Zeit der Fehler

Mohamed Choukris Bücher zählen zu den Klassikern der modernen Weltliteratur. In diesem Monat wäre der marokkanische Autor 75 Jahre alt geworden. Zu feiern gibt es allerdings wenig: Seine Bücher sind weltweit kaum mehr lieferbar. Der marokkanische Staat hat es versäumt, das Erbe eines der bekanntesten Literaten des Landes zu erhalten. Von Alfred Hackensberger

Mohamed Choukris Bücher zählen zu den Klassikern der modernen Weltliteratur. In diesem Monat wäre der marokkanische Autor 75 Jahre alt geworden. Zu feiern gibt es allerdings wenig: Seine Bücher sind weltweit kaum mehr lieferbar. Der marokkanische Staat hat es versäumt, das Erbe eines der bekanntesten Literaten des Landes zu erhalten. Von Alfred Hackensberger

Mohamed Choukri; Foto: dpa
Ein großer Literat: Mit seinen autobiographischen Werken "Das nackte Brot" und "Die Zeit der Fehler" erlangte Mohamed Choukri internationale Bekanntheit.

​​ Sein Geburtsdatum, den 15. Juli 1935, musste Mohamed Choukri erst 'rekonstruieren': "Auf dem Land, im Rif-Gebirge, wo ich herkomme, gab es keine Geburtsregister", erzählte er gern vor meist erstaunten, westlichen Journalisten. "Ein Geburtstag wurde auch nicht gefeiert, wie es heute in Europa üblich ist". Er könne sich deshalb bei seinem Alter leicht um einige Jahre irren. "Vielleicht bin ich viel jünger oder auch viel älter", sagte Choukri mit einem Augenzwinkern.

Seine Interviews gab der marokkanische Autor im Restaurant Ritz in Tanger. Dort saß er in den letzten zwei Jahren seines Lebens jeden Vormittag immer am gleichen Tisch, links neben dem Eingang, vor sich einen Wodka mit Eis. Natürlich hatte das "Ritz von Tanger" sehr wenig mit dem Flair des Originals gemein. Leicht heruntergekommen, aber nicht schäbig, wie so viele der Bars und Restaurants der marokkanischen Hafenstadt.

Im Ritz empfing Mohamed Choukri Freunde, Journalisten und Autorenkollegen. Immer wieder auch Touristen, die sich den bekannten marokkanischen Schriftsteller mal ansehen wollten, der erst im Alter von 20 Jahren Lesen und Schreiben lernte und dessen Bücher sie in ihrem Reisegepäck trugen: Vorzugsweise "Das nackte Brot" oder "Die Zeit der Fehler", die beiden autobiografischen Romane, die ihn zum Autor von internationalem Rang gemacht hatten.

Hier hatte sich Choukri über eine hartnäckige Bronchitis beklagt, die sich trotz aller Medikamente vor ihm auf dem Tisch nicht lindern lassen wollte. Mit einem dicken Schal um den Hals, eine Zigarette in der einen und ein Wodkaglas in der anderen Hand. Neun Monate später, nach mehrfachen Chemotherapien, starb er im November 2003 im Alter von 68 Jahren im Militärkrankenhaus von Rabat an den Folgen eines Lungenkrebs.

Atheist ohne Angst, aber mit eigenem Verlag

"Sein Tod bedeutet einen enormen Verlust für die marokkanische Literatur", hatte König Mohammed der VI. höchstpersönlich in einem Beileidsschreiben erklärt, dessen Regierung für die Behandlungskosten des Autors aufgekommen war. Etwas, dass sich Mohammed Choukri früher wohl nie hätte träumen lassen.

Mohammed VI. von Marokko; Foto: AP
"Sein Tod bedeutet einen enormen Verlust für die marokkanische Literatur", sagt Mohammed VI. von Marokko. Eine erstaunlich Würdigung, waren doch die Bücher Choukris über 20 Jahre lang in Marokko verboten gewesen.

​​ Über 20 Jahre lang waren seine Bücher in Marokko verboten gewesen. Erst 1999, mit der Thronbesteigung Mohammeds VI., der eine wesentlich liberalere Politik als sein diktatorischer Vater Hassan vertrat, war Choukri "rehabilitiert" worden. Im Zuge der allgemeinen "Islamisierung" der arabischen Länder, die auch die marokkanische Gesellschaft erfasste, sollte das Verhältnis zum religionskritischen Künstler nicht länger getrübt bleiben.

Choukri stand auf der schwarzen Liste der Islamisten, da er in seinen Büchern für sie viel zu offen über Sexualität geschrieben und die Institution "Familie" in Frage gestellt hatte. Doch der überzeugte Atheist machte sich darüber wenig Gedanken: "Es gibt keinen Grund, Angst zu haben. Wenn es passiert, dann passiert es eben", sagte er.

Er druckte seine Bücher im Eigenverlag, die buchstäblich an jeder Ecke bei Zeitungshändlern günstig zu kaufen waren. In Tanger hat heute jeder Abiturient "Das nackte Brot" gelesen oder weiß zumindest wer Mohammed Choukri ist.

Ein Platz für die Literatur über den Tod hinaus

Am Abend vor seinem Tod saßen noch Freunde bei Mohamed Choukri im Krankenzimmer. Er machte Witze, war ganz optimistisch. Für sich glaubte er, das Wichtigste geregelt zu haben: Einen Platz für seine Literatur über den Tod hinaus.

Er war im Besitz einer notariellen Erklärung, seines letzten Willens, in dem er den gesamten Nachlass einer Stiftung übertrug. Eine Stiftung, die von fünf Präsidenten gemeinsam geleitet werden sollte: Mohammed Ashari, ehemaliger Kulturminister, Hassan Aourid, Sprecher des Königs, Hassan Neshmi und Mohamed Berada, beide Ex-Präsidenten des Schriftstellerverbands sowie Abdelhamid Akkar, Universitätsprofessor und späterer Präsident des Schriftstellerverbands.

"Nach dem Tode Choukris verschwand dieses Dokument spurlos", sagt Roberto de Hollanda, der langjährige Literaturagent des Autors. "Ich habe danach Mohammed Ashari und Hassan Neshmi kontaktiert, aber von beiden keinerlei Antworten erhalten."

Marokkanische Lösung

De Hollanda hatte mit Choukri noch zu Lebzeiten darüber debattiert, was mit seinem Werk geschehen sollte. "Zur Entscheidung stand, ob man es an eine europäische oder US-amerikanische Universität gibt oder es einer marokkanischen Institution anvertraut", erklärt der Literaturagent.

Mohammed Choukri entschied sich für die marokkanische Lösung. Zum einen hatte er befürchtet, dass die Regierung womöglich nicht mehr für die aufwendigen Kosten seiner Krebsbehandlung aufkommen würde, falls er die Rechte seines Werkes ans Ausland abgibt. Andererseits wäre es beschämend gewesen, die Rechte ausgerechnet in eines der Länder zu geben, die Marokko in seiner Geschichte kolonialisiert und unterdrückt haben.

"Im Nachhinein kann man heute sagen", resümiert Roberto de Hollanda, der für Mohammed Choukri in den langen Jahren ihrer Zusammenarbeit vom Agenten zum guten Freund wurde, "hätte es das Ausland ganz sicher viel besser gemacht, als die Marokkaner selbst."

Erbstreit verhindert Choukri-Stiftung

Tatsächlich bleibt auf marokkanischer Seite das Verhalten der fünf Präsidenten der gegründeten und nach dem Tod des Autors sofort wieder eingestellten Choukri-Stiftung höchst fragwürdig. Die Abtretung der literarischen Rechte an die Stiftung widerspricht dem marokkanischen Erbrecht. Die Familie von Mohamed Choukri, zwei Schwestern und ein Bruder, sind die offiziellen Erben und können nicht einfach übergangen werden.

​​ "Warum haben diese fünf ehrenhaften Herren Choukri eine Erklärung unterschreiben lassen, von der sie wussten, dass sie keinerlei Gültigkeit besitzt?", fragt sich Roberto de Hollanda bis heute. "Ein Ex-Minister und ein Sprecher des Königs wissen ganz genau über die rechtliche Sachlage Bescheid". Trotzdem habe man Choukri im Glauben gelassen, dass alles in Ordnung gehe. "Ich nenne das eine Verletzung des letzten Willen eines Menschen", fügt de Hollanda sichtlich empört hinzu.

Eine Empörung, die nicht schwer zu verstehen ist. Nach dem Tod Choukris haben die fünf Präsidenten den Kopf in den Sand gesteckt und sind quasi untergetaucht. Keiner hat je versucht eine Lösung zu finden, geschweige denn mit den Erben Choukris eine vernünftige Vereinbarung zu treffen. Diese pochen natürlich auf ihre Rechte, schließlich geht es um viel Geld.

Den Verlagen, die Choukris Bücher neu übersetzen lassen oder nach dem Ende der Vertragslaufzeit eine zusätzliche Auflage drucken wollen, sind aufgrund der Familienquerelen um die Erbverteilung die Hände gebunden.

Entsprechend sieht die Bilanz zum 75. Geburtstag Choukris düster aus: Seine Bücher sind, außer wenigen Titeln in Frankreich, Großbritannien und Marokko, sonst nirgends mehr lieferbar.

Es ist längst überfällig, dass Marokko im "Fall Choukri" ein für alle Beteiligten akzeptables Konzept realisiert. Ganz abgesehen davon ist es kaum vorstellbar, dass eine Stiftung, die nach Choukris Vorstellung junge Autoren, aber auch andere Künstler fördern soll, alleine vom Nachlass eines verstorbenen Autors finanziert werden soll. Und das in einem Land, in dem gut ein Drittel der Bevölkerung nicht Lesen und Schreiben kann.

Alfred Hackensberger

© Qantara.de 2010

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de

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