil sie kaum über die Runden kommen, während die politischen Führer in Luxus schwelgen. Weil selbst gut ausgebildete Iraker keine Arbeit finden. Und nun werden auch noch Demonstrierende getötet, die ihre Kinder, Freunde und Kolleginnen sind. Dass sie ihr Leben riskieren, wenn sie ihre Meinung sagen, gibt ihnen das Gefühl, das letzte bisschen Würde zu verlieren. Oder, wie es ein Freund von Al-Schamaris Eltern formuliert: "Wir Iraker werden geradewegs ins Mittelalter zurückkatapultiert."

Spätestens seit dem Mord an ihrem Sohn trauen Al-Schamaris Eltern den Behörden nicht mehr. Nicht weit von Salahs Stand habe ein Polizeiauto gestanden, erzählt der Vater, doch die Polizisten hätten Salah nicht geholfen, vermutlich, weil sie mit den Milizen kooperierten. Noch etwas sei seltsam: Die Straße, in der Al-Schamari arbeitete, werde von Kameras überwacht. Doch am Tag von Salahs Ermordung seien die Kameras ausgeschaltet gewesen, das habe das Innenministerium der Familie bestätigt. Offiziell wegen eines technischen Defekts, aber die Eltern sind sich sicher: Jemand hat sie manipuliert, um die Täter zu schützen. Diebstähle würden immer dokumentiert, sagt der Vater, nicht aber die Attentate der Milizen. "Die Behörden wissen, wer Salah umgebracht hat", sagt er. "Aber sie behindern die Ermittlungen."

Die irakische Anwältin Amel Huseen; Foto: Andrea Backhaus
Die Anwältin Amel Huseen engagiert sich dafür, dass die proiranischen Milizen mit ihrem brutalen Vorgehen nicht ungestraft davonkommen. In den vergangenen Monaten hat Huseen den Demonstrierenden, die von der Polizei verhaftet wurden, kostenlos ihre Rechtshilfe angeboten, viele hat sie aus dem Gefängnis geholt. "Es gibt keine Gerechtigkeit", sagt die Anwältin. Bisher sei kein einziger Mord an Aktivisten aufgeklärt worden, obwohl Premierminister Kadhimi sogar eine spezielle Untersuchungseinheit eingerichtet habe.





Die Verbrecher kommen mit allem davon

Das sagt auch Ali al-Dahhmat, der sich an einem geheimen Ort aufhält. Der 51-Jährige ist untergetaucht und wechselt ständig die Unterkunft. Sein Name steht auf zwei Todeslisten der Milizen, die in den sozialen Netzwerken kursieren, er zeigt sie auf seinem Handy. Auch Mohammed al-Temimi, der junge Aktivist aus dem Park, hat seinen Namen schon auf solchen Listen gesehen. Dazu stehen Sätze wie: "Wenn die hier genannten Personen sich nicht vom sogenannten Oktober-Aufstand lossagen, werden wir sie umbringen." Die Milizen verbreiten in den sozialen Medien auch Fotos von Aktivisten und brandmarken sie als Spione oder Homosexuelle. Viele werden nach solchen Kampagnen getötet.

Das geschah Ali al-Dahhmats Bruder Amjed, der in der südirakischen Stadt Amarah die Proteste anführte, bis Unbekannte ihn im November 2019 erschossen. "Wir wollten über den örtlichen Polizeichef ein Verfahren in Gang setzen, damit die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden", sagt Al-Dahhmat. "Aber der Fall wurde nicht weiterverfolgt." Die Polizei sei von Milizen durchsetzt, sagt er. "Diese Leute haben kein Interesse daran, die Morde aufzuklären."

Wie Ali al-Dahhmat und die Eltern von Salah al-Schamari sind viele Angehörige der Ermordeten wütend auf die Regierung. Eine Regierung, die die Erwartungen zweier Erzfeinde zu erfüllen versucht – der USA und des Iran – und dabei katastrophal zu scheitern scheint. Premierminister Mustafa al-Kadhimi, seit Mai 2020 im Amt, hatte den Demonstrierenden Reformen versprochen, die Verbrechen an den Aktivisten zu untersuchen und den Einfluss bewaffneter Gruppen einzudämmen. Nichts davon ist geschehen. Im Gegenteil: Viele Beobachter sagen, Kadhimis Schwäche habe die Milizen noch gestärkt.

Die Milizen sollen mit ihrem brutalen Vorgehen nicht ungestraft davonkommen, dafür engagiert sich die Anwältin Amel Huseen. Wir treffen sie in einem Café in einer Seitenstraße von Bagdads Zentrum. An diesem ruhigen Vormittag surrt nur der Ventilator an der Decke in monotoner Gleichmäßigkeit. Huseen ist 6o, eine zierliche Frau mit kämpferischem Blick. Vor drei Monaten musste sie Bagdad verlassen, weil tagelang ein Tuk-Tuk vor ihrem Haus parkte, darin zwei Männer in schwarzer Kleidung, vermutlich ein Killerkommando. Ihr Bruder, der mit ihr zusammenwohnte, floh in die Türkei, Huseen lebt jetzt außerhalb von Bagdad.

Ein Plakat mit einem Porträt des Gelehrten und Milizenführers Muqtada al-Sadr am Eingang zu Sadr City; Foto: Andrea Backhaus
Ein Plakat mit einem Porträt des Gelehrten und Milizenführers Muqtada al-Sadr am Eingang zu Sadr City. Vor allem am Anfang der Proteste in 2019 kamen viele Demonstrierende aus diesem Teil von Bagdad. "Der Stadtteil im Nordosten von Bagdad gilt als größtes Armenviertel der Stadt: Es gibt kaum Strom, viele Gebäude sind baufällig, die meisten Bewohner sind arbeitslos“, schreibt Andrea Backhaus in ihrer Reportage.

Huseen setzt sich schon lange für Menschenrechte in ihrem Land ein. In den vergangenen Monaten hat sie den Demonstrierenden, die von der Polizei verhaftet wurden, kostenlos ihre Rechtshilfe angeboten, viele hat sie aus dem Gefängnis geholt. "Es gibt keine Gerechtigkeit", sagt Huseen. Bisher sei kein einziger Mord aufgeklärt worden, obwohl Kadhimi sogar eine spezielle Untersuchungseinheit eingerichtet habe. Manchmal würde die Regierung Mitglieder von Milizen festnehmen, sie dann aber gleich wieder freilassen, angeblich aus Mangel an Beweisen. "Der Staat hat die Angehörigen der Ermordeten nicht einmal finanziell entschädigt."

Die Demonstrierenden seien für die Mächtigen ein Problem, sagt Huseen. Weil sie das Regime stürzen wollten und viele Iraker das unterstützten. Weil sie den iranischen Einfluss kritisierten und die Herrschaft der Milizen infrage stellten. Huseen sagt, sie höre von den Aktivisten immer wieder, die iranische Führung befehlige die Morde direkt. "Ich halte das für wahrscheinlich, denn die Proteste laufen den Interessen des Iran zuwider." Die Revolutionsgarden in Teheran, sagt sie, stünden wegen der US-Sanktionen finanziell unter Druck, sie bräuchten den Irak. Denn sie kontrollierten über ihre Milizen nicht nur Iraks Wirtschaft und das Bankenwesen, sondern betrieben im Irak auch Geldwäsche und Waffenhandel. Zudem würden sie über ihre Vertreter in den Parteien Einfluss auf die irakische Politik und Justiz nehmen. "Der Iran hat im Irak einen Staat im Staate errichtet", sagt Huseen. Und die Führung in Teheran, ganz egal, wer Präsident ist, wolle mit allen Mitteln verhindern, dieses System zu verlieren.Die Furcht vor einem Bürgerkrieg

Damit die Morde nicht ungesühnt bleiben, arbeiten Huseen und die anderen weiter. Gerade unterstützt Huseen die Protestbewegung dabei, eine politische Oppositionsgruppe zu bilden. Viele Demonstrierende haben Parteien gegründet, einige haben sich als Kandidaten für die Parlamentswahl im Herbst aufgestellt. Aber Huseen will etwas anderes. Die Demonstrierenden hatten der Regierung eine Bedingung gestellt, bevor sie einwilligen wollten, sich an der Wahl im Herbst zu beteiligen: Al-Kadhimi sollte die Namen der Mörder preisgeben. Doch das tat er nicht. Also wollen Huseen und andere die Wahl boykottierten, um den Druck auf die Regierung zu erhöhen. "Die Regierung kennt die Verantwortlichen", sagt Huseen. "Wenn sie die Mörder vor Gericht bringen wollte, könnte sie das tun."

Der irakische Politiker Hamed al-Mutlak; Foto: Andrea Backhaus
Der sunnitische Politiker Hamed al-Mutlak, 72, würde gerne verhindern, dass politische Interessen Konflikte zwischen Sunniten und Schiiten – und auch Kurden – im Irak anheizen. "Die sektiererische Gewalt destabilisiert nicht nur den Irak, sondern die ganze Region," sagt er. Der Gründer der säkularen Partei für Dialog und Wandel meint, der Iran benutze den Irak als eine Art Pufferzone, um von dort aus die USA zu bekämpfen. "Die westlichen Führungen tun nichts, um die Milizen zu stoppen", sagt Al-Mutlak. "Dabei wollen selbst viele Schiiten nicht vom Iran beherrscht werden.



 

Welche Bedrohung die proiranischen Milizen darstellen, lässt sich erahnen, wenn man mit Leuten spricht, die selbst einer schiitischen Miliz nahestehen und betonen: "Diese Gruppen sind sehr gefährlich." Das sagt Essam Lafi, der seinen richtigen Namen aus Sicherheitsgründen nicht veröffentlicht sehen will. Lafi folgt Muqtada al-Sadr, einem mächtigen schiitischen Rechtsgelehrten, Milizenführer und Politiker; Lafi ist eine Art Sprecher der Bewegung. Die Sadr-Bewegung, sagt Lafi, verurteile die Gewalt gegen die Demonstrierenden, viele Sadristen hätten selbst gegen die Regierung protestiert.

Vor allem am Anfang der Proteste kamen viele Demonstrierende aus Sadr City, wo einige Milizen ihre Basis haben und auch die Sadr-Bewegung traditionell ihre Anhänger rekrutiert. Sadr City ist benannt nach Mohammed Sadik al-Sadr, einem schiitischen Führer und dem Vater von Muqtada al-Sadr.

Der Stadtteil im Nordosten von Bagdad gilt als größtes Armenviertel der Stadt: Es gibt kaum Strom, viele Gebäude sind baufällig, die meisten Bewohner sind arbeitslos. Von Sadr City aus schickte Al-Sadr einst seine Milizionäre in den Kampf gegen die US-Truppen, heute gilt er als moderater. Seit 2010 ist die Sadr-Bewegung im Parlament vertreten, bei der Wahl 2018 erhielt ein Bündnis von Al-Sadr mit säkularen Kräften die meisten Stimmen. Al-Sadr gilt als Nationalist, er ist kein Handlanger der Iraner, hat aber iranische Unterstützung für seine Kämpfer durchaus akzeptiert.

Lafi sagt, die Sadr-Miliz habe die Demonstrierenden während der Proteste vor den Sicherheitskräften geschützt, auch habe sie einige Frauen und Männer, die entführt und gefoltert worden waren, befreit. Das bestätigen einige Aktivisten. Sie allerdings sagen, Sadr missbrauche die Proteste, um sich selbst in der Politik mehr Autorität zu verschaffen.

Aus Sicht der radikalen Milizen, sagt Lafi, seien die Demonstrierenden von den USA und den Golfstaaten angeheuert, um die Autorität der Schiiten zu untergraben. Die irakische Regierung habe einen guten Grund, sich bei ihnen zurückzuhalten und sie nicht zur Verantwortung zu ziehen: "Eine direkte Konfrontation mit den Milizen könnte zu einem Bürgerkrieg führen."

Der Tigris in der Abenddämmerung; Foto: Andrea Backhaus
Abenddämmerung über der irakischen Hauptstadt: Die Hoffnungen auf Entspannung und auf einen leichteren Alltag haben sich für die Bewohner von Bagdad nicht erfüllt. Pro-iranische Milizen verbreiten unter Oppositionellen und Aktivisten Angst und Schrecken.





Die Milizen ruinieren den Irak



Dass politische Interessen Konflikte zwischen Sunniten und Schiiten – und auch Kurden – im Land anheizen, das würde Hamed al-Mutlak gern verhindern. Der sunnitische Politiker empfängt am anderen Ende Bagdads in seinem Büro, Polstermöbel, ein Schreibtisch aus dunklem Holz, daneben steht akkurat drapiert die irakische Flagge. Der 72-Jährige ist ein freundlicher Mann, der seine Worte wägt. Er sagt: "Die sektiererische Gewalt destabilisiert nicht nur den Irak, sondern die ganze Region." Al-Mutlak war früher in der irakischen Armee, nach der US-Invasion ging er in die Politik und gründete die säkulare Partei für Dialog und Wandel, die sich für demokratische Strukturen und gegen religiöses Sektierertum einsetzt.

Der Iran, sagt al-Mutlak, benutze den Irak als eine Art Pufferzone, um von dort aus die USA zu bekämpfen. Mehr noch: Der Iran kontrolliere inzwischen auch viele andere Gebiete im Nahen Osten. "Irans Führung will über die Milizen ein persisches Imperium schaffen." Und das durchaus gewaltsam. In Syrien vertreiben und töten proiranische Milizen Zivilisten und Oppositionelle, um Diktator Baschar al-Assad zu stützen, im Jemen verüben die schiitischen Huthi-Milizen ähnliche Verbrechen an Zivilistinnen, auch die libanesische Hisbollah, die zu dieser antiwestlichen, antiisraelischen "Widerstandsachse" gehört, wie es der Journalist Michael Young beschreibt, schaltet unliebsame Gegner aus.

"Die westlichen Führungen tun nichts, um die Milizen zu stoppen", sagt Al-Mutlak. "Dabei wollen selbst viele Schiiten nicht vom Iran beherrscht werden." Gerade die US-Amerikaner hätten die Verantwortung, den Irak zu stabilisieren, immerhin hätten sie das Land einst in den Abgrund gezogen. Ob der neue US-Präsident Joe Biden die Iraker stärken wird? Al-Mutlak winkt ab. Der verfolge eigene Interessen, gerade etwa das Atomabkommen mit den Iranern. "Bisher hat Joe Biden nichts erreicht, weder im Irak noch irgendwo sonst im Nahen Osten."



Zurück im Park hat sich Mohammed al-Temimi noch eine Zigarette angezündet. Er hat die Schule abgebrochen, um zu demonstrieren, nun möchte er Kunst studieren. Sein Traum von der großen Revolution hat sich nicht erfüllt. Dennoch, sagt er, sei der Aufstand wichtig gewesen. Er habe die Leute zusammengebracht und gezeigt, dass religiöse und ethnische Zugehörigkeiten keine Rolle spielen müssen. Demokratie sei der einzige Weg, sagt er, auch wenn der Irak dafür noch nicht bereit sei. Und so wird Al-Temimi bei den nächsten Protesten wieder dabei sein, trotz aller Gefahren. "Wir müssen der Welt zeigen, dass wir an unserer Sache festhalten."



Andrea Backhaus



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