Das Sterben des Patriarchats

Houellebecq vollendet mit seinem neuesten Roman sein literarisches Konzept, indem er wieder einmal von Männern im Patriarchat erzählt. Die Überraschung wartet in der Danksagung. Von Christine Lehnen

Von Christine Lehnen

"Vernichten" ist der Titel des neuen Romans von Michel Houellebecq - "Anéantir" im Französischen. Das passt gut: "s'anéantir" bedeutet "sich selbst vernichten", aber auch "verschwinden". Der französische Starautor erzählt in seinem jüngsten Roman von einer verschwindenden europäischen Gesellschaft, deren letztes Aufbäumen wir seit einem Jahrzehnt im Erstarken rechtspopulistischer und rechtskonservativer Parteien erleben.

Die Handlung spielt über weite Strecken im französischen Präsidentschaftswahlkampf des Jahres 2027. Im Wirtschaftsministerium arbeitet man daran, dem Wirtschafts-, Finanz- und Haushaltsminister Bruno Juge zum Präsidentenamt zu verhelfen. Paul Raison, die eigentliche Hauptfigur des Romans, unterstützt die Bemühungen tatkräftig, während er die eingeschlafene Beziehung zu seiner Frau Prudence wieder aufleben lässt. Bis eine Krankheit sein Leben umwirft. Ein bisschen Spionagethriller ist auch noch mit dabei; an Spannung mangelt es Houellebecqs Romanen nie. Da ist "Vernichten" keine Ausnahme.

Spätestens seit seinem Bestseller "Unterwerfung" ist Michel Houellebecq berühmt als provokanter politischer Autor, der mit seinen Romanen das Zeitgeschehen analysiert. Auch "Vernichten" ist das Porträt einer Epoche, die im Verschwinden begriffen ist - einer Epoche, in der Männer die unangefochtene Deutungshoheit über das Leben und die Gesellschaft innehatten.

Da denkt ein Mann in "Vernichten" weit über eine Seite lang über die Entscheidung seiner unfruchtbaren weißen Schwägerin nach, durch künstliche Befruchtung ein schwarzes Kind zu bekommen. Dass er das unmöglich findet, überrascht kaum; dass er sich dann die Fantasie zurechtlegt, sie habe das möglicherweise nur getan, um ihren ebenfalls weißen Ehemann (seinen Bruder) zu demütigen, ist ein Beispiel für Houellebecqs Darstellung von dem, was zurzeit unter "toxischer Maskulinität" geführt wird: Männer, die Frauen als Feinde betrachten, die Ehe als Gefängnis, Kinder als Last und Schwarze als minderwertig. Kurz gesagt: Männer, die noch immer die Emanzipation von Frauen und Menschen mit anderer Hautfarbe beklagen und rasch zur Flasche greifen, wenn sich ein Gefühl in ihnen regt.

Weder Illusionen noch persönliches Glück

Entsprechend freudlos ist ihre Existenz - und daraus macht Houellebecq keinen Hehl. Seine männlichen, weißen Figuren, um die es sich in all seinen Büchern letztendlich dreht, sind stets jämmerlich. Er erspart ihnen keine Demütigung und keine Schwäche, er erlaubt ihnen weder Illusionen noch persönliches Glück. 

Buchcover von Michel Houellebecqs "Vernichtung" Dumont Verlag 2022; Quelle: Verlag
"Houellebecqs Romane bieten den Eskapismus, den Frankreichs rechtsnationale Konservative so dringend brauchen,“ schreibt Christine Lehnen, “denn das Land steht, wie andere europäische Demokratien, längst in einer neuen Gegenwart, in der auch Frauen und Menschen nicht-weißer Hautfarbe politische Macht beanspruchen und die Geschlechter - nicht nur männliche und weibliche - sich auf Augenhöhe begegnen möchten. Das macht manchen Angst.“



So ergeht es auch seiner Hauptfigur Paul: In genau dem Moment, in dem Paul endlich die Liebe für Prudence wiederentdeckt, wird bei ihm Zungenkrebs diagnostiziert, mit der Ansage: entweder wird die Zunge herausoperiert oder er stirbt. Wenig überraschend entscheidet er sich dafür, lieber sein Leben zu verlieren als seine Zunge. Seiner Frau erzählt er natürlich nicht, dass er eine größere Überlebenschance hätte, wenn er sich operieren ließe; ihre Aufgabe ist es, sich aufopferungsvoll zu kümmern, während er entschwindet.

Der homosexuelle französische Autor Édouard Louis beschreibt übrigens ähnliche Männer wie Michel Houellebecq, genau wie die französisch-marokkanische Schriftstellerin Leïla Slimani.

Im Gegensatz zu Houellebecq erkennen Louis und Slimani aber, dass es gesellschaftliche Strukturen sind, die den Männern zusetzen, zum Beispiel Armut, Rassismus, Kolonialismus und soziale Ungleichheit.

Bei Houellebecq hingegen liegt das Unglück seiner Figuren in der Natur der Menschen begründet, die sich in seinen Büchern tummeln: Die Männer sind sexgetrieben und fühlen sich ungerecht unterjocht (obwohl sie die größtmögliche finanzielle und politische Macht innehaben), die Frauen möchten eigentlich doch im Herzen am liebsten zu Hause sein, Kinder großziehen und sich aufopferungsvoll um kranke Familienmitglieder kümmern. Geschlechter dazwischen, daran möchten seine Bücher am liebsten gar nicht denken.

Eskapismus für Frankreichs Rechtsnationale

Die Fiktionen in Houellebecqs Büchern gehören einer Vergangenheit an, der manche noch wehmütig nachweinen. Diese Nostalgie wird im französischen Präsidentschaftswahlkampf 2022 prominent vertreten sein, sowohl durch die rechtspopulistische Marine le Pen, als auch von dem radikalen Kandidaten Éric Zemmour, der im Grunde verspricht, Frankreich zurück in die vermeintlich so glorreichen 1960er Jahre zurückzuführen.

Manchem gefällt so etwas. So berichtet Euronews, dass ein Kunde in einer Pariser Buchhandlung dieser Tage über Houellebecq sagt: "Er ist ein weißer heterosexueller Mann, so was brauchen wir heute, das ist echte Literatur, ehrlich, aufrichtig."

 



 

Houellebecqs Romane bieten den Eskapismus, den Frankreichs rechtsnationale Konservative so dringend brauchen - denn das Land steht, wie andere europäische Demokratien, längst in einer neuen Gegenwart, in der auch Frauen und Menschen nicht-weißer Hautfarbe politische Macht beanspruchen und die Geschlechter - nicht nur männliche und weibliche - sich auf Augenhöhe begegnen möchten. Das macht manchen Angst.

Warum Houellebecq trotz Provokationen und Tabubrüchen so große Erfolge feiert, liegt in seinem Angebot an die Leserinnen und Leser: Seine Geschichten erlauben es, in den Kopf eines Menschen zu schlüpfen, dem eine gleichberechtigte Gesellschaft Angst macht, und der lieber einsam wäre, als sich einem ebenbürtigen Menschen zu öffnen.

"Vernichten" wird Houellebecqs letzter Roman bleiben, so kündigt es der Autor in der Danksagung an: "Ich bin glücklicherweise gerade zu einer positiven Erkenntnis gelangt; für mich ist es Zeit aufzuhören." Das mag traurig stimmen, wie zum Beispiel die Autorin und Houellebecq-Biografin Julia Encke in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die fragt: "Er will aufhören? Jetzt? Warum?"

Dabei liegt die Antwort auf der Hand. Michel Houellebecq weiß, wann es Zeit ist, die Bühne zu verlassen. In unzähligen Romanen hat er sein Anliegen erfüllt: die Einsamkeit der männlichen Existenz im Patriarchat in der Literatur zu verewigen. Das ist ihm gelungen. Man möchte nur noch eines rufen: Bravo! – und Adieu.

Christine Lehnen

© Deutsche Welle 2022

Michel Houellebecq, "Vernichten“, Roman, Dumont-Verlag 2022, 624 Seiten