Wandmalereien der Demonstrierenden nahe dem Bagdader Tahrir-Platz; Foto: Andrea Backhaus

Mordserie an Demokratie-Aktivisten im Irak
Irans langer Arm im Zweistromland

Im Irak ermorden proiranische Milizen Demokratieaktivisten und die Regierung unternimmt nichts dagegen. Die Macht der Milizen gefährdet das Land – und die ganze Region. Eine Reportage von Andrea Backhaus aus Bagdad

Die Angst ist wie eine Klette. Sie klebt an ihm, er kann sie nicht abschütteln, so sehr es auch versucht. Immer, wenn er aus dem Haus geht, schaut er hinter sich, ob ihm jemand folgt; an jeder Straßenecke prüft er, ob irgendwo ein verdächtiges Auto parkt. Manchmal, sagt Mohammed al-Temimi, verfolge ihn ein schwarzer SUV ohne Nummernschild. Erst vor einer Woche hätten ihn vor einem Falafalladen zwei Männer angerempelt, die ausgesehen hätten wie Milizionäre, muskulös und mit rasierten Schädeln. "Sie wollten mir klarmachen, dass sie mich beobachten."

Mohammed al-Temimi unterstützt die Protestbewegung, die im Oktober 2019 in der irakischen Hauptstadt Bagdad und den südlichen Provinzen des Landes entstand und deren Anhänger gegen die Korruption und Vetternwirtschaft der Regierenden aufbegehren. Bis heute. Der 21-Jährige sitzt in einem Park in Bagdad im Gras und zieht an seiner Zigarette. Es sind um die 40 Grad Celsius an diesem Junitag, vom Tigris bläst ein heißer Wind herüber. Al-Temimi ist ein schmächtiger Mann mit leuchtenden Augen, die alle Winkel des Parks sondieren, während er von den Monaten erzählt, die sein Leben verändert haben.

"Ich habe auf den großen Umsturz im Irak gehofft", sagt Al-Temimi. Er sei euphorisch gewesen, als er auf dem Tahrir-Platz in Bagdads Zentrum mit tausenden Schülern, Studentinnen und Angestellten seine Wut herausgeschrien habe über die Kriminellen, wie er die politischen Führer nennt. Ein Neuanfang schien so greifbar in diesem Herbst 2019, als Premierminister Adil Abd al-Mahdi zurücktrat. Al-Temimi und die anderen glaubten daran, dass der Irak ein Land sein könnte, in dem auch jene eine gut bezahlte Arbeit finden, die nicht mit der Elite verbandelt sind. Dass ihr Land souverän sein könnte, frei vom Einfluss des Nachbarn Iran und dem Terror der Milizen. Frauen und Männer wie Al-Temimi, sie wollen Bürger in einem Rechtsstaat sein. An dieser Vision halten sie fest. Und das kann sie ihr Leben kosten.

Sicherheitskräfte am Tahrir-Platz in Bagdad; Foto: Andrea Backhaus
Sicherheitskräfte am Tahrir-Platz in Bagdad. Hier demonstrierten im Herbst 2019 tausende Schüler, Studentinnen und Angestellte gegen Korruption und Machtmissbrauch der politischen Führung. Ein Neuanfang schien greifbar, als Premierminister Adil Abd al-Mahdi zurücktrat. Die Aktivisten glaubten daran, dass der Irak ein Land sein könnte, in dem auch jene eine gut bezahlte Arbeit finden, die nicht mit der Elite verbandelt sind. Dass ihr Land souverän sein könnte, frei vom Einfluss des Nachbarn Iran und dem Terror der Milizen. Sie wollten Bürger in einem Rechtsstaat sein. Wer heute an dieser Vision festhält, lebt gefährlich im Irak.

Angreifer auf Motorrädern

Al-Temimi und die anderen Aktivisten fürchten vom Iran unterstützte schiitische Milizen, die im Irak immer mächtiger werden und die, sofern sie niemand aufhält, die Kontrolle im ganzen Land übernehmen könnten. Seit Beginn der Proteste wurden fast 600 Menschen getötet und rund 24.000 Menschen verletzt. Von Polizisten und Sicherheitskräften, die gewaltsam gegen die Demonstrierenden vorgehen. Aber auch von proiranischen Milizen, die Aktivisten, Menschenrechtlerinnen und Journalisten bedrohen, verschleppen und foltern. Manchmal exekutieren die Milizen ihre Opfer mitten auf der Straße. Das geschah der Menschenrechtlerin Reham Jakub aus Basra, die am Steuer ihres Autos saß, als Angreifer auf Motorrädern sie erschossen. Und dem Terrorismusexperten Hisham al-Hashimi, den Attentäter vor seinem Haus in Bagdad anschossen und der später seinen Verletzungen erlag. Erst vor wenigen Wochen wurde der Aktivist Ihab al-Wasni ermordet, danach versammelten sich Tausende auf dem Tahrir-Platz, um gegen die Gewalt der Milizen zu demonstrieren.

Die Anspannung steht der Stadt ins Gesicht geschrieben. Bagdad ist immer schwer gesichert, aber in diesen Tagen gleicht die Stadt einer Festung. An fast allen Kreuzungen in der Innenstadt wurden Checkpoints errichtet, rund um den Tahrir-Platz patrouillieren bewaffnete Sicherheitskräfte, die Zugänge zur Grünen Zone, in der Regierungsgebäude und ausländische Botschaften angesiedelt sind, lassen sich wegen der vielen Panzer kaum passieren.

Dabei schien es gerade noch, als würde sich der Irak erholen. Nachdem der sogenannte "Islamische Staat" (IS) im Irak 2017 als besiegt galt, atmete die Welt auf. Auch die Irakerinnen und Iraker hofften auf ein wenig Normalität. In Bagdad gab es kaum noch Anschläge, die Menschen flanierten wieder am Ufer des Tigris. Unter der scheinbar friedlichen Oberfläche aber wuchsen Probleme. Der Irak erlebte eine Finanzkrise, Korruption blockierte den Wiederaufbau. Die Vertreibung des IS hat im Land ein Machtvakuum hinterlassen, um das nun Milizen ringen, die teilweise untereinander verfeindet sind.

In der Altstadt von Bagdad; Foto: Andrea Backhaus
In der Altstadt von Bagdad. "Die Anspannung steht der Stadt ins Gesicht geschrieben,“ schreibt Andrea Backhaus. "Bagdad ist immer schwer gesichert, aber in diesen Tagen gleicht die Stadt einer Festung.“ Dabei schien es gerade noch, als würde sich der Irak erholen, nachdem der sogenannte "Islamische Staat" (IS) 2017 als besiegt galt. Doch unter der scheinbar friedlichen Oberfläche wuchsen die Probleme. Der Irak erlebte eine Finanzkrise, Korruption blockierte den Wiederaufbau. Die Vertreibung des IS hat ein Machtvakuum hinterlassen, um das nun Milizen ringen, die teilweise untereinander verfeindet sind.

 

Obwohl im Irak mehrheitlich Schiiten leben, hatten lange die sunnitischen Iraker die politische Macht inne. Saddam Hussein, der ab 1979 ein Gewaltregime errichtete, unterdrückte Kurdinnen, Schiiten und alle, die ihn kritisierten, brutal. Als die USA 2003 Hussein stürzten, setzten sie auch ein neues Wahlsystem ein. Seitdem haben immer schiitische Parteien die Mehrheit bekommen, sie stellen auch den Regierungschef und besetzen wichtige Positionen in Politik und Militär. Friedlich verlief der Übergang nicht, Nouri al-Maliki, Premierminister von 2006 bis 2014, diskriminierte nun die sunnitischen Iraker. Viele schlossen sich daraufhin sunnitischen Dschihadistengruppen an, Al-Kaida zum Beispiel und später dem IS. Der IS verübt bis heute Anschläge im Irak, zuletzt im Januar dieses Jahres auf einem Markt in Bagdad.

Und gleichzeitig erschüttert der Terror der proiranischen Gruppen das Land. Diese Milizen sind Teil der Al-Haschd asch-Schaʿbī, der sogenannten Volksmobilisierungseinheiten, eines Bündnisses paramilitärischer schiitischer Gruppen, das 2014 gebildet wurde, um den IS zurückzuschlagen. Der Einsatz der Milizen war damals kriegsentscheidend, denn die irakische Armee war im Kampf gegen den IS unterlegen. Einige Milizen wurden für diesen Einsatz neu gegründet, andere waren schon lange vorher im Irak aktiv gewesen. Die mächtigen Badr-Korps (heute Badr-Organisation) etwa, die Anfang der Achtzigerjahre im Iran gegründet wurden und gegen Saddam Hussein kämpften. Andere proiranische Milizen verübten nach dem Einmarsch der US-Amerikaner Attentate auf US-Truppen, einige ihrer Nachfolge- oder Splittergruppen tun das bis heute, seit dem tödlichen Drohnenangriff auf Irans Topgeneral Kassem Soleimani nahe dem Flughafen in Bagdad im Januar 2020 wieder verstärkt. Nicht wenige hier fürchten einen neuen Krieg, falls die US-Amerikaner gegen die Milizen zurückschlagen.

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