Bundestagswahl 2021: Mehr Diversität wagen

Aus Frankfurt direkt in den Bundestag: Armand Zorn ist einer von 104 neuen SPD-Abgeordneten.
Aus Frankfurt direkt in den Bundestag: Armand Zorn ist einer von 104 neuen SPD-Abgeordneten.

Der frisch gewählte Bundestag ist mit 735 Abgeordneten ziemlich groß. Aber er wird auch diverser. Mehr Abgeordnete stammen aus Einwandererfamilien. Eine Chance für das neue Parlament. Lisa Hänel informiert.

Von Lisa Hänel

Als Armand Zorn (Artikelbild) das erste Mal den Plenarsaal des deutschen Bundestags betritt, spürt er Demut: "Das ist eine besondere Verantwortung, die ich nun habe, der ich mir aber auch bewusst bin." Seit drei Tagen ist der gebürtige Kameruner, der mit zwölf Jahren nach Deutschland kam, nun gewähltes Mitglied des Bundestags für seine Partei der Sozialdemokraten (SPD).

Zorn ist damit einer von 735 Abgeordneten, die vergangenen Sonntag bei der Bundestagswahl den Sprung ins Parlament schafften - ein Parlament, das durch die Wahl vielfältiger geworden ist. "Gestern hatten wir die erste Fraktionssitzung", erzählt Zorn der DW am Telefon. "Da war schon eine unglaubliche Diversität zu sehen. Diversität im Hinblick auf Herkunft, aber auch im Hinblick auf das Geschlecht, auf die verschiedenen Biografien und Berufe. Das war sehr schön zu sehen."

Zorn ist mit seiner Migrationsgeschichte in guter Gesellschaft, über Parteigrenzen hinweg. Eine Recherche des "Mediendienst Integration" zu Abgeordneten mit Migrationshintergrund  hat ergeben, dass mindestens 83 der frisch gewählten Abgeordneten einen sogenannten Migrationshintergrund haben. Entweder sie selbst oder mindestens einer ihrer Elternteile besitzt die deutsche Staatsangehörigkeit nicht durch Geburt.

Die neue #SPD-Bundestagsfraktion ist jünger, weiblicher und vielfältiger. Bei den @BNBundestag #Top50Progressives ging es genau darum. Ich bin froh euch jetzt in der @spdbt kennen lernen zu dürfen: @ArmandZorn, @_sanaeabdi, @ReemAlabali, @HakanDemirNK ✌️ pic.twitter.com/U9P8JRIcku

— Rasha Nasr (@rasha_nasr_) September 28, 2021

 

"Wir sehen eine positive Entwicklung in Sachen Vielfalt, die im Bundestag vertreten wird", sagt Deniz Nergiz, Geschäftsführerin des Bundeszuwanderungs- und Integrationsrats: "Was aber noch viel positiver ist, dass auch mehr Vielfalt innerhalb der Gruppe entstanden ist. Zum Beispiel sehen wir, dass es jetzt mehr afrodeutsche PolitikerInnen gibt. Und auch mehr türkischstämmige PolitikerInnen."

Linke Parteien sind diverser

Tatsächlich haben nun wohl mindestens 11,3 Prozent der Abgeordneten eine Migrationsgeschichte. Im Vergleich zu den 8,2 Prozent des abgewählten Bundestags ist der Anteil gestiegen. Nach der Recherche vom "Mediendienst Integration" hat die Partei "Die Linke" den höchsten Anteil an Abgeordneten mit Migrationshintergrund: 28,2 Prozent. Schlusslicht ist demnach die CDU/CSU-Fraktion mit 4,6 Prozent ihrer Abgeordneten.

Im neuen #Bundestag sitzen mehr Abgeordnete mit #Migrationshintergrund.

Mindestens 83 Abgeordnete oder 11,3 Prozent. Stark gestiegen ist der Anteil bei der Linken und der SPD. ABER: In einigen Parteien ist der Anteil gesunken. Mehr zur Recherche ➡️➡️ https://t.co/gGOlfezS0R

— Mediendienst Integration (@MDIntegration) September 29, 2021

 

Armand Zorns SPD liegt in dieser Liste auf dem zweiten Platz: 17 Prozent seiner Mitparlamentarier haben ebenfalls eine Migrationsgeschichte. Zorn überrascht das nicht. "Ich glaube schon, dass es einen Zeitgeist gibt. Alle Parteien müssen sich öffnen. Wir sind noch nicht da, wo wir hinmüssten, aber ich glaube, dass die Parteien das verstanden haben."

Das kann Deniz Nergiz, die ihre Doktorarbeit über Politiker und Politikerinnen mit Migrationshintergrund geschrieben hat, bestätigen: "Die Parteien haben mehr Raum geschaffen für Menschen, die einen Migrationshintergrund haben. Und die Parteien haben sie diesmal nicht nur als Direktkandidaten aufgestellt, sondern haben ihnen auch in ihren Landeslisten aussichtsreichere Plätze gegeben, was natürlich den Einzug erleichtert hat."

In den vergangenen Jahrzehnten sei das nicht der Fall gewesen. Stattdessen landeten Kandidaten mit Migrationsgeschichte oftmals auf den hinteren Plätzen der Landeslisten, die kaum Aussicht auf den Einzug in den Bundestag hatten. Das habe sich geändert.

Mehr Chancen und mehr Anerkennung

Armand Zorn hat einen langen und mühsamen Wahlkampf hinter sich. Er sei viel in seinem Wahlkreis unterwegs gewesen, habe viel Haustür-Wahlkampf gemacht. Das hat sich gelohnt: In seinem Wahlkreis (Frankfurt I) in Frankfurt am Main konnte er ein Direktmandat erringen - gegen einen CDU-Mitbewerber. Ebenso wie der Grünen-Kandidat Omid Nouripour im zweiten Wahlkreis Frankfurt II .

"Für Frankfurt und auch für Deutschland ist es ein gutes Zeichen. Omid Nouripour ist als 13-Jähriger aus dem Iran nach Deutschland gekommen, ich bin als 12-Jähriger aus Kamerun gekommen", sagt Zorn: "Dass wir beide im Jahr 2021 das Direktmandat holen können, das macht uns, glaube ich, sehr stolz, auch demütig." Das stimme ihn auch "zuversichtlich für die Zukunft, weil es zeigt, dass unsere Gesellschaft eine diverse Gesellschaft ist, wo es nicht drauf ankommt, woher du kommst, sondern, wohin du gehst."

Er habe in den vergangenen Wochen viele positive Erfahrungen gemacht, erzählt Zorn: "Das fand ich im Wahlkampf auch sehr schön, dass meine Hautfarbe nicht im Mittelpunkt stand. Es ging nicht darum, dass ich dunkelhäutig bin, dass ich schwarz bin, sondern es ging um meine Persönlichkeit. Es ging um meine Kompetenz im Bereich Digitalisierung, Wirtschafts- und Finanzpolitik. Ich wurde viel mehr drauf angesprochen, was ich umsetzen will."

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Grundsätzlich sei es wichtig, Politiker und Politikerinnen mit Migrationsgeschichte nicht nur als Betroffene wahrzunehmen, sagt Sozialwissenschaftlerin Nergiz, sondern als "ganz normale deutsche Politikerinnen und Politiker mit Kompetenzen in diversen Bereichen."

Zugleich trügen gerade diese Abgeordneten dazu bei, dass bestimmte Themen rund um Migration im Bundestag anders behandelt werden könnten und mehr Gehör fänden. Politiker würden "wahrscheinlich über die Zustände in einem Asylheim ganz anders sprechen mit einem Abgeordneten, der dort vielleicht aufgewachsen ist", sagt Nergiz.

Hallo, mein Name ist Sanae Abdi und ich bin SPD-Bundestagsabgeordnete. #brandnewbundestag https://t.co/ul8ONYNdoT

— Sanae Abdi (@_sanaeabdi) September 28, 2021

 

Eine neue Generation

Der SPD-Abgeordenete Zorn gehört mit seinen 33 Jahren zu den jüngeren Abgeordneten im Parlament. Nicht ungewöhnlich für die frisch Gewählten mit Migrationsgeschichte, sagt Nergiz: "Wenn Sie in die Listen der gewählten Menschen mit Migrationshintergrund reinschauen, werden Sie bemerken, dass da auch sehr viele junge Menschen sind, die auch beachtliche Karrieren schon hinter sich gebracht haben."

Tatsächlich gibt es eine Reihe junger Abgeordneter mit Migrationsgeschichte. Eine von ihnen ist die 34-jährige Kölnerin Sanae Abdi, die bereits seit zwölf Jahren in der SPD aktiv ist und den Vorstand ihres Ortsvereins leitet.

"Diese neuere Generation bringt schon viel mehr Vorteile mit, als die erste oder zweite MigrantInnen-Generation", sagt Sozialwissenschaftlerin Nergiz: "Sie sind meistens im deutschen Bildungssystem sozialisiert, sie finden andere Netzwerke. Auch parteiübergreifende Netzwerke entstehen, die ihre Karrieren unterstützen können."

Seit zwölf Jahren gehört Aydan Özoğuz dem Deutschen Bundestag an. Schon bald könnte sie das höchste Amt im Parlament bekleiden, heißt es aus SPD-Kreisen.https://t.co/OvP2DdBUIM

— Tagesspiegel (@Tagesspiegel) September 28, 2021

 

Armand Zorn hat Unterstützung in der Initiative "Brand New Bundestag" gefunden, einer zivilgesellschaftlichen Gruppe von Aktivisten, die elf Kandidaten und Kandidatinnen finanziell und logistisch beim Bundestagswahlkampf unterstützt hat. Drei von den elf Unterstützten haben es tatsächlich in den Bundestag geschafft.

Es existieren noch Hürden

Trotz der positiven Entwicklungen gebe es aber noch viele Hürden für Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland, sagt Nergiz und erinnert an den Fall Tareq Alaows, der seine Kandidatur wegen massiver rassistischer Anfeindungen zurückzog. 

"Das erleben sehr viele Menschen mit Migrationshintergrund, es ist eine berechtigte Angst, sich deshalb zurückzuziehen. Leider haben die Parteien darauf bislang keine Antwort, damit Rassismus nicht zum Hindernis für politisches Engagement wird."

Es werde sich nun zeigen, ob der positive Trend im neuen Bundestag sich fortsetze und die Themen Partizipation, Teilhabe und Repräsentanz sich auch tatsächlich konkret niederschlagen, sagt Nergiz: beispielsweise indem sie zu Bedingungen von Sondierungsgesprächen werden - oder sich in konkreten Posten für Menschen mit Migrationsgeschichte auswirken.

Zumindest letzteres könnte tatsächlich geschehen. Das wichtige Amt des Bundestagspräsidenten, immerhin formell das zweithöchste in Deutschland - nach dem Bundespräsidenten -, soll neu besetzt werden. Im Gespräch: die SPD-Bundestagsabgeordnete Aydan Özoğuz.

Lisa Hänel

© Deutsche Welle 2021

 

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