Das Recht, anders zu sein

Der Verfassungsschutz stellt Mitglieder der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs unter Generalverdacht - und grenzt sie damit unnötig aus, meint Werner Schiffauer.

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Im Visier des Verfassungsschutz: Die Fatih Moschee in Bremen soll von der als extremistisch eingestuften Milli Görüs betrieben werden.

​​Am 20. Juli 2004 erhielt Osman Karabey (Name von der Redaktion geändert) einen vom 19. Juli datierten Brief vom Regierungspräsidium Darmstadt, in dem ihm mitgeteilt wurde, seine Einbürgerung vom 6. Januar 2004 werde erneut überprüft.

Offenbar sei er Funktionär der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs. Die IGMG sei eine Vereinigung, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland agitiere - ein Funktionär dieser Vereinigung müsse sich die verfassungsfeindlichen Ziele der IGMG zurechnen lassen.

Karabeys Erklärung, er würde niemals Bestrebungen verfolgen oder unterstützen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung der Bundesrepublik gerichtet seien, sei offensichtlich falsch gewesen.

Wenn es nach dem niedersächsischen Innenminister geht, wird Karabey zusammen mit 28 000 anderen IGMG-Mitgliedern von Januar 2005 an in der neuen Datei zur Bekämpfung des islamistischen Extremismus und Terrorismus geführt werden.

Dies ist kein Einzelfall. Mitglieder der Islamischen Gemeinde Milli Görüs müssen inzwischen damit rechnen, bei Moscheebesuchen polizeilich kontrolliert zu werden. Ihnen kann passieren, dass die Polizei dem Arbeitgeber mitteilt, der Kollege gehöre einer extremistischen Vereinigung an.

Vorwürfe des Verfassungsschutzes

Grundlage dieser Einschätzung sind die Verfassungsschutzberichte des Bundes und der Länder. Die IGMG wird vom Verfassungsschutz als Vertreter eines "legalistischen Islamismus" eingestuft.

Anders als bei den terroristischen oder revolutionären Varianten des Islamismus wird angenommen, dass diese Gemeinden sich an die Gesetze halten und dass von ihnen keine Gewaltgefahr ausgeht.

Ihnen wird aber vorgehalten, dass sie "mit politischen Aktivitäten islamistische Positionen auch im gesellschaftlichen Leben der Bundesrepublik Deutschland durchsetzen, mindestens aber Freiräume für organisierte islamistische Betätigung in Deutschland erlangen wollten".

Stadtverwaltungen, Finanzämter und Gerichte können diese Einschätzungen des Verfassungsschutzes im Einzelfall kaum überprüfen. Das verschafft dem Verfassungsschutz erhebliche Macht. Auch ohne ein entsprechendes Gesetz oder Verfassungsgerichtsurteil kann selbst eine gesetzestreue Organisation ausgegrenzt werden.

Fragwürdige Belege

Wie problematisch dieses Verfahren ist, zeigt sich bei einer kritischen Lektüre der Verfassungsschutzberichte. Zu finden sind dort erschreckende Übersetzungs- und Wiedergabefehler, Verdrehungen und sinnentstellende Zitate, aus denen dann weitreichende Folgen abgeleitet werden.

In der Broschüre Islamismus in Nordrhein-Westfalen (Düsseldorf 2001) wird das Wort batil (Türkisch: falsch, unsinnig, unrichtig, irregeleitet) offenbar mit dem Wort bati (Westen) verwechselt und mit "Imperialismus" übersetzt. Damit wird eine religiöse Aussage politisch zugespitzt.

Die Verfasser der Broschüre schließen daraus, dass hier die pluralistisch säkulare Gesellschaft als Feindbild aufgebaut und frommen Muslimen suggeriert werde, sie verlören ihre islamische Identität, wenn sie sich nicht von der verderbten westlichen Gesellschaft abgrenzten.

Die Werte, welche die IGMG angeblich jugendlichen Mitgliedern vermittelt, werden in der gleichen Publikation mit einem sehr drastischen Zitat belegt, in dem es unter anderem heißt, dass Muslime Frauen bei Ungehorsam "leicht schlagen dürften". Als Quelle wird Temel Bilgiler (Grundwissen 2) angegeben, ein Begleitbuch für türkische Sommerkurse.

In dem gesamten Buch findet sich jedoch kein derartiges Zitat: Stattdessen wird der Dialog in der Familie als islamisches Ideal beschworen. Im Verfassungsschutzbericht von Niedersachsen 2002 heißt es, der frühere IGMG-Vorsitzende Mehmet Sabri Erbakan habe Muslimen nahe gelegt, eine Parallelgesellschaft zu bilden.

Doch in der Rede taucht das Wort Parallelgesellschaft (oder ein verwandter Begriff) an keiner Stelle auf. Nicht nur das: Erbakan fordert seine Zuhörer auf, sich an der offenen Gesellschaft zu beteiligen und die Werte, Überlieferungen und Sprache des Landes, in dem sie leben, zu erlernen.

Zitate aus dem Zusammenhang gerissen

Der Verfassungsschutzbericht 2001 von Baden-Württemberg kritisiert, dass die Schriften von Emine Senlikoglu auf den Büchertischen der IGMG ausliegen, weil die Autorin sich nicht scheue, "die Todesstrafe für die Kritiker ihrer Islaminterpretation zu billigen, ja zu fordern".

An der angegebenen Stelle bei Senlikoglu findet sich eine erbauliche Heiligenvita aus dem achten Jahrhundert, in der am Schluss ein Glaubenswidersacher ermordet wird.

Der Inhalt der Geschichte dreht sich aber nicht etwa darum, wie man heute mit Sektierern umzugehen habe, sondern es handelt sich vielmehr um die Auseinandersetzung mit einer theologischen Frage.

Im Verfassungsschutzbericht der Stadt Hamburg 2002 wird der Vorwurf, die Aufrufe der Führungsspitze der IGMG zu gesellschaftlicher Offenheit seien bloße Lippenbekenntnisse, mit einer Bemerkung des Arztes Mustafa Yoldas belegt:

"Deutsche verlangen von einem, dass man sich die Haare blond färbt, blaue Kontaktlinsen trägt und nach der Arbeit in der Kneipe sitzt, Schweinefleisch isst, Bier säuft und Ausländer raus ruft."

Mit diesem Satz, so der Bericht, habe Yoldas berechtigte Sorgen über Antisemitismus in der Gemeinde abgewehrt. Im Interview aber steht das inkriminierte Zitat unmittelbar nach diesem Satz:

"Gemeindeangehörige ... , werden [von der IGMG] ermutigt, Deutsch zu lernen und die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen." Also: Integration ja, Assimilation nein. Ist das verfassungsfeindlich?

Auch jenseits dieser offensichtlichen Fehler ist die Darstellung tendenziös und unausgewogen. Fakten, die in das vorgefasste Bild einer verfassungsfeindlichen, straff gegliederten Organisation passen, werden angeführt. Andere werden dagegen einfach übergangen.

Ausführlich dargestellt werden beispielsweise antizionistische und antisemitische Äußerungen, die aus dem Umkreis der türkischen Schwesterorganisation (der Saadet Partisi unter der Führung von Necmettin Erbakan) stammen - keine Erwähnung findet dagegen, dass Milli Görüs Europa in Presseerklärungen antisemitische Ausschreitungen verurteilt oder dass Moscheegemeinden jüdische Gemeinden während des Ramadans zum abendlichen Fastenbrechen einladen.

Bei Fakten, die unterschiedliche Interpretationen zulassen, wird oft die problematischste Interpretation gewählt. So wirbt die IGMG für die Annahme der deutschen Staatsbürgerschaft.

Der bayerische Verfassungsschutzbericht betrachtet das als Aufforderung zur Unterwanderung. Dass die IGMG sich nach dem 11. September kritisch zum islamischen Terrorismus äußerte, wurde nicht als Distanzierung verstanden, sondern als taktisches Manöver, um dem Organisationsverbot zu entgehen (so der Verfassungsschutzbericht Nordrhein-Westfalen von 2002).

Die IGMG bietet umfangreiche Freizeit- und Weiterbildungsmöglichkeiten - aber das wird damit erklärt, es gehe der IGMG darum, "Kinder und Jugendliche vom Einfluss der westlichen Gesellschaft" fern zu halten. Unerwähnt bleibt, dass die IGMG in ihren Moscheen flächendeckend Nachhilfeunterricht anbietet, gerade um die Jugendlichen in die höheren Schulen zu bringen.

Islamische Gemeinde im Umbruch

Sozial- und Religionswissenschaftler, die sich mit der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs beschäftigen, kommen zu einer ganz anderen Einschätzung als der Verfassungsschutz. Sie sehen in der IGMG eine Gemeinde im Umbruch, in der neben alten Islamisten eine Generation von Erneuerern hochkommt.

Diese jungen Mitglieder wollen als rechtgläubige Muslime in dieser Gesellschaft leben. Weder wollen sie deren islamische Umgestaltung, noch wollen sie eine Parallelgesellschaft aufbauen. Diese Generation kämpft für ihr Recht auf Differenz in dieser Gesellschaft.

Sie will mit dem Kopftuch den Marsch durch die deutschen Institutionen antreten - aber sich gerade nicht aus dieser Gesellschaft zurückziehen. Die Erneuerer sind keineswegs eine Randgruppe in den Gemeinden.

Vielmehr haben sie seit Jahren führende Rollen übernommen. In diesem Wechsel an der Spitze sehen manche Sozialwissenschaftler eine Chance, den Islamismus in der Gemeinde von innen heraus zu überwinden.

Diese Entwicklung in den Gemeinden der Milli Görüs scheinen die Verfassungsschutzämter der Länder nicht mitbekommen zu haben.

Kritik an den von ihnen zitierten Belegen beantworten Verfassungsschützer gern mit dem Verweis auf "andere Quellen, die sie leider nicht preisgeben dürften, ohne sie zu gefährden" - mit anderen Worten: auf Informanten. Doch als Quelle von Einschätzungen über Weltbilder und Auffassungen sind Informanten von zweifelhaftem Wert.

Werner Schiffauer

© DIE ZEIT, 18. November 2004

Werner Schiffauer lehrt Kultur- und Sozialanthropologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder. Von ihm erschien zuletzt »Die Gottesmänner. Türkische Islamisten in Deutschland« (Suhrkamp Verlag 2000).