Mubarak-System in neuem Gewand

In Ägypten wird kein religiöser Konflikt ausgetragen. Schon gar keiner, der stellvertretend für den angeblichen Kampf der Kulturen steht. In Ägypten geht es nur ums ein: um die politische Macht. Ein Kommentar von Jan Kuhlmann

Von Jan Kuhlmann

In Ägypten sind die schlimmsten Befürchtungen wahr geworden. Mit größter Brutalität sind die Sicherheitskräfte des Landes gegen die Anhänger des abgesetzten Präsidenten Muhammad Mursi vorgegangen. Mögen die Muslimbrüder und Anhänger Mursis auch Militär und Polizei provoziert haben, mögen unter ihnen radikale bewaffnete Gruppen sein – es war die ägyptische Armee, die die Situation hat eskalieren lassen.

Angesichts des Blutbades ist es geradezu zynisch, wenn der ägyptische Übergangs-Ministerpräsident Hazim al-Bablawi davon spricht, die Sicherheitskräfte hätten „professionell gehandelt“. Oder ägyptische Medien das Blutbad als „Kampf gegen Terroristen“ rechtfertigen. Das ist eine Rhetorik aus den alten Zeiten des gestürzten Diktators Hosni Mubarak.

Doch die Wortwahl macht allzu deutlich, was Ägypten in naher Zukunft zu erwarten hat: nicht etwa mehr Demokratie, sondern ein Marsch in Richtung einer neuen Militärdiktatur – das alte Mubarak-System in etwas verändertem Gewand. Es ist nicht etwa ein religiöser Konflikt, der hier ausgetragen wird – schon gar keiner, der stellvertretend für den angeblichen Kampf der Kulturen steht. In Ägypten geht es nur ums ein: um die politische Macht.

Staat im Staate

Ägyptische Polizei sieht einen Fernsehbericht über Alaa Mubarak, den Sohn des Ex-Präsidenten: "In Ägypten geht es nur um eins: um politische die Macht", kommentiert Jan Kuhlmann

Das Militär gleicht am Nil einem Staat im Staate. Die Armee ist praktisch unabhängig von der Politik. Sie entscheidet selbst über Höhe und Verwendung ihres Budgets. Sie besitzt etliche Unternehmen und ist ein großes Wirtschaftsimperium. Den Generälen geht es nicht um Demokratie, sondern allein darum, ihre Macht und Pfründe zu sichern. Die alten politischen und wirtschaftlichen Eliten des Landes reichen ihnen dazu die Hand. Sie wollen den Muslimbrüdern den Todesstoß versetzen.

Auch im Westen sind Stimmen zu hören, die den Einsatz der Gewalt gegen die Mursi-Anhänger wenn nicht gutheißen, so doch zumindest für notwendig halten – schließlich geht es ja gegen die Islamisten, gegen die vermeintlich Bösen. Als der türkische Ministerpräsident Erdogan mit Gewalt Taksim-Platz und Gezi-Park in Istanbul räumen ließ, empörten sich viele darüber – völlig zu Recht.

Doch wer Erdogan verurteilt hat, müsste seine Stimme jetzt noch viel lauter erheben. Meinungsfreiheit und Demonstrationsrecht dürfen wir nicht nur für diejenigen fordern, die unser liberal-freiheitliches Weltbild teilen – sie müssen auch für jene gelten, deren Werte in Konflikt mit unseren stehen. Ansonsten messen wir mit zweierlei Maß. Nicht zu vergessen dabei: Mursi und die Muslimbrüder hatten demokratische Wahlen gewonnen, die freiesten, die Ägypten jemals erlebt hat – dass sie sich um den Sieg betrogen fühlen, ist nachvollziehbar.

Eine heterogene Gruppe

"Die alten politischen und wirtschaftlichen Eliten des Landes reichen reichen der Armee die Hand. Sie wollen den Muslimbrüdern den Todesstoß versetzen", schreibt Kuhlmann.

Die Muslimbrüder haben ihren Teil zu dem Chaos beigetragen. Ihre politische Führung hat auf ganzer Linie versagt. Sie war unfähig, den politischen Kontrahenten aus dem linken und säkularen Lager die Hand zu reichen. Märtyrerrhetorik auf Seiten der Islamisten trägt jetzt dazu bei, die Lage zu verschärfen. Dennoch führt es in die Irre, die Muslimbrüder als radikal-islamische Kraft zu dämonisieren, die einen islamistischen Gottesstaat errichten möchte. Denn die Realität ist komplexer.

Innerhalb der Organisation gibt es unterschiedliche Gruppen – gemäßigte genauso wie radikale. Sie stehen in Rivalität zueinander. In den vergangenen 20 Jahren hat es unter den gemäßigteren Muslimbrüdern ernsthafte Debatten über Demokratie gegeben – und wie sie in einem islamischen Land aussehen könnte. Das Bekenntnis vieler von ihnen zu freien Wahlen und Demokratie ist echt. Der Militärputsch gegen Mursi und das brutale Vorgehen gegen seine Anhänger dürfte jedoch nun diejenigen in der Organisation stärken, die einen radikalen Kurs verfolgen.

Für die Zukunft Ägyptens verheißt das nichts Gutes. Die vergangenen Wochen haben gezeigt, wie stark polarisiert das Land ist: Muslimbrüder und Islamisten auf der einen Seite, ihre Gegner auf der anderen. Beide Lager begegnen sich mit größtem Misstrauen. Beide waren unfähig, aufeinander zu zugehen. Es fehlt an einer Kompromisskultur. Der Militärputsch und die Gewalt der Sicherheitskräfte haben die Kluft noch weiter vergrößert. Im Moment sieht es so aus, als sei auch die letzte Chance für einen politischen Dialog verpasst worden.

Eins aber ist sicher: Wer in Ägypten Stabilität und Demokratie erreichen will, der muss die Muslimbrüder in die politische Ordnung einbinden – die Organisation ist zu groß und zu stark, als dass sie einfach so zur Seite geschoben werden könnte. Wer sie ausgrenzt und ihre Führungspersönlichkeiten ins Gefängnis steckt, der beschwört neue Gewalt in Ägypten herauf.

Jan Kuhlmann

© Qantara.de 2013

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de