Im Zweifel gegen die Pressefreiheit

Obwohl die Regierung Erdogan im Vorfeld der EU-Beitrittsverhandlungen das Strafrecht weitgehend liberalisiert hat, wird die Meinungsfreiheit türkischer Journalisten nach wie vor stark eingeschränkt. Von Ömer Erzeren

"Nein zur Zensur" und "Ihr werdet die freie Presse nicht zum Schweigen bringen" hieß es auf den Transparenten. Türkische Medienschaffende waren im März einem Aufruf der Journalistengewerkschaft gefolgt und zum Istanbuler Justizpalast gezogen. Grund für den Protest waren Bestimmungen im neuen Strafgesetzbuch, die ursprünglich schon am 1. April in Kraft treten sollten.

Schädigung nationaler Interessen unter Strafe

Das neue Strafgesetzbuch, das Reformcharakter trägt und in weiten Teilen das Strafrecht liberalisiert, hatte im Bereich Medien und Meinungsfreiheit das Gegenteil im Sinne. Rechtswissenschaftler hatten Gummiparagrafen in dem Gesetz, die "Beleidigung" und "Aktionen gegen nationale Interessen" unter Strafe gestellt hätten, angeprangert.

"Nach dem neuen Strafrecht hätte sich ganz sicher ein Staatsanwalt gefunden, der nach den Worten Orhan Pamuks zu Armeniern ein Verfahren wegen Schädigung nationaler Interessen eingeleitet hätte", so der Generalsekretär der Journalistengewerkschaft Turgay Olcayto.

"Will die Regierung, dass sich die Gefängnisse wieder mit Journalisten füllen?" hieß es immer wieder und die türkischen Medien mobilisierten Leser, Zuhörer und Zuschauer gegen den Regierungsentwurf.

Mit Erfolg, denn im letzten Augenblick machte Ministerpräsident Tayyip Erdogan einen Rückzieher: Das Inkrafttreten des Gesetzes wurde um zwei Monate verschoben. In dieser Zeit soll eine Arbeitsgruppe im Justizministerium Nachbesserungsvorschläge machen, an der auch Journalistenvertreter beteiligt sind.

Von der Repression zur politischen Deeskalation

In den neunziger Jahren war die Türkei eines der Länder, das weltweit eine traurige Spitzenposition bekleidete: Verprügelte, ermordete und zu Gefängnis verurteilte Journalisten. Das Gesetz zur Bekämpfung des Terrorismus war die Grundlage, um unliebsame Journalisten vor die Staatssicherheitsgerichte zu zerren und nach einer Verurteilung hinter Schloss und Riegel zu bringen.

Doch trotz ungeheurer staatlicher Repression, die dem Zweck diente, die kurdische Guerillaorganisation PKK zu bekämpfen, unterwarfen sich zahlreiche oppositionelle Presseorgane nicht dem Diktat von Zensur und Selbstzensur. Im Zuge der Reformen der letzten Jahre hat sich viel verändert.

Das Pressegesetz ist demokratisiert worden, die Staatssicherheitsgerichte sind abgeschafft, das Gesetz zur Bekämpfung des Terrorismus ist revidiert worden, und der staatliche Sender TRT sendet auf Kurdisch - was einst noch verboten war. Der politischen Deeskalation in der Gesellschaft folgte die Abnahme der Repression gegen Journalisten.

Die Türkei – keine Idylle für Journalisten

Doch auch wenn Gefängnisstrafen kaum noch gefällt werden, ist die Türkei keine Idylle für Journalisten. Das unabhängige Netzwerk BIA, das alle drei Monate einen Bericht zur Situation der Medien und der Meinungsfreiheit in der Türkei publiziert, hat sich im Jahr 2004 115 Prozessen gegen Journalisten angenommen.

Selbst gegen bekannte Moderatoren, wie Mehmet Ali Birand vom Fernsehsender CNN Türk, wurden Verfahren eingeleitet. Wegen eines Interviews mit den Rechtsanwälten des zu lebenslänglicher Haft verurteilten PKK-Führers Abdullah Öcalan, meinte ein Staatsanwalt Unterstützung einer terroristischen Organisation ausgemacht zu haben.

Der Reporter der größten türkischen Zeitung Hürriyet, Sebati Karakurt, wurde aus dem Bett gerissen und festgenommen, nachdem sein Artikel über PKK-Partisanen in den Kandil-Bergen in der Hürriyet erschienen war. Nach einem Tag Haft wurde er freigelassen.

Solche Vorfälle bezeugen, dass das Misstrauen der Sicherheitsapparate gegenüber einer freien Presse hoch ist. Der Generalstab beteiligt sich aktiv mit Strafanzeigen, weil er in "Beleidigungen und Schmähungen der Sicherheitskräfte" – einen Straftatbestand – erfüllt sieht.

Verfahren gegen so bekannte Journalisten wie Mehmet Ali Birand oder gegen Journalisten von der "Hürriyet" verlaufen zumeist im Sande und enden mit Freispruch.

Bedrohlicher sieht die Situation für kleine, lokale Medien aus, die angesichts von Geldstrafen in ihrer Existenz bedroht sind. Die Radio- und Fernsehbehörde RTÜK, die Sendeverbote aussprechen kann, hat im Jahr 2004 gegen zwölf lokale Radio- und Fernsehstationen ein Sendeverbot von insgesamt 360 Tagen ausgesprochen.

Während der staatliche Sender TRT seit vergangenem Jahr Programme auf Bosniakisch, Kurdisch, Zaza, Arabisch und Tscherkessisch ausstrahlt, wird dieses Recht kleinen, lokalen Sendern verweigert.

Zensurmaßnahmen als absurdes Theater

Die Zensur-Bürokratie ist auch immer wieder gut für Skurrilitäten: Jüngst lud TRT den lasischen Musiker Birol Topaloglu zur Aufzeichnung ins Studio ein. Im letzten Augenblick fiel den Produzenten ein, dass die lasische Sprache nicht zu den lizenzierten fünf Sprachen zählt.

Topaloglu musste die Lieder schließlich auf Türkisch singen. Als Gegenleistung des Senders durfte er im Programm den verwirrten Zuschauern mitteilen, dass die Rechtslage das Singen der Lieder auf Lasisch nicht erlaube, die CD mit den Originalliedern jedoch in Läden und Geschäften erhältlich sei.

Wenn Staat und Journalisten in der Türkei aneinandergeraten, nimmt der Konflikt stets auch bizarre Züge an. Ministerpräsident Tayyip Erdogan verscherzte sich Sympathien bei Journalisten, als er einen Karikaturisten der Tageszeitung Cumhuriyet wegen einer Karikatur, in der er als Katze dargestellt war, verklagte.

Nun erscheint die Karikaturzeitschrift Penguen mit immer neuen Varianten des Ministerpräsidenten: Als Affe, Elefant, Frosch, Schlange, Kuh oder einfach als Zebra.

Ömer Erzeren

© Qantara.de 2005

Qantara.de
Politische Reformen in der Türkei
Der lange Marsch
Die türkische Regierung bemüht sich ernsthaft, die Menschenrechtssituation zu verbessern. In den Institutionen setzen sich die Reformen jedoch nur langsam durch.

www

  • Pressefreiheit
    Reporter ohne Grenzen veröffentlichte die aktuelle Rangliste zur Pressefreiheit weltweit. Hier können Sie die Liste einsehen.
  • Die Heinrich-Böll-Stiftung, Büro Beirut, hat eine Untersuchung zu Medien und Pressefreiheit im Nahen und Mittleren Osten herausgegeben. Den 119-seitigen Report auf Englisch können Sie als pdf-Datei herunterladen.