Auf Nöldekes Spuren

Der tunesische Intellektuelle Mohamed Talbi gilt als einer der wichtigsten und kritischsten Vordenker der arabischen Welt. In seinem jüngst erschienen Buch geht er mit den traditionell islamischen Religionsgelehrten hart ins Gericht - und plädiert für eine zeitgemäße Leseart des Koran. Rachid Boutayeb stellt Mohamed Talbi und sein jüngstes Buch vor.

Von Rachid Boutayeb

​Mohamed Talbi war einer der Begründer der Universität von Tunis und Anhänger des Republikgründers Habib Bourguibas – des einzigen arabischen Machthabers, der es fertig brachte, den Einfluss des islamischen Konservatismus in seinem Land einzudämmen, um ein laizistisches Regime aufzubauen.

Heute ist Talbi vor allem ein kritischer Intellektueller, der nicht müde wird, den tunesischen Polizeistaat Ben Alis immer wieder an den Pranger zu stellen. In einem offenen Brief hat Talbi, der sich anders als viele andere Regimekritiker nicht für das Exil entschieden hat, Tunesien als einen "Gulag für den Geist" bezeichnet. Ansonsten unterscheidet sich seine Lebenssituation nicht von der anderer arabischer Intellektueller, die sich zwischen den Fronten befinden: zwischen dem Hammer arabischer Diktaturen und dem Amboss des radikalen Islamismus.

Wie alle seine Mitstreiter setzt Talbi sich für einen aufgeklärten, weltoffenen Islam ein und kritisiert das in vielen islamischen Ländern herrschende eindimensionale Denken, das Andersdenkende ausschließt und verurteilt. Die Bedeutung der islamischen Religion heute beschreibt Talbi nüchtern und zugleich einleuchtend: "Religion ist weder eine Identität noch eine Kultur oder Nation. Religion ist eine private Beziehung zu Gott. Wir können Muslime sein und gleichzeitig eine niederländische oder französische oder chinesische Kultur haben."

Vorrang der menschlichen Freiheit

Christliche Kirche und Ibn Khaldoun-Denkmal in Tunis
Christliche Kirche in Tunis: Im Geist des Laizismus tritt Mohamed Talbi für die strikte Trennug von Staat und Kirche ein. Rechts hinter der Palme lauert Ben Ali, autokratischer Herrscher Tunesiens.

​​ Abdou Filali Ansary, ein renommierter marokkanischer Denker, fasst die Grundidee des aktuellen Buches von Mohamed Talbi "Reflektionen eines modernen Muslims", erschienen bisher nur auf Arabisch, in einer zentralen Frage zusammen: Wie können wir heutzutage Muslime sein? Eine Frage, die eine neue Leseart des Koran fordert, um sich der erdrückenden Last der Tradition zu entledigen.

In Wirklichkeit möchte Talbi den Vorrang der menschlichen Freiheit gegenüber der religiösen Überlieferung hervorheben – und deshalb verteidigt er die Idee, dass die Scharia ein Werk von Menschenhand sei, das für alle Muslime nicht verpflichtend sei. Für ihn ist es unabdingbar, die Scharia zu überdenken. Der islamische Glaube basiert ihm zufolge auf der Freiheit – und jede Auslegung, die sich diese Freiheit einzuverleiben versuche, stehe im klaren Widerspruch zum Glauben. Talbi folgt in dieser Hinsicht dem deutschen Orientalisten Theodor Nöldeke, der in seinem epochalen Werk "Geschichte des Korans" hervorgehoben hat, dass jedes religiöse Erbe von seiner Zeit beeinflusst ist und viele Veränderungen durchlebt hat.

Plädoyer für eine historische Leseart des Korans ​​ "Gott spricht nicht nur zu den Toten, sondern auch zu den Lebenden. Und deshalb muss ich sein Wort mit meiner jetzigen Mentalität und im Hinblick auf meine jetzigen Lebensumstände verstehen. Ich schlage eine dynamische Lektüre des Korans und keine starre oder konservative Lektüre vor, die das Wort Gottes tötet", schreibt Talbi.

Talbi strebt damit die Befreiung des Islam von der dogmatischen Interpretation an, die darauf beharrt, dass sie die endgültige Wahrheit besitze. Eine Behauptung, die den Geist "terrorisiert und den Dialog mit dem Anderen im Keim erstickt". Talbi plädiert für eine historische Leseart des Korans, die die Freiheit des Individuums in den Mittelpunkt stellt. Als Beispiel für diese neue Leseart führt er das Problem der Sklaverei an: Der Koran hat die Sklaverei zwar nicht eindeutig verboten; aber wer könne heutzutage die Sklaverei im Namen des Korans verteidigen, fragt Talbi provozierend. Für Talbi hat die Realität die Oberhand und nicht der Wortlaut des heiligen Textes. Deshalb sollten der Ausgangspunkt der modernen koranischen Leseart die Realität und die historischen Bedingungen sein – und nicht die Tradition.

Der Koran als laizistisches Buch?

Talbi kritisiert den Islamismus, und versteht diese Ideologie als ein Machtmittel in den Händen eines "theologischen Totalitarismus". Und er schreckt nicht davor zurück zu betonen, dass der Koran ein laizistisches Buch sei, weil es keine Kirche und keinen Klerus im Islam gebe. Für ihn stellt deshalb jede Interpretation, die behauptet, den Sinn des Korans für immer festlegen zu können, eine Gefahr dar – nicht nur für die Menschen, sondern auch für den wahren Geist dieser Religion.

Vor allem geht Talbi mit jenen traditionellen Islamgelehrten hart ins Gericht, die so genannte "Todesfatwas" gegen die Andersdenkenden erlassen. Seiner Ansicht nach wollen diese Ewiggestrigen damit nicht nur die Menschen in Angst und Schrecken versetzen und ihre individuellen Freiheiten massiv einschränken, sondern sie setzen den islamischen Glauben mit all seiner Vielfalt und seinem Reichtum zu einem Mittel der täglichen Politik herab.

Rachid Boutayeb

© Qantara.de 2008