Ist das der Arabische Frühling 2.0?

Fast ein Jahrzehnt nach dem weitgehenden Scheitern des Arabischen Frühlings baut sich im Nahen Osten und Nordafrika eine neue Protestwelle auf. Was wird diesmal anders sein? Werden sich die Hoffnungen der Demonstranten erfüllen? Von Marwan Muasher

Von Marwan Muasher

Viele halten den Arabischen Frühling, der mit der Selbstverbrennung eines tunesischen Gemüsehändlers im Jahr 2010 seinen Anfang nahm, für gescheitert. Doch mit Ausnahme von Tunesien haben Autokraten seit 2013 die Kontrolle über die gesamte arabische Welt behalten oder wiedererlangt. Die erstarkten antidemokratischen Systeme beschuldigten die Demonstranten, als verlängerter Arm einer westlichen Verschwörung zu agieren, die die Menschen überall dazu anstifte, auf die Straßen von Tripolis, Manama oder den Tahrir-Platz in Kairo zu strömen.

Nach wie vor fehlen den Menschen im Nahen Osten politische und wirtschaftliche Perspektiven. Die Proteste in Algerien, Libanon und Sudan läuten nun eine neue Phase der zivilen Unruhen und der Forderung nach mehr Demokratie im Nahen Osten ein.

Dass der erste Arabische Frühling 2013 keine Erfolgsgeschichte wurde, hat zwei Gründe: Die arabischen Regierungen schlugen die Aufstände mit Gewalt, Geld oder einer Kombination aus beidem nieder. Und die arabische Öffentlichkeit sah, was in Libyen, Syrien und Jemen geschah und schreckte vor dem Gespenst eines drohenden Bürgerkriegs im eigenen Land zurück. Doch mit dem Fernbleiben der Demonstranten verschwanden nicht die Probleme, die die Proteste ausgelöst hatten.

Das politische System ist nicht mehr tragfähig

Als 2014 auch noch der Ölpreis in den Keller rutschte, verloren viele Regierungen in der arabischen Welt ein wirksames Instrument zur Abfederung der wirtschaftlichen Misere ihrer Bürger. Obwohl sie fast gestürzt wären, ignorieren die meisten Regime eine für sie unangenehme Wahrheit: Das bisherige System, das seine Macht auf hohe Ölpreise und Vetternwirtschaft stützt, ist nicht mehr tragfähig.

Autokraten, die sich bislang erfolgreich an die Macht geklammert haben, glaubten möglicherweise wirklich, den Sturm überstanden zu haben. Doch die aktuellen Proteste verdeutlichen, dass diese Regierungen ihre Gnadenfrist ungenutzt verstreichen ließen.

Es fehlen politische Reformen zur Teilhabe der Zivilgesellschaft ebenso wie wirtschaftliche Reformen zur Bekämpfung der Korruption, zur Verbesserung der Governance und zur Schaffung von Arbeitsplätzen. Stattdessen bestehen die Probleme weiter. Jetzt kehrt eine Gruppe von Demonstranten auf die Straßen zurück, die etwas klüger geworden sein dürfte.

Aus Fehlern gelernt

Die neue Protestwelle – gleichsam der Arabische Frühling 2.0 – arbeitet sich an den bekannten Themen ab. Doch die Demonstranten haben aus ihren Fehlern gelernt. Sie verfolgen neue Ziele und greifen zu neuen Mitteln, um spürbare und nachhaltige Veränderungen in den jeweiligen Regionen zu bewirken. Aber worin genau liegt diesmal der Unterschied? Und werden diese Unterschiede zu einem anderen Ergebnis führen?

Der erste gravierende Unterschied betrifft das Misstrauen gegenüber Regierung und Oppositionskräften gleichermaßen. Bei früheren Protesten – so auch im Arabischen Frühling – forderten die Menschen von den herrschenden Kräften strukturelle Veränderungen. Falls das nicht weiterhalf, wandten sich die Demonstranten meist an die Oppositionsführer, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen.

Was die aktuelle Protestwelle ausmacht, ist ein grundsätzliches und tiefes Misstrauen gegenüber allen politischen Führungskräften. Die Menschen in der gesamten arabischen Welt erkennen, dass weder ihre Regierungen noch die oppositionellen Kräfte die Versprechen auf politische und wirtschaftliche Reformen eingelöst haben.

Die notwendigen Veränderungen trauen sie keinem der beiden Lager zu und suchen eher den völligen Neuanfang mit neuen Gesichtern und neuen politischen Parteien. Dies wurde besonders deutlich in der Reaktion auf den von der libanesischen Regierung vorgeschlagenen Reformplan: "Die Botschaft gefällt uns, aber wir trauen dem Boten nicht."

Der veränderte Charakter der Proteste

Ein weiterer Unterschied betrifft den Charakter der Proteste. Sie bleiben friedlich, auch angesichts der geringen Hemmschwelle der Herrschenden, die Proteste gewaltsam aufzulösen. Vor allem in Algerien und im Sudan steht das Militär seit Jahrzehnten im Ruf, brutal und repressiv vorzugehen. Doch die Demonstranten haben sich bisher jeglicher Gewalt enthalten. Dieser praktizierte Pazifismus verschafft den Demonstranten eine breite Unterstützung aus dem In- und Ausland. Dadurch wurde das Militär in beiden Ländern schließlich dazu gezwungen, zuzuhören.

Massenproteste auf dem Tahrir-Platz in Bagdad; Foto: Getty Images/AFP
Verlagerung des Unmuts auf die Straße: "Es fehlen politische Reformen zur Teilhabe der Zivilgesellschaft ebenso wie wirtschaftliche Reformen zur Bekämpfung der Korruption, zur Verbesserung der Governance und zur Schaffung von Arbeitsplätzen. Stattdessen bestehen die Probleme weiter. Jetzt kehrt eine Gruppe von Demonstranten auf die Straßen zurück, die etwas klüger geworden sein dürfte", so Marwan Muasher.

Drittens wehren sich die Demonstranten gegen ein politisches Sektierertum, das letztlich die bestehende antidemokratische Herrschaft nur noch weiter stabilisiert. Im Libanon beispielsweise fand die Zivilgesellschaft aufgrund der tief verwurzelten sektiererischen politischen Systeme, die sich auf religiöse oder ethnische Identitäten stützen, bislang nicht zueinander.

Es fehlte stets der notwendige nationale Zusammenhalt zur Durchsetzung demokratischer Reformen. Nun verfolgen libanesische Demonstranten erstmals nicht nur eine friedliche Strategie, sondern wenden sich auch entschieden gegen Sektierertum.

Vetternwirtschaft, Petrodollars und rohe Gewalt

Die heutige arabische Welt steht vor großen Herausforderungen: Das bisherige Ordnungsprinzip ist am Ende. Es beruhte auf Vetternwirtschaft, Petrodollars und roher Gewalt. Ein neues Ordnungsprinzip der arabischen Welt, das sich auf gute Regierungsführung, Leistungskraft und Produktivität stützt, entwickelt sich nur unter großen Schwierigkeiten.

Die Vertreter der alten Ordnung konnten den Reformern stets ein schlagendes Argument entgegenhalten: "Wenn Ihr uns rauswerft, werden Euch entweder das Militär oder die Islamisten regieren." Diese vermeintliche Wahl zwischen Pest und Cholera lassen die heutigen Demonstranten nicht mehr gelten. Wahr ist aber auch, dass aus der langen Unterdrückung integrativer, demokratischer und effektiver Institutionen ein Führungsvakuum entstanden ist, das die Herrschenden ebenso betrifft wie die oppositionellen Kräfte. Dieses Vakuum ist heute schmerzlich spürbar.

Der neue Arabische Frühling ist bisher in 12 von 22 Ländern angekommen. Aber ohne eine vertrauenswürdige Institution in der Region, die die berechtigten Forderungen der Menschen nach effektiveren Regierungen erfüllen könnte, bleibt der Ausgang unklar.

Im schlimmsten Fall drohen Blutvergießen, Bürgerkriege und Destabilisierung, während die repressiven Regime weiter an der Macht kleben. Dennoch könnte eine aus den Erfahrungen gereifte Protestbewegung bessere Ergebnisse herbeiführen – auch wenn der Weg zur Entwicklung effektiver zivilstaatlicher Strukturen lang und schwierig bleibt.

Marwan Muasher

© Carnegie Endowment for International Peace 2019

Marwan Muasher leitet als Vice President for Studies bei Carnegie Endowment for International Peace in Washington und Beirut die Forschungsaktivitäten zum Nahen Osten.

Aus dem Englischen von Peter Lammers