Unterdrückung in der Heimat – Blüte im Exil

Muammar al-Gaddafi glaubte, mit den in seinem "Grünen Buch" entwickelten politischen und gesellschaftlichen Theorien einen intellektuellen Markstein gesetzt zu haben. Bildung, Kultur und Geistesleben in Libyen hatten sich weitgehend auf den Tanz um dieses Goldene Kalb zu beschränken. Von Fakhri Saleh

​​ Ein Diktator reißt nicht nur die politische Macht an sich, sondern auch die Alleinherrschaft über das Denken; er wirft nicht nur den Leib ins Gefängnis, sondern er versucht auch, den Verstand in Haft zu nehmen und zu dressieren. Das hat Muammar al-Gaddafi 42 Jahre lang getan.

Dabei zerstörte er, was sich in Libyen während der fünfziger und sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts an intellektuellen und kulturellen Entwicklungen abgezeichnet hatte – in einer Epoche, da das Land sich dem modernen, zivilgesellschaftlichen Weltbild anzunähern suchte, das auch seine Nachbarn zur Linken und zur Rechten in Bann gezogen hatte.

Doch während in Ägypten und Tunesien, Marokko und Algerien im Folgenden ein Fundament für die Mittel- und Hochschulbildung gelegt wurde und das Geistes- und Kulturleben aufblühte, ging Libyens Bildungssystem zu Bruch, und die Kultur verdorrte. Denn Gaddafi, besessen von seiner Revolutionstheorie, mittels deren er Denken, Politik und Gesellschaft radikal umzuformen gedachte, erklärte allem und jedem den Krieg, was nicht mit den in seinem "Grünen Buch" formulierten Ideen übereinstimmte.

So begann in den siebziger Jahren der Exodus der besten Köpfe, während Gaddafi die biegsameren Seelen unter den Kulturschaffenden und Akademikern an sich zog und sich von ihnen für die großen Gedanken und genialen Ansichten bejubeln ließ, die er in jenem seltsamen Machwerk niedergelegt hatte. Das "Grüne Buch" sollte Libyens weltanschauliche und ideologische Bibel, die Grundlage allen Wissens und die Essenz aller Wissenschaft sein.

Claqueure im Dienst des Landesherrn

Gaddafi hat in Libyen nicht nur jede zivilgesellschaftliche Entwicklung blockiert, sondern er hat auch die herausragenden Intellektuellen, Künstler, Wissenschafter und Politiker aus dem Land getrieben. Diejenigen, die blieben, wurden zu Claqueuren in der Komödiantentruppe des Landesherrn. Um den zum Gott erhobenen "Bruder Führer" hochzujubeln, analysierte man in Gesprächsrunden und Podiumsdiskussionen seine Philosophie, die geistigen Errungenschaften des "Grünen Buches" und Gaddafis so zahl- wie endlose Reden, die das Volk mit bewundernswerter Geduld über sich ergehen ließ.

Anti-Gaddafi Plakat in Kairo; Foto: AP
"Um den zum Gott erhobenen 'Bruder Führer' hochzujubeln, analysierte man in Gesprächsrunden und Podiumsdiskussionen seine Philosophie, die geistigen Errungenschaften des 'Grünen Buches' und Gaddafis so zahl- wie endlose Reden, die das Volk mit bewundernswerter Geduld über sich ergehen ließ", schreibt Saleh.

​​ Und um die Farce perfekt zu machen, fühlte der Revolutionsführer sich auch noch berufen, 1993 mit dem Bändchen "Das Dorf, das Dorf, die Erde, die Erde und der Selbstmord des Astronauten" als Schriftsteller anzutreten; doch obwohl er einige Kritiker dazu brachte, sich über die darin versammelten Texte zu beugen, ist es schwärzestes Unrecht, diese banalen Machwerke als Literatur zu bezeichnen.

Diesem Klima des geistigen Zerfalls waren auch die Künstler und Intellektuellen ausgesetzt, die sich nicht beugen oder verleugnen mochten; die einen gingen schweigend ins innere Exil, andere verließen das Land. Man darf wohl sagen, dass das Verbrechen, welches der Revolutionsführer an der Kultur seines Landes begangen hat, nicht geringer wiegt als seine Vergehen an der Gesellschaft und seine politischen und wirtschaftlichen Sünden.

Denn wenn wir einen Blick weiter zurück in die Geschichte werfen, frappiert das Verstummen aller ernst zu nehmenden Stimmen in Libyen doppelt. So legte der 2010 verstorbene Denker Khalifa Muhammad at-Tallisi 1957 seine bahnbrechende Studie über Khalil Gibran und den Lyriker Abu al-Qasim ash-Shabbi vor; 1966 veröffentlichte der Philosoph und Übersetzer Ali Fahmi Khashim ein Grundlagenwerk über die rationalistische islamische Denkschule der Mu'tazila, dem er Übertragungen von Apuleius' "Der goldene Esel", G. W. Southerns "Western Views of Islam in the Middle Ages" sowie eine ganze Reihe weiterer Werke und Übersetzungen folgen ließ.

Aber das sogenannte Geistesleben, in dem sich der Landesherr und seine aus Minder- und Unbegabten rekrutierte Gefolgschaft tummelten, zwang solche gewichtige Autoren in die Isolation oder ließ sie verstummen. Wer in den letzten ein, zwei Dekaden das Land besuchte, der fragte sich, wohin nur die Exponenten der libyschen Intelligenz verschwunden sein mochten; im klingelnden, hohlen Geschwätz jener Diskussionsrunden, welche die Gedanken des Revolutionsführers priesen, vernahm man ihre Stimmen jedenfalls nicht. Und so substanzlos, wie sich das Denken und die Politik präsentierten, so unfassbar armselig war auch das Niveau von Bildung und Kultur.

Düstere Analysen der Macht

In den zahlreichen Ländern jedoch, wohin sich Libyens Kulturschaffende geflüchtet hatten, um ihren Kopf und ihre Menschenwürde zu retten, entfalteten sich literarische Talente, die nicht nur das arabische Kulturleben mitprägten, sondern – indem sie in anderen Sprachen und insbesondere auf Englisch publizierten – auch im globalen Kulturleben Präsenz markierten.

​​Zu nennen wären hier etwa der Romancier Hisham Matar oder der herausragende Lyriker und Übersetzer Khaled Mattawa, der sich um die Übertragung zahlreicher literarischer Werke und Dichtungen aus dem Arabischen ins Englische verdient gemacht hat.

Auch Ibrahim al-Koni hat seine bedeutendsten Werke im Schweizer Exil verfasst, wo er seit 1993 lebt – Romane, die vom kargen Leben in der Wüste und von der existenziellen Beziehung handeln, die dort Menschen, Tiere und Natur verbindet, oder die vom Existenzkampf und von den inneren Nöten in einer materiellen Welt erzählen, die schwer auf jenen feineren Seelen lastet, die einzig der Befreiung aus ihrer irdischen Gefangenschaft harren.

Bemerkenswert ist, dass al-Koni, dieser auf die Ergründung existenzieller Fragen von Sein und Nichtsein fokussierte Bewunderer Dostojewskis, vor wenigen Jahren mit "Das Herrscherkleid" ein ganz anderes Werk vorgelegt hat, in dem er eine düstere Analyse der Macht versucht. Es scheint fast, als hätte ihn die Persönlichkeit Gaddafis zu diesem Roman – der 2007 unter dem arabischen Titel "Al-Waram" (Das Geschwür) erschien – inspiriert, in dem er die Natur der Macht und ihre unbewussten Dimensionen und Strukturen ausleuchtet.

Im Herrscherkleid, das mit dem Leib seines Trägers verwächst und ihm beim Versuch, es auszuziehen, die Haut vom Leib zu reißen droht, findet al-Koni das Symbol für die verhängnisvolle Fusion von Mensch und Macht; der Entzug der Macht bedeutet einen langsamen, qualvollen, Geist und Gemüt zerrüttenden Tod. Das wirkt nachgerade prophetisch angesichts der Verbissenheit, mit der sich Gaddafi nun an seine zerbröckelnde Macht krallt – als hätte al-Koni diesen Moment kommen sehen und ihn in eine Metapher umgesetzt, die für Machtmissbrauch und Tyrannei in der gesamten arabischen Geschichte stehen kann.

In den Kerkern des libyschen Geheimdienstes

Im englischen Exil berichtet derweil der 1970 geborene Hisham Matar eindrücklich vom Schreckensregime Gaddafis gegen diejenigen, die des Verrats oder missliebiger politischer Aktivitäten verdächtigt werden und eines Tages spurlos verschwinden.

Hisham Matar: Im Land der Männer; Foto: Luchterhand Verlag
Der Roman "Im Land der Männer" schildert aus der Sicht eines Kindes von den Ängsten einer Familie, die täglich damit rechnet, dass der Vater wegen Verdachts auf konterrevolutionäre Umtriebe von Gaddafis Häschern abgeholt wird.

​​In seinem 2006 veröffentlichten Roman "Im Land der Männer" erzählt der Autor aus der Sicht eines Kindes von den Ängsten einer Familie, die jeden Tag damit rechnen muss, dass der Vater wegen Verdachts auf konterrevolutionäre Umtriebe von Gaddafis Häschern abgeholt wird.

Matar, dessen eigener Vater 1990 in Kairo von Mubaraks Sicherheitskräften verhaftet und nach Libyen überstellt wurde, wo er in den Kerkern des Geheimdiensts verschwand, versucht in seinem Werk die Grenzen des Autobiografischen zu sprengen; mit der Geschichte einer Kindheit im Schatten einer mörderischen Diktatur entwirft er ein ähnlich gültiges Bild der Macht wie al-Koni.

So also präsentieren sich Ruhm und Erhabenheit des Landesherrn aus der Sicht der "Ratten", "Kakerlaken", "Bazillen" – und was der Titel mehr sind, die Gaddafi dieser Tage für sein Volk gefunden hat.

Qualvolles Warten

Auch Matars soeben auf Englisch erschienener zweiter Roman, "Anatomy of a Disappearance", kreist um das Trauma eines Heranwachsenden, dessen Vater entführt wird und unauffindbar bleibt. Zwar versucht der Schriftsteller die Ereignisse zu verfremden, indem er die Handlung nach Ägypten verlegt; aber deutlich genug bleibt im Buch der tiefe Schmerz spürbar, der seit Jahren auf Matar lastet – und der ihn jetzt tagein, tagaus die Nachrichten verfolgen lässt, in der Hoffnung, endlich zu erfahren, ob sein Vater noch am Leben sei.

1996 habe ein Brief in der vertrauten, präzisen Handschrift des Vaters seine Familie erreicht, erzählte Matar dem "Guardian"; auch 2002 hätten sie eine Mitteilung erhalten, die hoffen ließ, dass er nicht zu den Opfern des Massakers im gefürchteten Hochsicherheitsgefängnis Abu Salim in Tripolis zählte, bei dem laut Menschenrechtsorganisationen über 1200 Häftlinge umgebracht wurden.

Gibt es Grausameres als diese Geschichten aus dem Reich des "Revolutionsführers" – der nun auch nicht davor zurückschreckte, eine weitere blutige Schlacht gegen sein Volk zu entfesseln?

Fakhri Saleh

© Neue Zürcher Zeitung 2011

Aus dem Arabischen von Angela Schader

Fakhri Saleh ist Literaturwissenschafter und Kulturredaktor der jordanischen Tageszeitung "Al-Dustour"; daneben schreibt er für weitere große arabische Zeitungen.

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de

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