Wortloses Sehnen

Auf dem Cover seiner neuen CD schaut der deutsch-iranische Musiker Misagh Joolaee aus einem schlichten Fensterrahmen hinaus in die Weite. Sein Blick ist zugleich nach innen wie nach außen gekehrt, fragend und sehnsüchtig. „Unknown Nearness“ ist ein Album, das nicht nur die Spieltechnik auf der Kamancheh revolutioniert, sondern auch die drängenden Fragen des Künstlerdaseins in Musik umsetzt. Von Stefan Franzen

Von Stefan Franzen

Drängende Fragen der Existenz als Künstler haben sich schon im Titel von Misagh Joolaees neuem Album niedergeschlagen. „In dem Titel ‚Unknown Nearness‘ liegt eine Ambivalenz, die sich vor allem auf den Entstehungsprozess der Stücke bezieht“, erläutert der in Berlin lebende Musiker. „Wenn ich etwas Neues schaffe, ist da eine Dringlichkeit und eine Sogkraft, die sich unbekannt und ungewohnt anfühlt, zugleich aber doch nah, denn all das kommt ja aus mir. Du bist ungeduldig, willst diesem Gefühl auf den Grund gehen.“ Und er zitiert den Autor Ferdinand von Schirach, der einmal gesagt hat, ein Künstler könne gar nicht in sich ruhen und endgültige Zufriedenheit spüren, daher suche er nach einem Ausweg, einer Lösung durch sein Schöpfen. Diese Lösung allerdings könne er nie ganz erreichen, sonst stünde er ja still und wolle nicht mehr auf der Suche sein.



Nach seinem letzten, von der Deutschen Schallplattenkritik 2020 prämierten Album „Ferne“ mit dem Perkussionisten Sebastian Flaig, war es eigentlich eine logische Konsequenz für Misagh Joolaee (sprich: dschulei), bei der Auslotung seines Instruments auf den konzentriertesten Ausdruck zurückzugehen, der möglich ist: das Solospiel. Die Corona-Pandemie als Zeit der Isolation hat diesen Schritt noch forciert. Entstanden ist ein Zyklus von zwölf Stücken, die einen Bogen zwischen persischer Tradition und hintergründigen Anklängen an beispielsweise den Flamenco oder Johann Sebastian Bach auffächern, wie er auch unter der Generation junger Musiker mit persischer Provenienz einzigartig sein dürfte.



Der 38-Jährige Misagh Joolee, geboren in der nordiranischen Provinz Mazandaran, erlernte das persische Skalensystem, den Radif, auf der europäischen Geige, bevor er auf die obertonreiche Stachelgeige umstieg. Er hat zugleich ein profundes Wissen in abendländischer Klassik und andalusischen Musikformen, war stets ein Suchender, ein Erneuerer, ohne sich bilderstürmend von der Verankerung in der Tradition losreißen zu wollen. „Meine Denkweise und meine Sprache ist tief im Radif verwurzelt, wenn ich ein Stück in einem bestimmten Modus (Dastgāh) schreibe, dann bediene ich mich automatisch der überlieferten Spielfiguren (Guschehs). Was ich aber an Neuem beisteuere, das liegt im Bereich der von mir erfundenen Spieltechniken und der noch nicht versuchten Rhythmen.“


Das offenbart sich gleich zu Beginn von „Unknown Nearness“: Mit „Origins“, seiner Adaption einer bekannten Melodie aus Mazandaran, imitiert er den Klang der Laleva-Flöte. Das erreichte er im vortastenden Experimentieren, fand schließlich eine unerhörte Kombination von Obertönen und darunter liegendem Tremolo. Und im schnellen Teil entwickelt er verblüffende Virtuosität durch Stakkato-Techniken, die einen mitreißenden, wirbelnden Galopp erzeugen. Diese besondere, wirbelartige Klangcharakteristik hat er vom persischen Hackbrett Santur auf die Kamancheh übertragen, sie begegnete ihm erstmals im Spiel des iranischen Komponisten und Santur-Spielers Parviz Meshkatian.

Der Name Parviz Meshkatian fällt im Gespräch mit Joolaee immer wieder. Er verehrt den 2009 verstorbenen Meister und hat ihm daher auch sein längstes, zentrales Stück auf der CD gewidmet, „Vastness“. „Sein Santur-Spiel ist mir von Kindheit an vertraut, und es hat mich so erfüllt, dass ich mir zunächst gar nicht vorstellen konnte, wie man da noch eins draufsetzen könnte. Das Wort ‚vastness‘ bezieht sich auf seine freien Improvisationen, darauf wie er die verschiedenen Motive miteinander kombiniert und einen großen Bogen mit Höhen und Tiefen aufspannt.“ Joolaee erreicht in dieser zehnminütigen Ausgestaltung eine ähnliche Tiefe, eine ähnliche Innerlichkeit.





 

Den Widerstreit zwischen dieser spirituellen Tiefe und den neuen virtuosen Techniken in ein Gleichgewicht zu bringen, sei ein Spagat gewesen, versichert Joolaee. Man dürfe nie den Fokus auf den Klang verlieren, es sei unabdinglich, jeden einzelnen Ton zu würdigen, sich zu fragen, ob eine virtuose Passage in einem Stück ihre Berechtigung habe. Geholfen hat ihm bei diesem Spagat das Studium eines anderen Vorbildes, den spanischen Gitarristen Paco de Lucia, dem er das Stück „Nightwind“ gewidmet hat, das in einem dem Flamenco entlehnten Rhythmus gipfelt. Ein klassisch ausgebildeter persischer Musiker auf den Spuren des Flamenco? Es ist nicht die erste Brücke, die einem einfallen würde. Doch Joolaee erklärt das schlüssig.

„Aus Flamenco-Formen wie der Soleá, der Taranta oder der Farruca hört man als persischer Musiker sofort Modi wie Schur, Nawā oder Isfahan heraus. Sie haben gemeinsame Wurzeln, und der Begründer der arabo-andalusischen Musik im 9. Jahrhundert in Córdoba, Ziryab, stammte ja aus dem persischen Reich. Als ich mit meinen Flamenco-Kollegen zusammenkam, fiel ihnen auch auf, wie gut dieser rauchige, kratzige Klang der Kamancheh zum Flamenco-Klang passt, viel besser als die Gitarre!“



Diese Unreinheit und Unschärfe, das Brüchige, ja, Gebrochene, das interessiert Misagh Joolaee auch an der menschlichen Stimme. Ihr gibt er in einer bewegenden Gedichtvertonung des großen Poeten Attar (gest. vermutlich 1220) aus dem iranischen Neyschabur mit dem Stück „Deceived Heart“ Raum. Es sind Verse über die Sehnsucht nach der Geliebten, die in eine Sehnsucht nach dem Göttlichen mündet.



Und hier schließt sich der philosophische Bogen: Die Suche nach dem Höheren, sie kann im Laufe eines Lebens nie zu Ende sein. Joolaee hat diese Erkenntnis in einem weiteren Paar von Stücken wie in einem Brennspiegel eingefangen, „Thrownness“ und „Longing“: Wie der Bogen da auf die Saiten fällt, ist er wie ein motorisches Abbild für die „Geworfenheit“ des Menschen in seine Existenz, so hätte es Heidegger formuliert. Für die Zwangsläufigkeit, mit der der Mensch sein Leben annehmen muss, und die daraus entspringende Sinnfrage: Was nun? Die Antwort auf diese Frage ist ein unerfülltes Sehnen, das sich am besten wortlos ausdrücken kann. Und dafür ist Misagh Joolaees Kamancheh ein besonders schönes Vehikel.

Stefan Franzen

© Qantara.de 2021

CD: „Unknown Nearness“ (erhältlich über https://pilgrims-of-sound.com/)