Orient erlesen

"Orient erlesen" ist der Titel einer neuen Reihe, die der Wieser-Verlag herausgibt. Der erste Band widmet sich der Stadt Marrakesch. Christoph Leisten hat ihn für Qantara.de gelesen.

Cover 'Marrakesch', Wieser-Verlag

​​Gut und schön gemacht sind die handlichen Bände der neuen Reihe "Orient erlesen" allemal. Doch damit nicht genug: Wer sich lesend in den ersten Band zum Thema "Marrakesch" versenkt, dem erschließt sich die tiefere Bedeutung dieses Reihentitels. Ein Beitrag von Christoph Leisten

Mit dem sicheren Gespür eines Fachmanns hat der landeskundige Herausgeber Walter M. Weiss Texte und Autoren ausgewählt. Entstanden ist eine literarische Anthologie, die in der Zusammenschau vieler Jahrhunderte und unterschiedlicher kultureller Zugänge ein umfassendes Panorama jener Stadt entfaltet, deren Name vielen als Inbegriff orientalischer Welt erscheint. Marrakesch: die alte Königsstadt in Marokko, mit ihren verschlungenen Souks und den phantasievollen Gärten, den tristen Vorstädten und dem alten, immer noch mondäne Größe vortäuschenden Franzosenviertel, den kleinen Cafés und den riesigen Nobelhotels, und nicht zuletzt die Stadt, die den sagenumwobenen "Djemma el Fna" beherbergt, jenen Platz, der seit Jahrhunderten (und bis zum heutigen Tag) allabendlich die Geschichten- und Märchenerzähler, die Gaukler und Musikanten ebenso anlockt wie deren vielschichtiges Publikum.

Keine oberflächliche Darstellung

In der vorliegenden Anthologie wird die Aura dieser Stadt erfahrbar, ohne sie einem exotistischen Blick preiszugeben. Souverän hat Walter M. Weiss jene Autoren ausgespart, deren oberflächliche Darstellungen jenseits vielleicht gutgemeinter Intentionen nichts als neokolonialistische Phantasien verraten. Keine einfache Leistung, denn von dieser Art Marrakesch-Literatur gibt es in der Gegenwart übergenug.

Das Autorenverzeichnis versammelt hingegen bemerkenswert viele Stimmen, die zu Marrakesch wirklich etwas zu sagen haben: Der aus dem 14. Jahrhundert stammende Ibn Battuta setzt den Auftakt mit seinen Reflexionen über "Eine(n) der schönsten Plätze der Erde", Leo Africanus (1495-1550) sinniert über "Lebensdauer & Krankheiten"; dazwischen werden Berber-Märchen erzählt. Einen Schwerpunkt der Anthologie bilden zweifellos Texte des 20. Jahrhunderts, wobei auch hier ein beachtliches Spektrum erfasst ist. Neben Marrakesch-"Klassikern" wie Elias Canetti, Paul Bowles und Hubert Fichte wurden auch entlegenere Autoren ausgewählt, etwa der leider immer noch zu wenig ins Deutsche übersetzte Claude Ollier. Die jüngere deutschsprachige Literatur wartet mit Überraschungen auf: Auch Andre Heller, Volker Braun und Bodo Kirchhoff sind der poetischen Anziehungskraft dieser Stadt erlegen. Das literarische Anspruchsprofil der Texte reicht von den sensiblen Reiseimpressionen Peter Maynes, über die einfühlsamen Innenansichten des seit fast 40 Jahren in Marrakesch lebenden Malers und Schriftstellers Hans Werner Geerdts, bis hin zu der höchst differenzierten und feinsinnigen Prosa des großen spanischen Romanciers Juan Goytisolo, der mit insgesamt sechs Auszügen aus seiner "Raumlektüre des Djemma el Fna" angemessen vertreten ist. Kritische Töne werden nicht ausgespart, ebenso wenig wie jene Sequenzen, die die Kenntnis von der anderen Kultur erweitern und damit um Verständigung werben.

Erweiterung des kulturellen Horizonts

So ist eine klug komponierte und für den Leser zweifellos wertvolle Anthologie entstanden, ganz gleich, ob er sich auf eine Reise vorbereiten oder auf andere Weise seinen kulturellen Horizont erweitern will. Wer das Buch nach der Lektüre aus der Hand legt, der hat wahrhaft ein Stück "Orient erlesen". Und er wird diese fruchtbare Beschäftigung gleich fortsetzen können: Inzwischen sind unter den Titeln "Iran", "Luxor/Assuan" sowie "Irak" drei weitere Bände erschienen; der Wieser-Verlag lässt verlauten, dass die Reihe fortgesetzt wird.

Christoph Leisten

"Marrakesch". Orient erlesen. Hrsg. von Walter M. Weiss. Klagenfurt: Wieser-Verlag 2003