Die Verhaftungswelle ist eine alarmierende Entwicklung in einem Land, das mit den gesundheitlichen, wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Pandemie genug zu kämpfen hat. Anfang Oktober ließ die indische Regierung die Konten von Amnesty International in Delhi einfrieren und zwang die Organisation, ihre Aktivitäten im Land einzustellen.
Die Anschuldigung, gegen Regeln für den Transfer von Geldern aus dem Ausland verstoßen zu haben, weist Amnesty International vehement zurück. Vielmehr mahnt die Organisation, dass sie und etliche andere Menschenrechtler wegen ihrer Kritik an der Regierung zunehmenden Repressalien ausgesetzt seien.
Gefahr für die akademische Freiheit
Babu ist, wie viele der Verhafteten, in seinem Fachgebiet eine hoch angesehene Persönlichkeit. Als Angehöriger einer muslimischen Minderheit aus dem südlichen Bundesstaat Kerala (Moplah) gehört er zur ersten Generation der sogenannten übrigen rückständigen Kasten (other backward castes), die im Rahmen des nationalen Antidiskriminierungsprogramms zu Hochschullehrern berufen wurden.
Als Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft forschte er zwischen 1997 und 2000 an der Universität Leipzig und war danach eine Zeit lang als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Konstanz tätig.
Er hat sich aktiv öffentlich zu Fragen der gesellschaftlichen Teilhabe und der Diskriminierung aufgrund der Kastenzugehörigkeit an den Universitäten geäußert. Als Sekretär des Akademischen Forums für soziale Gerechtigkeit setzte er sich im Hochschulbereich für die in der Verfassung verankerte Quote für Angehörige historisch benachteiligter Kasten und Gemeinschaften ein und machte auf ihre mangelnde Umsetzung aufmerksam.
Seine Kritik richtete sich nicht nur gegen die regierenden hindu-nationalistischen Kräfte, sondern auch gegen die traditionelle indische Linke, die seiner Ansicht nach stillschweigend von Kastenprivilegien profitiert hat und das Thema Kastenwesen weitgehend vernachlässigt hat. Er hat sich auch aktiv gegen die Inhaftierung anderer Intellektueller, insbesondere solcher aus marginalisierten Gemeinschaften, engagiert.
Kaschmir: Leben mit der Ausgangssperre
Seit die Führung in Neu Delhi Anfang August den ehedem in der indischen Verfassung festgelegten Sonderstatus mit Autonomierechten für den Bundesstaat Jammu und Kaschmir aufhob, gelten im indischen Teil Kaschmirs strenge Auflagen wie gesperrte Telefonnetze und Internetzugänge sowie eine Ausgangssperre. Von David Ehl
Besonderer Bundesstaat: Jammu und Kaschmir ist der einzige indische Bundesstaat, in dem die Mehrheit der Bevölkerung dem Islam angehört. Seit seiner Unabhängigkeit 1947 begreift Indien sich als Vielvölkerstaat. Dieses Selbstverständnis verschiebt sich jedoch in Richtung eines hinduistisch geprägten Nationalstaats: Narendra Modis hindu-nationalistische BJP dominiert die Politik, im Mai wurde sie erneut stärkste Kraft.
Unter Hausarrest: Seit dem 5. August gilt eine Ausgangssperre für die Menschen in der indischen Provinz Jammu und Kaschmir. Die Zentralregierung hat sie verhängt, weil sie einen Aufstand gegen eine weitreichende Entscheidung befürchtet: Die hindu-nationalistische Regierung hat der mehrheitlich muslimischen Region ihren Sonderstatus entzogen und so ihre Kontrolle über den Bundesstaat ausgeweitet.
Stille Post: Zusätzlich gilt eine umfassende Informationssperre: Internet- und Telefonleitungen sind tot, nur bei manchen Behörden kann man mit Glück kurz telefonieren. Viele haben seit Beginn der Ausgangssperre nichts mehr von ihren Angehörigen gehört. Immerhin erscheinen, wenn auch unter widrigen Bedingungen, noch eine Handvoll lokaler Zeitungen - die sind dann rasch ausverkauft.
Hinter Gittern: Nicht alle Kaschmiris sitzen zu Hause, so wie diese Familie in Srinagar. Die Polizei vermeldete vergangene Woche 300 Festnahmen, zum Teil als "Präventivmaßnahme". Gerüchte sprechen von 500 Festgenommenen, wie Reuters berichtet. Aktivisten verbreiteten ein Video eines 11-jährigen Jungen, der von angeblicher Polizeigewalt in Gewahrsam berichtet - und von noch jüngeren Festgenommenen.
Tränen der Verzweiflung: Jameela, die Mutter des 28-jährige Koranlehrers Irfan Ahmad Hurra, berichtet unter Tränen, ihr Sohn sei am 5. August festgenommen worden. "Ich weiß nicht, was ihm vorgeworfen wird. Wir wissen nicht, wo er ist." Sie sagte, er sei krank und benötige Medikamente. Schon in der Vergangenheit war Hurra laut seiner Familie in Gewahrsam, weil ihm Unruhestiftung und Sachbeschädigung vorgeworfen wurde.
Soldat müsste man sein...: Während die indischen Soldaten sich frei bewegen können, dürfen die mehr als vier Millionen Einwohner des Kaschmirtals offiziell nicht einmal zum Einkaufen in die Stadt. Die indische Armee ist in der Region schon lange sehr präsent, in den Tagen vor der Ankündigung wurden noch einmal mindestens 10.000 zusätzliche Soldaten in den Kaschmir verlegt.
Alltag im Ausnahmezustand: Fotos wie dieses erwecken einen Anschein von Normalität trotz der Blockade. Die meisten Bewohner der Region haben solche Ausgangssperren schon mehrfach erlebt, zum Beispiel 2008, 2010 und 2013. Damals gab es Massenproteste gegen die indische Regierung, die mit Ausgangssperren reagierte - jedoch noch nie so umfangreich wie heute: Das Telefon-Festnetz ist zum ersten Mal abgeschaltet.
Wann kommen die Kunden? Eigentlich ist die Provinzhauptstadt Srinagar mit einer Million Einwohnern ein belebter Ort. Doch wegen der Ausgangssperre bleiben nicht nur diesen Bäckern die Abnehmer für ihre Ware weg. Nur für das vergangene islamische Opferfest durften die Bewohner umfangreicher einkaufen gehen. Die Ausgangssperre führt zu Versorgungsengpässen, auch bei Medikamenten.
Unmut hinter verschlossenen: Toren Korrespondenten, die mit der lokalen Bevölkerung sprechen können, berichten von steigendem Unmut. Sätze wie "wir werden gegen Indien kämpfen" fallen. Viele Menschen tauschen Informationen darüber aus, an welchen Orten Aufstände stattfinden könnten. In der Region gibt es schon lange bewaffnete Rebellen, die für ein freies Kaschmir kämpfen. 2018 wurden 256 von ihnen getötet.
Besonderer Bundesstaat: Jammu und Kaschmir ist der einzige indische Bundesstaat, in dem die Mehrheit der Bevölkerung dem Islam angehört. Seit seiner Unabhängigkeit 1947 begreift Indien sich als Vielvölkerstaat. Dieses Selbstverständnis verschiebt sich jedoch in Richtung eines hinduistisch geprägten Nationalstaats: Narendra Modis hindu-nationalistische BJP dominiert die Politik, im Mai wurde sie erneut stärkste Kraft.
Neu-Delhis langer Arm: Während die Kaschmiris zu Hause ausharren, müssen sie befürchten, dass ihre Region sich nun verändert und sie womöglich zur Minderheit werden: Der von der BJP-Regierung abgeschaffte Sonderstatus verhinderte, dass Investoren aus dem Rest des Landes sich im Kaschmir niederließen. Tage vor der Bekanntgabe wurden Hindus zwar aus der Region gebracht, langfristig könnten sie die Region jedoch prägen.
Droht Kaschmir neue Gewalt? Die Kinder, die bei diesen Soldaten stehen, haben nur Spielzeugpistolen - aber in der Region ist die Angst vor echter Waffengewalt groß: Pakistan, das ebenfalls Ansprüche auf die gesamte Kaschmir-Region erhebt, sieht eine "Gefahr für den Weltfrieden". Deshalb hat der dritte Anrainer, die Volksrepublik China, auf Bitte Pakistans nun das Thema im UN-Sicherheitsrat eingebracht.
Seit der Verhaftung haben hunderte von ehemaligen und gegenwärtigen Studierenden von Hany Babu auf Online-Plattformen ihre Stimme erhoben und seine Freilassung gefordert. Einige dieser Studierenden wurden ebenfalls festgenommen, verhört und mit Verhaftung und anderen Repressalien bedroht.
Internationaler Druck nötig
"Öffentliche Empörung ist oft nur denjenigen Verstößen vorbehalten, die das Potenzial haben, die herrschenden Machtstrukturen zu treffen", schreibt Hany Babu in einem 2015 veröffentlichten Artikel, in dem er analysiert, warum manche Arten von Diskriminierung aufgrund der Kastenzugehörigkeit mehr öffentliche Aufmerksamkeit erhalten als andere. Seine Thesen sind angesichts der heutigen Situation, in der sich Babu und etliche andere Akademiker befinden, besonders zutreffend.
In den nächsten Wochen soll eine Anhörung stattfinden, die klärt, ob Babu auf Kaution freikommt. Da die Anklageschrift über 10.000 Seiten umfasst und mehrere Fälle betrifft, wird sich das Verfahren in die Länge ziehen. Derzeit ist ein entscheidender Moment für die internationale Gemeinschaft, das zunehmend autoritäre und undemokratische Vorgehen der indischen Regierung zu verurteilen.
Auch Deutschland, einer der wichtigsten ökonomischen Partner Indiens, könnte seinen Einfluss nutzen und offiziell die sofortige Freilassung aller politischen Gefangenen in Indien fordern. Die Einschränkungen der akademischen Freiheit in Indien sind ein ernsthafter und beunruhigender Hinweis auf einen Angriff auf die demokratischen Institutionen des Landes.
Sruti Bala ist Associate Professor für Theatre Studies an der Universität von Amsterdam und Mitglied von InSAF India (International Solidarity for Academic Freedom in India), einer internationalen Koalition für Freiheit der Wissenschaft in Indien, die sich derzeit für die Freilassung von Intellektuellen in Gefangenschaft einsetzt.
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