Die wahren Feinde des Arabischen Frühlings

Damit die Menschen in der arabischen Welt sich aus dem Joch der Militärherrschaft befreien können, muss ein neues Gleichgewicht zwischen den politischen und gesellschaftlichen Kräften und dem Militär gefunden werden. Doch auch Jahre nach dem Arabischen Frühling scheint dieses Ziel in weiter Ferne. Von Ali Anouzla

Essay von Ali Anouzla

In mehr als einem arabischen Land wird derzeit die Macht von einem Militärherrscher zum nächsten weitergereicht. Auch wenn es oberflächlich gesehen von Fall zu Fall Unterschiede gibt, bleibt das Prinzip das gleiche. Von Algerien über den Sudan, Mauretanien und Libyen bis nach Ägypten wiederholt sich dies nun seit einem halben Jahrhundert immer wieder.

Dass sie das Militär dazu gebracht haben, öffentlich Stellung zu beziehen und sich als der wahre Herrscher über das Land zu erkennen zu geben, war wohl der größte Erfolg der jüngsten Proteste in Algerien. Nach der Absetzung Abdelaziz Bouteflikas und seiner Entourage gilt jetzt der Oberbefehlshaber der Armee, Ahmed Gaid Salah, als der starke Mann im Staat.

In Wahrheit herrschten die Militärs jedoch die ganze Zeit über Algerien. Sie waren es, die als "Präsidenten-Macher" vor zwanzig Jahren Abdelaziz Bouteflika aus seinem Exil in den Emiraten zurückholten und ihn als ewigen Herrscher über das algerische Volk installierten und von da an aus dem Hintergrund mitregierten.

Im Sudan taktiert unterdessen nach dem Sturz Omar al-Baschirs der Militärrat, sozusagen der verlängerte Arm seines Regimes, um nicht auf die Forderungen der zivilgesellschaftlich getragenen Revolutionsbewegung eingehen zu müssen. Stattdessen arbeitet er an einer Neuauflage der alten Militärherrschaft, die seit der Unabhängigkeit des Sudan vor etwas mehr als sechzig Jahren die Macht im Land hat.

In Mauretanien gestaltet sich die Lage noch eindeutiger: Der selbst durch einen Militärputsch an die Macht gekommene General Mohamed Abdel Aziz will die Regierungsverantwortung mittels höchst fragwürdiger Wahlen an seinen Verteidigungsminister General Mohamed Ghazouani übergeben, damit die Macht in den Händen des Militärs bleibt.

Im Würgegriff der Generäle

Und um Libyen steht es noch schlimmer: Dort versucht ein pensionierter General, Khalifa Haftar, sich mit Waffengewalt zum Herrscher zu machen, ganz im Stile des Tyrannen Muammar al-Gaddafi, der über vier Jahrzehnte lang die libysche Bevölkerung unterjocht hatte.

"Haftar ist ein Kriegsverbrecher" - Plakat in der libyschen Hauptstadt Tripolis im Mai 2019; Foto: picture-alliance/dpa
„Ganz im Stile des Tyrannen Muammar al-Gaddafi“: Der libysche General Khalifa Haftar hatte Anfang April eine Offensive auf die libysche Hauptstadt Tripolis gestartet, wo die international anerkannte Einheitsregierung ihren Sitz hat. Regierungstreue Truppen und Einheiten Haftars liefern sich seither erbitterte Kämpfe um die Kontrolle der Hauptstadt.

Und Ägypten? Am Nil hat das Militär, das seit dem Putsch 1952 über das Land herrscht, nicht nur die Politik fest im Griff. Es kontrolliert ein riesiges Wirtschafts- und Medienimperium, das den Staat quasi in der Hand hat und jedes Detail in der Gesellschaft bestimmt und steuert.

Insgesamt gibt die Lage ein äußerst düsteres Bild ab. Das gilt umso mehr angesichts dessen, dass es innerhalb der politischen Kräfte in diesen Ländern Fraktionen gibt, die nach wie vor glauben, dass das Militär die Rolle eines gesellschaftlichen Motors für neue Revolutionen übernehmen könnte – sogar unter den Revolutionären selbst. Und das, obwohl es das Militär ist, das seit mehr als einem halben Jahrhundert über die arabischen Staaten herrscht und ihre Gesellschaften im Würgegriff hat.

Die Vorstellung von der "Unantastbarkeit" der Armee, die als Hüter über Gesellschaft, nationale Einheit und territoriale Integrität hohes Ansehen genießt, ist in der arabischen Welt weit verbreitet und fest im kollektiven Bewusstsein verankert.

Der verblichene Mythos des Militärs

Aber als die Menschen in den vergangenen sieben Jahren in Syrien, Libyen, Ägypten und dem Jemen auf die Straße gingen, um ihr Recht auf Selbstbestimmung einzufordern, ist dieser Mythos vor aller Augen in sich zusammengefallen. Denn alle diese Staaten wurden und werden immer noch von Militärregimen regiert, die nicht zögern, alles zu opfern, um an der Macht zu bleiben, selbst wenn dann nur noch Ruinen bleiben, über die sie herrschen können.

Es ist an der Zeit, der mythisch aufgeladenen Verehrung des Militärs in der arabischen Welt ein Ende zu setzen. Die gesellschaftspolitische Rolle der Armee als Hüterin der Nation muss gegenüber ihrer Funktion als Institution zum Schutz des Landes und seiner Bevölkerung zurücktreten.

Als Erstes gilt es, den Blick der Menschen auf das Militär zu ändern und ihm die Aura des "Heiligen" zu nehmen, in die es sich selbst hüllt. Dazu müssen Diskussionen über die Rolle des Militärs im Staat angestoßen und dessen aufgeblähtes Budget der Kontrolle demokratisch gewählter Parlamente unterworfen werden. Genauso bedarf es einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Kauf unnötiger Waffensysteme, die meistens gar nicht zum Einsatz gelangen.

Und wenn doch auf sie zurückgegriffen wird, dann nicht selten gegen die eigene Bevölkerung. Vielfach werden die Verträge nur geschlossen, um politische Unterstützung für die herrschenden Regime zu erkaufen oder mit den Waffen zu prahlen. So zum Beispiel in den Golfstaaten, die sich ein Wettrüsten liefern und moderne, teure Waffensysteme erwerben, um sie dann in Abu Dhabi oder Riad zur Schau zu stellen.

Der marokkanische Autor und Publizist Ali Anouzla; Foto: AFP/Getty Images
Ali Anouzla ist marokkanischer Autor und Journalist sowie Leiter und Chefredakteur der Website "lakome.com". Er hat mehrere marokkanische Zeitungen gegründet und redaktionell geleitet. 2014 erhielt er den Preis "Leaders for Democracy" der amerikanischen Organisation POMED (Project on Middle East Democracy).

Der verheerende Krieg im Jemen beweist jedoch gerade, dass die Armeen beider Länder gar nicht in der Lage sind, diese Waffen zu ihrem Vorteil einzusetzen: Weitaus schlechter ausgerüstete Milizen fügen ihnen Verluste zu, die man angesichts der äußerst ungleichen Bewaffnung der Konfliktparteien für unmöglich gehalten hätte.

Die Armee von ihrem hohen Sockel heben

Der demokratische Transformationsprozess beginnt mit der Findung eines neuen Gleichgewichts im Staat zwischen den politischen und gesellschaftlichen Kräften und dem Militär. Die Armee muss von ihrem hohen Sockel gehoben werden und sich auf ihren eigentlichen Auftrag – den Schutz des Landes – besinnen. Darüber hinaus müssen ihr gesetzlicher Handlungsspielraum im Inland und ihre verfassungsmäßige Rolle in Staat und Gesellschaft präzise definiert werden.

Viele arabische Staaten standen oder stehen immer noch unter dem Joch jener Militärs, die einst an der Spitze eines Putsches standen. Wie in Ägypten und Mauretanien richteten sie sich in manchen Fällen gegen gewählte Regierungen. Und wie in Algerien und dem Sudan entwickelten sich die Regime vielfach zu Oligarchien, in denen opportunistische Eliten und korrupte Geschäftsmänner die Gesellschaft fest im Griff haben, sich bereichern und die Hoffnungen und Träume der Menschen zerstören.

Die Zeit ist reif, um den Platz des Militärs im politischen und gesellschaftlichen Gefüge der arabischen Staaten kritisch zu hinterfragen und seine Stellung vor dem Hintergrund der jüngsten Entwicklungen in der arabischen Welt neu zu bewerten. Denn in diesen kommt dem Militär eine zentrale Rolle zu. Es kontrolliert nach wie vor das Schicksal der Menschen, die schon seit Jahrzehnten unter seiner Herrschaft leiden. Trotzdem betrachten sie die Armee immer noch als Erlöser und Retter – und darin besteht die eigentliche Tragik!

Ali Anouzla

© Qantara.de 2019

Aus dem Arabischen von Thomas Heyne