Intellektuelle reagieren auf Anschläge von Madrid

Die Anschläge von Madrid haben unter Marokkos Kulturschaffenden Bestürzung und tiefe Ratlosigkeit ausgelöst. Jenseits einfacher Schuldzuweisungen versuchen sie, die Hintergründe der Attentate auszuloten. Beat Stauffer sprach mit Schriftstellern, Psychologen und Hochschuldozenten.

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Demonstrantin gegen die Anschläge von Madrid

​​Diesmal war die öffentliche Reaktion leiser, verhaltener, die Scham stärker, die Ratlosigkeit grösser: Anders als nach den Anschlägen von Casablanca im Mai letzten Jahres gab es keine Massendemonstrationen, an denen Hunderttausende teilnahmen, und keine Kampagnen, deren Slogans überall zu sehen waren.

Die Reaktion war gegen aussen hin wenig sichtbar und drohte beinahe unterzugehen im geschäftigen Alltagsrhythmus der grossen Städte: hier ein Sit-in vor der spanischen Botschaft, dort eine Lesung oder ein offener Brief, in dem Solidarität mit dem spanischen Volk ausgedrückt wurde.

Doch der Schock nach diesen Anschlägen, hinter denen mit grösster Wahrscheinlichkeit zur Hauptsache junge Marokkaner stehen, ist wohl noch tiefer als nach den Attentaten des 16. Mai letzten Jahres, als eine Handvoll junger «Kamikaze» sich selber und drei Dutzend Menschen im Zentrum von Casablanca in den Tod gerissen hatten.

Denn viele Menschen in Marokko dürften schmerzlich realisiert haben, dass «Madrid» dem bisherigen Bild eines in religiösen Dingen toleranten Landes, das aufgrund spezifischer Umstände vom extremistischen Islam verschont bleiben würde, schweren Schaden zugefügt hat.

Ja, dass dieses von offizieller Seite sorgsam gehegte Bild der Wirklichkeit längst nicht mehr entspricht. Dazu kommt, dass mit diesem «Export von Terroristen» die Beziehung zu Spanien und zu ganz Europa einen kaum zu beziffernden Schaden erlitten hat.

Ein Gefühl der Scham

Unter den marokkanischen Intellektuellen ist die Betroffenheit mehrere Wochen nach dem 11. März immer noch gross. Viele zögern nicht, von einem Gefühl tiefer «Scham» zu sprechen, dass so etwas geschehen konnte.

Zu ihnen gehört der Kolumnist und Schriftsteller Lotfi Akalay, den wir in Tanger zum Gespräch getroffen haben. Akalay beschwört, wie viele andere, das einst so weltoffene, liberale Tanger, wo Menschen unterschiedlichster Herkunft, wo Muslime, Juden und Christen weitgehend problemlos zusammenlebten.

Zwar ist dieses kosmopolitische Tanger schon längst Geschichte; doch als Modell, als Utopie vielleicht, vermutet Akalay, war es in den Köpfen immer noch ein Stück weit lebendig.

Eklatanter Mangel an kritischem Denken

Doch die Anzeichen, dass sich religiöse Intoleranz zunehmend ausbreitet, waren schon seit Jahren zu spüren. Dies kann Akalay aus eigener Erfahrung bezeugen: Der prononciert laizistische Autor wurde schon mehrfach zur Zielscheibe islamistischer Eiferer.

In der grössten islamistischen Zeitung des Landes, sagt Akalay, sei er auf der Titelseite in einem Leitartikel als «Feind des Islam» gebrandmarkt worden. Da es die Redaktion zudem für nötig befunden habe, dem Artikel ein grossformatiges Bild beizufügen, habe er sich während zweier Wochen nicht mehr getraut, seine Wohnung zu verlassen.

Für Akalay tragen deshalb islamistische Meinungsmacher zumindest eine Mitschuld an der ideologischen Verblendung der Terroristen, die in Madrid zur Tat geschritten sind.

Solche Zusammenhänge stehen für die meisten Kulturschaffenden, die wir befragen konnten, ausser Zweifel. Der Schriftsteller Abdelhaq Serhane, der vor ein paar Jahren Marokko verlassen hat und heute an einer Universität im Süden der USA unterrichtet, geht gar noch einen Schritt weiter: Die Terrorakte von Casablanca und Madrid seien nicht isolierte Ereignisse, sondern die Frucht einer Entwicklung, die vor rund 30 Jahren bewusst in die Wege geleitet worden sei.

Der «Palast» - gemeint ist König Hassan II. - habe seit den siebziger Jahren alles unternommen, um den Zentren kritischen Denkens im Land die Mittel zu entziehen oder sie ganz einfach aufzulösen.

So seien das Institut für Soziologie sowie Abteilungen für Psychologie und Philosophie an verschiedenen Universitäten geschlossen worden. Gleichzeitig habe der König islamistische Bewegungen unterstützt und gar wahhabitische Prediger aus Saudiarabien ins Land kommen lassen, um die linksoppositionellen Kräfte zu schwächen.

Auf diese Weise sei eine Art Geisteshaltung, eine «Mentalität» herangezüchtet worden, die sich nun auf verheerende Weise bemerkbar mache.

Die Inszenierung einer Tragödie

Diese These unterstützen auch andere Intellektuelle, etwa der Anwalt und Menschenrechtsaktivist Abderrahim Berrada aus Casablanca. Er diagnostiziert bei den jungen Extremisten ein «intellektuelles Elend», das sich durch vollständige Abwesenheit kritischen Denkens auszeichne und wohl durch eine Art Gehirnwäsche entstanden sei.

«Die materielle und intellektuelle Verelendung bei diesen jungen Menschen», sagt Berrada, «stellt eine explosive Mischung dar, für die der marokkanische Staat die Verantwortung trägt.»

Die Attentäter lebten nicht in Armut

Es darf nicht unterschlagen werden, dass solche Meinungen in Marokko keineswegs von einer Mehrheit geteilt werden. Für den ehemaligen Diplomaten Ahmed Berroho, der sich in einem Roman mit den Anschlägen des 16. Mai auseinandergesetzt hat, sind die Täter von Madrid trotz ihrer marokkanischen Herkunft längst Europäer geworden.

Ihre barbarische Tat, so folgert Berroho, habe deshalb kaum mehr etwas mit Marokko zu tun.

Einen anderen Akzent setzt der Schriftsteller Youssouf Amine Elalamy. Der 43-jährige Autor mehrerer Romane, der in Rabat als Professor für englische Literatur wirkt, hatte nach den Anschlägen von Casablanca eine Art Journal veröffentlicht, in dem er sich in Form von Essays und Kurzgeschichten mit diesem für Marokko noch nie da gewesenen Phänomen auseinandersetzt.

Für Elalamy waren die Attentate von Madrid trotz denjenigen von Casablanca neun Monate zuvor ein gewaltiger Schock. Perplex gelassen hätten ihn nicht nur das Ausmass dieses Anschlags und der Umstand, dass junge Marokkaner die Tat in Europa begangen hätten, sondern fast noch mehr das Täterprofil, das sich abzeichne: Denn im Gegensatz zu den «Kamikaze» von Casablanca hätten diese Täter nicht in Armut gelebt, und einer stamme gar aus einer Mittelschichtfamilie.

Im Moment, folgert Elalamy, gebe es bezüglich der Forschung nach den Ursachen wohl mehr Fragen als Antworten. «Ich glaube, wir müssen neue Begriffe erfinden und einen neuen Diskurs entwickeln, um diese Phänomene zu verstehen», meint der Schriftsteller.

Die Motive der Attentäter allein in der Manipulation und Indoktrination durch obskure Hintermänner zu suchen, greift für Elalamy auf jeden Fall zu kurz. Er sieht zwei Aspekte, die dringend einer genaueren Analyse bedürfen, wollte man die Hintergründe der Untaten wirklich näher verstehen.

Da sei zum einen die spektakuläre Art und Weise, in der sich die Attentäter in Szene gesetzt hätten, sagt Elalamy. Sie erinnere ihn stark an die Inszenierung einer antiken Tragödie.

Zum andern gebe es bei diesen Attentaten eine sexuelle Dimension, die bisher kaum beachtet worden sei. Elalamy verweist auf das Syndrom des Brandstifters, der häufig sexuell frustriert sei.

«Der Prototyp ist für mich der einsame Hirte», sagt Elalamy, «der keinen sexuellen Kontakt zu Frauen hat und der schliesslich versucht, das Feuer, die Leidenschaft, die in ihm brennt, auf solche Weise auszuleben.» Elalamy ist überzeugt davon, dass auch solche Aspekte in die Analyse der neuen Formen von Terrorismus mit einbezogen werden müssten.

Bitte um Vergebung

Auf ganz eigene Weise hat schliesslich der in Paris lebende Lyriker Abdellatif Laâbi, eine der bedeutendsten literarischen Stimmen des Landes, auf die Anschläge reagiert: Mit einem erschütternden Klagelied, in dem sich Lyrik und Prosapassagen abwechseln und das den Titel «Gens de Madrid, pardon!» trägt.

In diesem Werk, das Laâbi persönlich in einigen Städten Marokkos vorgetragen hat, richtet er sich an die Opfer und an die Bewohner von Madrid und bittet sie um Verzeihung; um Verzeihung auch «für das Schweigen meiner Brüder» und ihre «Gleichgültigkeit».

Und dann wendet sich Laâbi in einem harten, unerbittlichen Tonfall «an die Herren Mörder» und denunziert die politischen Systeme, die sie hervorgebracht haben. Doch auch Laâbis Text verströmt eine grosse, tiefe Ratlosigkeit angesichts der mörderischen Tat und ihrer Folgen:

In Rabat, Algier, Kairo, Bagdad Müsste man am lautesten klagen dass man nicht weiss, was man denken soll dass man nicht weiss, was man sagen soll dass man nicht weiss, was man tun soll.

Beat Stauffer, Neue Zürcher Zeitung, 17.6.2004