Religiöse und säkulare Werte

Wer in islamischen Gesellschaften westliches Denken durchsetzen will, sollte sich der Risiken bewusst sein, die mit einer Korrosion bestehender Wertesysteme verbunden sind, warnt der iranische Gelehrte Mohammad Saeed Bahmanpour

S. Bahmanpour (c) 2002 adventist.org.uk
S. Bahmanpour

​​Ich habe einmal irgendwo gelesen, dass der Islam der sozialen Gerechtigkeit allerhöchste Bedeutung beimisst, vergleichbar der Rolle, die Liebe und Frieden für das Christentum spielen. Nun hätten aber im vergangenen Jahrhundert die islamischen Gesellschaften sehr wenig soziale Gerechtigkeit erlebt, und die christlichen Gesellschaften nichts anderes als Weltkriege und Gemetzel! Wenn ich also über den Begriff der sozialen Gerechtigkeit im Islam spreche, fragen Sie mich bitte nicht, warum einige Länder so anders handeln als sie bekennen - auch das ist ein universelles Phänomen.

Schwierigkeiten mit der Frage einer sozialen Gerechtigkeit gibt es in fast allen Religionen: im jüdischen Glauben und im Christentum zum Beispiel ebenso wie im Islam. Christliche Gesellschaften haben in gewisser Weise ihren christlichen Glauben beiseite gestellt und sind mit der neuen Idee einer säkularen Gesellschaft aufgetreten. Es wird argumentiert, es gäbe keinen Widerspruch zwischen einer solchen säkularen Gesellschaft und den christlichen Werten. Aber wenn wir bis auf die Wurzeln des Christentums zurückgehen, zeigt sich, dass dieses Argument viele Fragen offenlässt und keineswegs unproblematisch ist. Von Muslimen, die ihren islamischen Glauben nicht beiseite stellen wollen, sollte man nicht erwarten, dass sie schnelle Antworten auf diese schwierigen Fragen haben.

Im Koran gibt es einen Vers, in dem Gott von den Menschen Großzügigkeit und Gerechtigkeit verlangt. Der Prophet Mohammed hatte, bevor er seinen Auftrag erhielt, einen Freund. Dieser bekannte später, er habe anfangs nicht recht an die Offenbarungen geglaubt, von denen der Prophet behauptete, sie seien ihm zuteil geworden. Erst nach zwei oder drei Jahren, als ihm der Mohammed von Gottes Forderung nach Großzügigkeit und Gerechtigkeit berichtete, die dem Propheten ebenfalls offenbart worden war, habe er schlagartig gewußt, dass der Prophet die Wahrheit sprach. Denn diese Botschaft habe alle Werte enthalten, die dem Freund je etwas bedeutet hätten, und so wurde er zum Schüler.

Es gibt im Islam keine Definition der Gerechtigkeit. Es wird einem lediglich gesagt, man habe in seinen Handlungen gerecht zu sein. Selbst in der Beziehung zu Feinden drängen einen einige Verse des Koran zur Gerechtigkeit. Gerechtigkeit wird für einen universellen Wert gehalten, für eine Art immanenten Ruf des menschlichen Gewissens, der nicht definiert werden kann. Er kann mit Sicherheit nicht von einer Religion gegen eine andere definiert werden. Wie sollen wir uns also Menschenrechtsprinzipien annähern, die zu Widersprüchen und Meinungsverschiedenheiten führen? Wie kommt es zu diesen Meinungsverschiedenheiten? Warum entscheiden Gerichte in verschiedenen Gesellschaften unterschiedlich? Wie kommt es zu diesen Meinungsverschiedenheiten? Wenn man die Idee universeller Werte akzeptiert, kann der Hauptgrund für für unsere unterschiedlichen Urteile nur darin bestehen, dass wir unterschiedliche Hintergründe und Perspektiven haben.

Wenn wir Samuel Huntingtons "Kampf der Kulturen" beantworten wollen, müssen wir unser Verständnis von Gerechtigkeit so ausweiten, dass es unterschiedliche Kulturen umfasst. Vielleicht müssen gerade wir, als Intellektuelle und Menschen, die über so wichtige Dinge wie Krieg und Frieden entscheiden wollen, unser Vorstellungsvermögen einsetzen, um uns in unterschiedliche Denkformen hineinzufühlen.

Aber es ist gefährlich und ein reines Ausweichmanöver, wenn man zu anderen Menschen sagt: "Was auch immer deine Meinung ist: behalte sie für dich. Das ist der einzige Weg, Gerechtigkeit zu erlangen und du musst ihn befolgen." Die Diskussionen zwischen Muslimen und den säkularen Gesellschaften - ich sage bewusst nicht 'christlichen', weil ich denke, dass christliche Werte in Ihren säkularen Gesellschaften verloren gegangen sind - rühren her von dem Unwillen der Muslime, Islamische Werte zu verraten. Ich weiß nicht, was in Zukunft geschehen wird, aber zurzeit wollen Muslime ihre religiösen Werte nicht außer Kraft setzen, um eine säkulare Gesellschaft zu schaffen.

Der Westen behauptet, dass in Großbritannien oder den Vereinigten Staaten soziale Gerechtigkeit bestehe, aber er bestreitet, dass es sie auch in Iran oder Saudi-Arabien geben könnte. Aber betrachten Sie das System der Nationalstaaten einmal im Hinblick auf ihre internationalen Beziehungen. Dort wird akzeptiert, dass jede Nation ihre eigenen Interessen verfolgt, auch wenn es dabei auf Kosten anderer geht. Seine eigenen Interessen zu verfolgen steht immer in Konflikt mit einer umfassenden sozialen Gerechtigkeit. Und dennoch funktioniert so das System internationaler Beziehungen.

Nicht nur im Islam gibt es Ungerechtigkeiten, Korruption und autoritäre Herrschaft. Wenn wir Gerechtigkeit schaffen und voranbringen wollen, vor allem in den ärmeren Ländern, dann brauchen wir finanzielle Mittel, Institutionen und Wissen. Aber wenn das internationale System insgesamt ungerecht ist, wie können die armen Länder dann je die notwendigen Ressourcen für gute politische Institutionen, eine gerechte Justiz oder korrekt arbeitende Sicherheitsorgane erhalten? Natürlich kann man nicht die ganze Verantwortung für die Versäumnisse eines Landes bei den anderen suchen. Aber in dem bestehenden internationalen System ist es für Nationen, die in ihrer Entwicklung zurückgefallen sind, sehr schwierig, Fortschritte zu erzielen, wenn sie nicht Hilfe, Ermutigung und vor allem Verständnis von Seiten der entwickelteren Nationen erhalten.

Teil 3:Heiner Bielefeldt: Zwei Formen des Säkularismus Die Vereinigten Staaten und vergleichbare Länder machen genau diesen Fehler im Hinblick auf muslimische Länder. Ihre Einstellung ist: "Lasst alles im Stich, was ihr bislang geglaubt habt, und springt auf unseren Zug auf." Die meisten Menschen können und wollen so etwas nicht tun. Amerikaner begnügen sich mit statistischen Daten, die zeigen, dass viele junge Menschen in Islamischen Staaten zu Amerika und seinen säkularen Werten aufschauen. Natürlich kommt es vor, dass junge Leute beim Anblick eines hohen Lebensstandards und schöner Dinge einen gewissen Neid empfinden. Aber der Westen sollte sich darüber im Klaren sein, was geschieht, wenn man die Werte von Gesellschaften zerstört, die ihrer Jugend so etwas nicht bieten können. Könnte man sich nicht vorstellen, dass es genau diese Verletzung von Werten, diese Ignoranz gegenüber einem anderen Gerechtigkeitsbegriff ist, die in den letzten Jahren zu Hass und Feindseligkeit geführt hat, und vielleicht sogar zum Terrorismus und den Ereignissen vom 11. September?