Die gerahmte Welt

Fremde Länder und Ereignisse werden im Zeitalter globaler Medien nur noch durch einen kleinen Rahmen betrachtet, der alles andere ausblendet. Charlotte Wiedemann über Auslandsberichterstattung und journalistische Wahrnehmung des Fremden

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​​Ferne Länder sind wie Erzählungen. Es ist schwer, aus einer solchen Erzählung auszubrechen, wenn sie sich erst einmal festgesetzt hat, wenn sie durch vielfaches Wiederholen rund geschliffen worden ist zu einem handlichen Stück Gebrauchs-Wahrheit. Will ein Korrespondent die Erzählung eigenmächtig ändern, dann reagieren die Redakteure in der Zentrale so entrüstet wie Kinder, denen plötzlich eine veränderte Fassung ihres Lieblingsmärchens erzählt wird.

Auf der Suche nach Gebrauchswahrheiten

Für viele Medienmacher gab es in Indonesien lange Zeit nur die eine Pointe: Wann zerbricht das Inselreich? Die Annahme, es zerbräche nicht, verriet Leichtfertigkeit, oder schlimmer: Unkenntnis. Die Pointe konnte nur verdrängt werden durch eine andere, noch stärkere Pointe: Wird Indonesien islamistisch?

Falls der Terrorismus je aufhören sollte, die Perspektive unserer Weltsicht zu bestimmen, wird gewiss das Zerbrechen des Inselreiches erneut ein wichtiges Thema.

Gerahmte Medienrealität

Framing nennen Medienwissenschaftler diesen Mechanismus: Journalisten beschreiben die Realität innerhalb eines Rahmens, der sich im Laufe der Zeit eher unbewusst etabliert hat. Das Bild innerhalb des Rahmens ist nicht falsch im engen Sinn des Wortes, auch nicht gefälscht, aber es wirkt verfälschend, weil es nur eine sehr verengte Perspektive auf die Realität erlaubt.

Und das Fatale ist: Wir, die Mediennutzer, bemerken es nicht. Auch wenn wir uns für gebildet und kritisch halten. Der ständigen Wiederholung und der Macht der Bilder kann sich niemand entziehen. Ein Fernsehzuschauer, der aus Pakistan nur Fäuste schüttelnde, bärtige Männer zu sehen bekommt, hält dieses Land naturgemäß für intolerant und bedrohlich. Er weiß nicht, dass jedem Trupp bärtiger Männer ein Trupp Kameramänner auf den Fersen ist.

Als die Amerikaner im Irak Saddam Hussein in seinem Erdloch gefangen nahmen, brach in Bagdad helle Begeisterung aus, wer eine Waffe hatte, schoss vor Freude in die Luft.

So sah es jedenfalls bei der BBC aus: Stundenlang - und in jedem Nachrichtenblock - wurde gefeiert und geschossen. Eine deutsche Kollegin vor Ort fuhr mit dem Wagen durch Bagdad, suchte die Feiernden und fand so gut wie keine. Die BBC-Bilder zeigten nur die Reaktion eines kleinen Segments der irakischen Gesellschaft.

Das Dilemma der Korrespondenten

Oft sind sich die Journalisten des Framing selbst gar nicht bewusst. Im Kreislauf der sich selbst bestätigenden Gebrauchswahrheiten sind sie sowohl Treiber als auch Getriebene, Täter wie Opfer. Aufgrund der Umsatzgeschwindigkeit und des Umsatzvolumens von Nachrichten ist auch der Korrespondent vor Ort in großem Maße ein Medienkonsument auf dem Gebiet, wo er oder sie eigentlich Produzent ist.

Zeit ist ein seltener Luxus in der Auslandsberichterstattung - und ein Luxus ist auch das Reisen, so seltsam das klingt. Viele Korrespondenten verbringen die meiste Zeit am Computer ihres Büros, sie müssen sich ständig bereithalten, sich ständig auf dem Laufenden halten. So erfordert es die globale Hetzjagd der Nachrichten rund um den Globus.

Die sekündlich aktualisierte, weltweit abrufbare Berichterstattung ist wie ein reißender Fluss, in dessen Mitte der Korrespondent auf einem winzigen Floß exklusiven Wissens hockt - und darum kämpft, nicht unterzugehen.

Die Region, für die ein Korrespondent zuständig ist, einst niedlich "Beritt" genannt, wird zugleich immer größer, eine Folge des Zwangs zum Sparen in vielen Redaktionen - weshalb auch der Etat für Recherche-Reisen schrumpft. Zusammengefasst: Es wird immer schneller über immer mehr berichtet, was immer weniger Berichterstatter mit eigenen Augen gesehen haben.

Von Bangkok aus die Geschehnisse in Afghanistan vermelden, von Delhi aus die Motive der Freischärler in den südlichen Philippinen analysieren, das ist längst kein Notbehelf mehr, sondern oftmals Alltag.

Framing als Überlebensprinzip

Wenn indes an den Schauplätzen jener Krisen und Kriege, die als vorrangig gelten, tatsächlich hunderte oder tausende Berichterstatter vor Ort sind, geschieht etwas Erstaunliches: Die Konkurrenz führt in der Regel nicht zur Vielfalt, sondern im Gegenteil zur Einfalt. Beim Kampf der Vielen um die knappen Bildmotive und die kargen Informationen wird Framing zum Überlebensprinzip.

Wer will den zögerlichen Zeugen interviewen, die friedlichen Demonstranten filmen, wenn die Kollegen daheim in der Zentrale schon den Brandgeruch in der Nase haben? Bloß einen Konflikt nicht verharmlosen, im Zweifelsfall lieber dramatisieren, damit ist man auf der sicheren Seite.

So treibt die Konkurrenz das Worst-case-Denken voran, schürt später Paranoia beim Zuschauer. Jeder muss die Fäuste schüttelnden Bärtigen im Kasten haben - und die genießen das natürlich. Die Machos aller Länder straffen sich vor den Augen der Kameras zu echten Kriegshelden.

Mit Bomben in die Weltöffentlichkeit

Die Vermutung, Gewalt sei das beste Mittel, um Aufmerksamkeit zu erregen, hat sich seit dem 11. September zur Gewissheit verdichtet. Eine Bombe garantiert den schnellsten Zugang zur Weltöffentlichkeit. Es ist kaum übertrieben zu sagen, dass wir nur jene Regionen und Konflikte wahrnehmen, die in unser Bewusstsein gebombt werden. Die Bombenleger überschätzen allerdings die Dauer der so errungenen Aufmerksamkeit.

Die Macht europäischer und amerikanischer Medien wird als überwältigend empfunden. Und wer sich in ihrem Weltbild nicht wieder findet - wie gegenwärtig viele Muslime -, mag hassen, allein aus einem Gefühl der Ohnmacht heraus.

Falsches Bild von Krisenjournalisten

In unserer an Medien übersättigten Gesellschaft machen wir uns indes auch keine Vorstellung, welche Hoffnung das Auftauchen einer westlichen Journalistin bei Menschen auslöst, die in irgendeinem gottverlassenen Winkel für ihre Interessen kämpfen. Die schnöden Mechanismen unserer Medienwelt sind ihnen kaum zu vermitteln: Dass nämlich der Text über ihre drängenden Nöte womöglich in einer Redaktion lange liegen bleibt, bis diese Nöte endlich in die so genannte "Blattmischung" des Magazins passen. Und dass der Bericht alsdann nur ein winziger Partikel im globalen Strom des rasch Konsumierten und ebenso rasch Vergessenen ist.

Reale Distanz zum Geschehen wird unwichtig

Internet und Satellitenfernsehen haben die Bedeutung geografischer Entfernungen von Grund auf verändert - aber ist unser Wissen von der Welt deshalb größer? Zunächst fällt auf: Distanzen schrumpfen asymmetrisch.

Ein Auslandskorrespondent soll einen ganzen Kontinent im Blick haben, während sich in den Heimatredaktionen die Abgrenzungen der Kleingärten keineswegs ändern: Wehe, wenn der Hessen-Reporter in Thüringen wildert!

Mithilfe von Internet und Satellitenfernsehen kann ein schreibender Korrespondent, der in Jordanien sitzt, die Folgen eines Erdbebens in Iran so farbig schildern, als wäre er vor Ort. Weinende Angehörige und die Trümmer einer Stadt lassen sich auch vom Fernsehschirm weg beschreiben. Nur: Es sind Informationen aus zweiter Hand, Framing ist daher unvermeidbar.

Eine englischsprachige indische Zeitung zitiert in ihrer Online-Ausgabe einen namenlosen Mann von der Straße zum Kaschmir-Konflikt; es ist ein Rikschafahrer aus Neu-Delhi, willkürlich herausgegriffen.

Binnen Stunden radelt unser Rikschafahrer durch die Weltpresse, nun das indische Volksempfinden repräsentierend. Es ist in Mode gekommen, Berichten eine derartige "Als-ob-Authentizität" zu verleihen. Die Nähe zum Geschehen muss simuliert werden, das Erkennen lassen der realen Distanz wäre verdächtig.

Internet als neues Medium

So entstehen durch das Internet neue Interpretationsmuster für fremde Kulturen: Eine einzige englischsprachige Zeitung, online verfügbar, kann das internationale Bild von diesem Land mehr prägen als alle Medien in der Landessprache zusammen genommen.

Wer möchte nicht gern die Meinung einer irakischen Zeitung zitieren? Ob sie im Land von Relevanz ist oder vielleicht nur die Ansicht einer westlich orientierten Minderheit wiedergibt, das bleibt dem Leser meist verborgen.

Damit kein Missverständnis aufkommt: Das Internet hat natürlich die Möglichkeiten, sich aus der Ferne über andere Länder zu informieren, enorm verbessert. Doch birgt dieser Fortschritt auch die Gefahr der Täuschung: Nämlich die virtuelle mit der wirklichen Realität zu verwechseln.

Virtuelle und reale Welt

So ist im virtuellen Kambodscha ein Internationales Tribunal gegen die verbliebenen Anführer der Roten Khmer längst überfällig. Das Internet überträgt nicht das große traumatisierte Schweigen, das zu diesem Thema im Lande herrscht, jenseits einer kleinen Schar von Aktivisten. Man kann sich online mit den Ansichten hochinteressanter Leute vertraut machen. Doch im Land angekommen, stellt man fest, dass kaum jemand sie kennt. Es handelt sich also um eine virtuelle Prominenz.

In vielen Ländern markiert der Digital Divide eine innere Spaltung - eine Spaltung im Denken und in der Wahrnehmung. Mancherorts ist die politische Opposition nur im Internet stark. Manche ethnische Minderheit demonstriert online einen Zusammenhalt, den sie offline längst verloren hat.

Eine Separatistengruppe, die im Dschungel ausssichtslos kämpft, mag in der virtuellen Welt kurz vor dem Sieg stehen. Individuen, Organisationen, ganze Völker können sich im Internet eine Traum-Identität schaffen.

Blind in einer fremden Kultur

Was also wissen wir überhaupt? Eine Mittelklasse-Gegend auf den Philippinen mag für unsere Augen aussehen wie ein Armutsviertel. Wir sind blind, sobald wir unseren vertrauten Kulturkreis verlassen.

Simpler und zugleich schwerer als die Deutung eines tibetanischen Rollbildes ist die Entzifferung von Alltag. Was erzählt uns die Größe eines Felds, die Breite einer Straße, der Zustand eines Dachs? Wie viele Kochtöpfe verraten gesellschaftlichen Aufstieg? Wie riecht gutes Leben im Schlechten?

Die Maßstäbe dafür kommen nur offline in unsere Köpfe, durch Beobachten, Vergleichen. Wie viele unserer journalistischen Urteile entstehen aufgrund falscher Wahrnehmung, falscher Maßstäbe?

Zwei Welten in einem Land

"Und plötzlich eine andere Welt ...", so lautet eine beliebte journalistische Redewendung, wenn es gilt, der Überraschung Ausdruck zu verleihen, dass sich große Unterschiede oder gar Gegensätze innerhalb eines Landes, innerhalb einer Kultur auftun können. 'Hier das Hochhaus, dort die Hütte; hier die Disko, dort der Schleier.` Ach, wie banal!

In der fantasiearmen Formulierung von den zwei Welten verbirgt sich eine unnötige Entschuldigung: Wir belästigen den Leser oder Zuschauer mit Schattierungen, wir verweigern jene Eindeutigkeit, die zu liefern von unserem Berufsstand erwartet wird.

Der schöne Schein von der 'einen Welt'

So dumm die Floskel sein mag, sie dementiert eine noch dümmere - nämlich die von der 'einen Welt'. Die eine Welt mag es als ökologische Verantwortungsgemeinschaft geben oder als Schöpfungsidee. Aber in der sozialen und politischen Wirklichkeit gibt es sie im Zeitalter der globalen Bilder genauso wenig wie zuvor.

Wofür ich plädiere? Den Rahmen erweitern, Entfernungen wieder anerkennen, Zweifel honorieren! Nichts ist so lächerlich wie der Glaube, durch unser Rähmchen würden wir die Welt erkennen.

Charlotte Wiedemann

© Charlotte Wiedemann 2004