Ferner Nachhall von 9/11

Die enge Verbindung des Staatswesens mit der rigiden religiösen Autorität der Wahhabiten hat die kulturelle und soziale Entwicklung Saudi-Arabiens lange blockiert. Doch die Tatsache, dass ein Großteil der in die Attentate vom 11. September 2001 involvierten Täter von dort stammte, rüttelte die Gesellschaft auf. Von Fakhri Saleh

Saudische Frauen in einer Buchhandlung; Foto: AP
Saudische Frauen in einer Buchhandlung: In der neuen saudi-arabischen Literatur haben sich insbesondere die weiblichen Autoren als experimentierfreudig erwiesen.

​​ Saudi-Arabien ist eine der am tiefsten in der Tradition verwurzelten arabischen Gesellschaften. Diese Mentalität hat nicht zuletzt auch die Modernisierung literarischer Formen über lange Zeit weitgehend blockiert. Sogar bei der Versdichtung, die nach wie vor als das wichtigste literarische Genre der arabischen Kultur gelten darf, ist Saudi-Arabien hinter anderen arabischen Nationen – etwa dem Irak, Ägypten, Syrien und Libanon – zurückgeblieben, wo seit den 1970er Jahren eine revolutionäre Transformation der lyrischen Formen und Inhalte stattfand.

Als sich Mitte des 18. Jahrhunderts das erste saudische Staatswesen formte, ging die Herrscherfamilie eine Art Allianz mit der zum religiösen Extremismus neigenden, ultrakonservativen Reformbewegung des Scheichs Muhammad Ibn Abd al-Wahhab (1703–1792) ein, dessen Agenda auf die "Reinigung" des Islam abzielte.

Abd al-Wahhab ließ sich um die Jahrhundertmitte in Dariya, der damaligen saudischen Hauptstadt, nieder und fand in Muhammad Ibn Saud einen Herrscher, der seine Anliegen unterstützte und mit dessen Familie sich der Scheich obendrein durch die Heirat mit einer Tochter seines Gönners verschwägerte.

Die Wahhabiten, welche die Lehre des Scheichs durch die Jahrhunderte weiter trugen, bestimmten fortan die offizielle Ideologie des saudischen Staates; und sie machten es den Literaturschaffenden dort praktisch unmöglich, aus den Ketten der literarischen Tradition auszubrechen.

Ein Insider jenseits der Grenzen

Der Autor, der als Gründerfigur der saudischen Romanliteratur gilt, hat denn auch bezeichnenderweise sein ganzes Leben außerhalb des Landes verbracht. Abdalrachman Munif wurde 1933 als Sohn eines saudischen Vaters und einer irakischen Mutter in Amman geboren; Kindheit und Jugend verbrachte er in der jordanischen Hauptstadt, später lebte er in Bagdad, Paris und Damaskus. Was ihn jedoch zu einem saudischen Schriftsteller macht, ist nicht in erster Linie seine Nationalität, sondern das zentrale Thema seines Schaffens.

Abdalrachman Munif; Foto: Wikipedia
"Abdalrachman Munifs Hauptwerk, die fünfbändige Romanfolge 'Die Salzstädte', wurde zu einem Eckstein der arabischsprachigen Romanliteratur", schreibt Saleh.

​​ In den 1970er Jahren debütierte Munif mit zwei experimentellen Werken, die ihn an die vorderste Front des arabischen Literaturschaffens katapultierten: "Östlich des Mittelmeers" und "Die Bäume und die Ermordung von Marzuq".

In diesen Werken durchforschte er die noch junge Geschichte der arabischen Unabhängigkeit nach Ursachen für die Dekadenz und Schwäche, als deren Symbol die Niederlage im Sechstagekrieg von 1967 galt.

Munifs Hauptwerk, die fünfbändige Romanfolge "Die Salzstädte", wurde dann zu einem eigentlichen Eckstein der arabischsprachigen Romanliteratur. Es war dies eine ebenso lebensvolle wie subversive Neuschreibung der Geschichte (Saudi-)Arabiens, wobei der überstürzte Wandel, den die Entdeckung des Erdöls mit sich brachte, nicht minder genau seziert wird als die Formen der Unterdrückung, die aus der Fusion von Despotismus, Imperialismus und schierer Geldgier hervorgingen.

Munifs gesamtes Schaffen – auch die nichtliterarischen Texte, die er in seinem Brotberuf als Wirtschaftswissenschafter verfasste – kreiste um Despotismus und Dekadenz auf der Arabischen Halbinsel; aber kein saudischer Schriftsteller hatte in den letzten Dekaden des zwanzigsten Jahrhunderts den Mut, diese Mission weiterzuführen und im Terrain seiner Heimat nach den Wurzeln von Unterdrückung und gesellschaftlicher Rückständigkeit zu forschen.

Freilich hatten es sämtliche Kunstgattungen – Roman, Drama, bildende Kunst – bis in die allerjüngste Zeit in Saudi-Arabien auch besonders schwer. Das Gebot der Wahhabiten, dass alle Kunst islamisch sein müsse, erstickte das Kulturschaffen im Königreich.

Rajaa Alsanea; Foto: dpa
Rajaa Alsaneas Roman "Die Girls von Riad" gibt zwar Einblick in eine weitgehend verschlossene Welt, kann aber gewiss nicht als literarisches Meisterstück gelten, meint Saleh.

​​ Die Tatsache, dass Saudi-Arabien gleichzeitig der weltweit führende Ölproduzent und Standort der heiligsten Stätten des Islam ist, liefert das Land einer enormen Innenspannung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, traditionellen Denk- und Lebensformen und dem Status einer modernen Wirtschafts- und Regionalmacht aus.

Die (un)heilige Allianz zwischen dem Staat und der religiösen Autorität der Wahhabiten sorgte für ein geistiges Klima, das den Literaturschaffenden die Kritik an den offenen und verborgenen Repressionsmechanismen, welche die gesellschaftliche Entwicklung Saudi-Arabiens hemmten, weitgehend verunmöglichte.

Alle saudischen Autoren publizieren ihre Werke in Beirut, Kairo oder gelegentlich auch in Europa, weil sie die Zensur in ihrer Heimat nicht passieren würden. Die Werke Abdalrachman Munifs standen in Saudi-Arabien bis in die jüngste Zeit samt und sonders auf dem Index; und obwohl der Schriftsteller nun seit sechs Jahren tot ist und sich die Restriktionen in Buchhandel und Verlagswesen ein wenig gelockert haben, ist ein Großteil seiner Bücher dort immer noch gebannt.

Ghazi al-Gosaibi; Foto: Wikipedia
Der kürzlich verstorbene Ghazi al-Gosaibi musste mindestens zweimal wegen seiner literarischen Tätigkeit seine politischen Ämter aufgeben.

​​ Zwar hatte trotz alledem in den letzten zwanzig Jahren ein Fermentierungsprozess, eine gewisse Öffnung gegenüber Innovation und Modernisierung in der saudischen Literatur eingesetzt. Doch erst in allerjüngster Zeit bewirkt diese Entwicklung auch greifbare Resultate.

Ghazi al-Qusaibi, Dichter, Diplomat und Minister der saudischen Regierung, sowie auch der liberale und reformorientierte Denker Turki al-Hamad wagten sich mit Romanen über die moderne arabische oder saudische Gesellschaft an die Öffentlichkeit, und mittlerweile ist zumindest arabischsprachigen Lesern ein rundes Dutzend saudischer Schriftstellernamen geläufig.

Am bekanntesten – auch im Westen – ist Rajaa Alsanea, die im Roman "Die Girls von Riad" vom Alltag einiger privilegierter saudischer Mädchen erzählt. Das Buch gibt zwar Einblick in eine weitgehend verschlossene Welt, kann aber gewiss nicht als literarisches Meisterstück gelten.

Die Werke, die wirklich einen Aufbruch in der saudischen Literatur markieren – und leider noch nicht in deutscher Übersetzung vorliegen –, stammen von Abdo Khal und Yousef al-Mohaimeed, Leila al-Johani und Rajaa Alem. Sie alle senken den Blick tief in die verborgenen, gepeinigten Existenzen ihrer Landsleute.

Eine Zeit in der Hölle

Abdo Khal, der 38-jährige Gewinner des arabischen Booker-Preises 2010, dürfte dank dieser Auszeichnung bald auch international bekannt werden. Er hat mehrere Romane verfasst, die sich mit den konsequent totgeschwiegenen Aspekten der saudischen Gesellschaft befassen.

Yousef al-Mohaimeed in einem Radiostudio; Foto: http://www.al-mohaimeed.net/
Yousef al-Mohaimeed enthüllt in seinem Roman "Es fliegen keine Tauben in Buraida" die Nachtseiten einer gespaltenen, sektiererischen und patriarchalischen Gesellschaft.

​​ Khal registriert die Untaten und die schiere Gewalt, welche die Unterprivilegierten des Landes seitens der Reichen und Mächtigen erfahren, und er bricht die drei sakrosankten Tabus – Sex, Religion und Politik – allesamt. "Das sind nun einmal die Dinge, welche die Lebensumstände der Leute bestimmen", sagt er in einem Interview. Aus diesem Grund sind seine Bücher in Saudi-Arabien verboten – und werden umso begieriger gelesen.

Der Titel des nun preisgekrönten Romans, "Tarmi bi-sharar" (Sie sprüht Funken), zitiert einen Koranvers über die Hölle; und die Hölle sind in diesem Fall die Slums von Jidda, in denen der Protagonist des Buches aufgewachsen ist. Eines Tages werden die miserablen Hütten seines Viertels geräumt, statt ihrer wächst ein Palast empor; der Romanheld findet dort Anstellung – sein Job ist es fortan, die Widersacher des Fürsten zu vergewaltigen.

Die Erzählung gestaltet Khal als Monolog seines von Schuldgefühlen gepeinigten und am Schmutz seines eigenen Tuns würgenden Protagonisten; dabei rücken auch der wahnsinnige Fürst, seine Lakaien und die zahllosen Prostituierten in den Blick, die auf allen möglichen und unmöglichen Wegen in den Palast gebracht werden.

Der 1965 geborene Yousef al-Mohaimeed greift in "Al-hamam la yatir fi Buraida" (Es fliegen keine Tauben in Buraida) ein anderes heißes Eisen an. Sein Protagonist, der am Ende aus Saudi-Arabien nach England flüchtet, zeichnet seine Kindheits- und Jugendjahre auf und enthüllt dabei die Nachtseiten einer gespaltenen, sektiererischen und patriarchalischen Gesellschaft.

Das rigide Verbot vorehelicher Liebesbeziehungen zwischen Mann und Frau zwingt die Männer häufig in eine heimlich gelebte Homosexualität – die, wenn sie entdeckt wird, Gefängnisstrafen oder den Landesverweis nach sich zieht.

Experimentierlustige Frauen

Auf stilistischer Ebene haben insbesondere Rajaa Alem und Laila al-Johani Experimentierlust bewiesen. Im Roman "Tariq al-harir" (Seidenstraße) bedient sich Alem der poetischen, hochentwickelten Sprache der Sufis, um die Lebensgeschichten ihrer Figuren nachzuzeichnen, die aus unterschiedlichsten Weltgegenden die Pilgerfahrt nach Mekka unternommen haben.

Laila al-Johani schildert in "Jahiliyya" die unmögliche Liebe zwischen einer saudischen Frau und einem schwarzen "bidun" – das arabische Wort bedeutet "ohne" und steht für eine Person ohne Niederlassungsbewilligung, Papiere oder Identitätskarte. In differenzierter Sprache spürt die Schriftstellerin den Ursachen der Diskriminierung in der saudischen Gesellschaft nach und spielt dabei auf die vorislamische Epoche, die in der muslimischen Welt Jahiliyya (Unwissenheit) heißt, ebenso an wie auf den amerikanischen Einmarsch im Irak im März 2003.

Blickt man auf die Entwicklung der saudischen Literatur, dann sticht der markante Zuwachs an Innovationspotenzial und Produktivität nach dem 11. September 2001 ins Auge. In diesem Sinne ließe sich fast sagen, dass Osama bin Laden unwissentlich und unwillentlich als Katalysator dieser Entwicklung gewirkt hat; dass er die Schriftsteller Saudi-Arabiens dazu brachte, die Schleier, die so vieles in ihrem Land diskret verbargen, vor den Augen der Welt – und vielleicht auch vor den Augen der saudischen Gesellschaft – herunterzureißen.

Fakhri Saleh

© Neue Züricher Zeitung / Fakhri Saleh 2010

Übersetzung aus dem Englischen: Angela Schader

Fakhri Saleh ist Literaturwissenschaftler und Kulturredakteur bei der jordanischen Tageszeitung "Ad Dustour".

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de

Qantara.de

Abdalrachman Munif: "Das Spiel von Licht und Schatten"
Kabalen und Kriege
Mit insgesamt 2.500 Seiten im Original ist Abdalrachman Munifs fünfbändiger Romanzyklus "Die Salzstädte" ein wuchtiger Eckstein der arabischen Romanliteratur und eine subversive Chronik Saudi-Arabiens. Angela Schader stellt den Romanzyklus dar.

Zum Tod von Ghazi al-Gosaibi
Kritischer Geist im Land der Wahhabiten
Erst zwei Wochen vor dem Tod des saudi-arabischen Arbeitsministers und bekannten Literaten Ghazi al-Gosaibi waren seine Bücher in seinem Heimatland vom Index genommen worden. Das Leben und die Werke al-Gosaibis zeugen vom schmalen Grat, den liberale Politiker in Saudi-Arabien begehen. Aus Riad informiert Hanna Labonté.

Interview mit dem saudischen Schriftsteller Abdo Khal
Die Entdeckung der arabischen Literatur am Golf
Im Interview mit Qantara.de spricht der Gewinner des diesjährigen arabischen Bookerpreises Abdo Khal über die Bedeutung dieser hohen Auszeichnung für die Golfregion sowie über die Aufteilung der arabischen Kultur in Zentrum und Peripherie. Loay Mudhoon hat sich mit ihm unterhalten.