Sternstunde des nationalen Zusammenhalts

Dass die Menschen in Marokko mit so großer Reife und Verantwortung auf die staatlich angeordneten Schutzmaßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie reagiert haben, ist ein historischer Moment für das Land, meint der marokkanische Politologe Mohamed Taifouri.

Von Mohamed Taifouri

Den staatlichen Stellen in Marokko war schnell klar, welch große Gefahr vom Coronavirus ausgeht, nachdem sie Zeuge geworden waren, wie die Pandemie in Windeseile führende europäische Industrieländer in die Knie gezwungen und ihre hochentwickelten Gesundheitssysteme quasi außer Gefecht gesetzt hatte.

Ihre Machtlosigkeit gegenüber dem Vorrücken des tückischen Virus vermittelte ein Bild, das man sonst eher von Entwicklungsländern kannte. Und so brachten die marokkanischen Behörden einen Präventionsplan ins Rollen, der auf einer minutiösen Abfolge von Beschlüssen, Schritten und Maßnahmen basierte. Ziel war es, den Aufprall dieser Pandemie abzufedern und ihre Auswirkung auf die Bereiche des öffentlichen Lebens im Land zu mildern.

Den Anfang in der Kette von Maßnahmen machte die Evakuierung der in der chinesischen Stadt Wuhan festsitzenden marokkanischen Staatsangehörigen. Dann ging es Schlag auf Schlag: Einstellung des Unterrichtsbetriebs an Schulen, Schließung der Gebetsstätten, Cafés und Restaurants, Verbot aller sportlichen, kulturellen und politischen Aktivitäten sowie aller Großveranstaltungen, Einrichtung eines Sonderfonds, um den Folgen der Corona-Pandemie entgegenzuwirken, Ausrufung eines einmonatigen Gesundheitsnotstands.

Die Bevölkerung zieht mit

Diese Maßnahmen machten es unumgänglich, Armee-Einheiten in die Straßen des Königreichs zu entsenden, um die Umsetzung der Seuchenschutzmaßnahmen optimal zu gewährleisten. Denn die staatlichen Stellen waren sich sehr wohl im Klaren, dass sie nicht über ausreichende logistische Ausstattung und Infrastruktur verfügten, um der Pandemie zu begegnen.

Bei den Menschen in Marokko sind diese Maßnahmen insgesamt auf bereitwillige Akzeptanz gestoßen, trotz der damit einhergehenden Einschränkungen an Rechten und Freiheiten. So ist die Alltagsmobilität nur noch einem begrenzten Personenkreis vorbehalten, unter anderem in Fällen, wo berufliche Gründe es unabdingbar machen.

Militär in den Straßen von Rabat am 22. April 2020; Foto: Imago Images/Xinhua
Respekt und bereitwillige Akzeptanz durch die Zivilbevölkerung: Die Corona-Schutzmaßnahmen machten es unumgänglich, Armee-Einheiten in die Straßen des Königreichs zu entsenden, um die Umsetzung der Seuchenschutzmaßnahmen optimal zu gewährleisten. Denn die staatlichen Stellen waren sich sehr wohl im Klaren, dass sie nicht über ausreichende logistische Ausstattung und Infrastruktur verfügten, um der Pandemie zu begegnen.

Für die meisten Bürgerinnen und Bürger ist das Verlassen des Hauses nur noch in dringenden Ausnahmefällen möglich und unterliegt der Ausstellung eines behördlich gestempelten Passierscheins. Jedweder Verstoß gegen diese Bestimmungen wird mit einer bis zu dreimonatigen Gefängnisstrafe oder einer Geldbuße in Höhe von ca. 140 US-Dollar geahndet.

Seltene Eintracht

Die Härte dieser Einschränkungen, die für die jüngeren Generationen in Marokko präzedenzlos ist, hat der allgemeinen Zustimmung und Anerkennung für den Präventionsplan des Staates zur Eindämmung der Corona-Pandemie keinen Abbruch getan. Wissenschaftler und Journalisten sprechen mittlerweile sogar von einer Sternstunde des nationalen Zusammenhalts, wie man sie beispielsweise zur Zeit des "Grünen Marsches" vor 45 Jahren erlebt habe.

Sogar die der radikalen Opposition zuzurechnenden Stimmen und Strömungen haben ihre politischen Meinungsverschiedenheiten hintangesetzt und sich an die Seite der Staatsmacht gestellt. Damit würdigen sie die Art und Weise des Umgangs mit der Krise.

Die Menschen in Marokko zeigen Respekt vor der Leistung des Regierungs- und Sicherheitspersonals, das über die Umsetzung der Maßnahmen während des Gesundheitsnotstands wacht. Sie schlagen damit – nach all den Fehlentwicklungen und Misstönen, die das Verhältnis zwischen Bevölkerung und Repräsentanten der Staatsmacht während der auf den "Marokkanischen Frühling" folgenden Phase der Zurückdrängung demokratischer Rechte belastet hatten – ein neues Kapitel auf.

In der gegenwärtigen Situation vermitteln die Staatsbeamten ein ungewohntes Bild von Autorität, meilenweit entfernt von ihrem traditionellen, mit Gewalt und Unterdrückung verbundenen Image. Dass es dabei auch zu vereinzelten Fällen gekommen ist, die nicht in dieses Bild passen (ein Vertreter der Staatsmacht verpasste einem Bürger eine Ohrfeige), hat der Innenminister freimütig eingeräumt und beteuert, solche Verfehlungen seien die Folge von Stress und Überarbeitung.

Sonderfonds zur Bewältigung der Krise

Die Regierung bemüht sich außerdem nach Kräften, die Folgen der von ihr angeordneten Maßnahmen zur Pandemie-Bekämpfung abzumildern. Dazu nutzt sie einen neu eingerichteten Sonderfonds zur Bewältigung der durch Corona verursachten Schäden. Sie hat dafür eine Reihe von Maßnahmen beschlossen, die den Unternehmen und allen betroffenen wirtschaftlichen Aktivitäten zu Gute kommen sollen.

Im sozialen Bereich hat sie ein Bündel von Instrumenten auf den Weg gebracht, an erster Stelle eine Entschädigung für den Erwerbsausfall von Personen, die auf das soziale Sicherungssystem angewiesen sind. Ferner finanzielle Soforthilfen in Höhe von 75 bis 180 US-Dollar pro Familie.

Marokkanischer Polizist in Rabat fordert wegen Corona-Krise Einwohner der Hauptstadt am 27. März 2020 zur Rückkehr nach Hause auf; Foto: Getty Images/AFP
Unisono und diszipliniert gegen die Krise: In der gegenwärtigen Situation vermitteln die Staatsbeamten ein ungewohntes Bild von Autorität, meilenweit entfernt von ihrem traditionellen, mit Gewalt und Unterdrückung verbundenen Image.

Wie auch immer Marokkos Kampf gegen die Corona-Pandemie ausgehen mag: Die im Vergleich mit Nachbarländern wie Spanien, Italien und Frankreich frühzeitige Wachsamkeit der staatlichen Stellen ist auf jeden Fall zu würdigen.

Die Feststellung ist nicht übertrieben, dass der Staat sich selbst realistisch einzuschätzen wusste und deshalb rechtzeitig Alarm schlug. Er hat schicksalhafte, präzedenzlose Beschlüsse gefasst, die einen ganz besonderen Moment des nationalen Zusammenhalts hervorgebracht haben.

Einen Moment, der uns keineswegs den Blick auf die Kehrseite der Medaille versperren sollte. Denn diese Pandemie hat auch unangenehme Wahrheiten über die Gesundheitspolitik ans Tageslicht gebracht, mit ihren "sektoriellen Programmen" und ihren "integrierten Plänen", deren Loblied seit nun schon zwei Jahrzehnten ein Gesundheitsminister nach dem anderen singt.

Corona hat die desolate Realität eines Sektors bloßgestellt, den die Regierung bislang als unproduktiv betrachtet – was sie erst unlängst dazu veranlasste, den Gesundheitsetat im Haushaltsgesetz zu kürzen, trotz der notorischen Probleme in jenem Bereich. Damit hat sie einmal mehr deutlich gemacht, dass sie einer Politik der Austerität und den Regeln der Good Governance hörig ist.

Auch der Bildungssektor kam nicht gut weg, nachdem die Regierung notgedrungen die Implementierung eines Distance-Learning-Systems beschlossen hatte, aus Angst vor einer Wiederholung des Szenarios, das sich in anderen Ländern abgespielt hatte, wo sich die Schulen in Verbreitungsherde der Pandemie verwandelt hatten.

Entzaubertes digitales Lernen

Sogleich traten massive Defizite auf allen Ebenen zutage, denn es fehlte an logistischen Möglichkeiten, technischer Ausstattung, fachlich geschultem Personal und allem, was sonst noch vonnöten ist, um der Digitalisierung zum Erfolg zu verhelfen.

[embed:render:embedded:node:39536]Die Realität entzauberte das vom Ministerium propagierte digitale Lernen: Um den Schülerinnen und Schülern Unterrichtseinheiten zur Verfügung zu stellen, griff man dann doch lieber auf die öffentlichen Fernsehkanäle zurück. Die sozialen und räumlichen Disparitäten im marokkanischen Schulwesen lassen einen digitalen Unterrichtsansatz bisher aussichtslos erscheinen.

Seitdem die Obrigkeit eine kontinuierliche Abkehr von den Errungenschaften des "Marokkanischen Frühlings", nämlich größerer politischer Bewusstwerdung und Teilhabe, eingeleitet hat, sind immer wieder Stimmen laut geworden, die vor einer gesellschaftlichen Zeitbombe in Marokko warnen. Noch verfügen die Herrschenden über genügend Handlungsspielraum, das politische Feld nach den althergebrachten Methoden zu beackern, wie etwa dem Zurechtschneiden der Wahlkreise, der Lenkung der Medien und dem Manipulieren der Wahllisten… Es darf nur auf der Spielwiese der Demokratie nicht allzu deutlich ins Auge fallen.

Manipulative Schatten

Dasselbe findet im Bereich der Wirtschaft statt, wo Zahlen und Prozentsätze zurechtgebogen und den Bürgerinnen und Bürgern Halbwahrheiten serviert werden, um die Fassade aufrecht zu erhalten.

Auf der anderen Seite setzt die zivilgesellschaftliche Sphäre solchen Möglichkeiten Grenzen, denn da verliert eine Politik der Flickschusterei und der Beruhigungsspritzen schnell ihre Wirkung. Die "Hirak-Bewegung" im Rif und die Proteste in Jerada und im Südosten des Landes sind Beispiele für den begrenzten Manipulationsspielraum an der zivilgesellschaftlichen Front.

Dass die Menschen in Marokko mit so großer Reife und Verantwortung auf die staatlich angeordneten Schutzmaßnahmen zur Bewältigung dieser Krise reagiert haben, ist ein historischer Moment für das Land. Sie haben sich bereit und fähig erwiesen, dem Staat und seinen Institutionen Vertrauen entgegenzubringen – sofern sie echte staatsbürgerliche Werte verkörpern, und nicht nur ein Herrschaftssystem.

Mohamed Taifouri

© Qantara.de 2020

Übersetzung aus dem Arabischen von Rafael Sanchez