Nach der Katastrophe von Beirut: Neuanfang für den Libanon?

Bei den Explosionen in Beirut kamen mehr als 150 Menschen ums Leben, 6.000 wurden verletzt und 250.000 obdachlos. Im Interview mit Julia Neumann spricht der Politikwissenschaftler Bassel Salloukh über die Folgen dieser Tragödie, die Verschärfung der politischen Krise - und wie sich die politische Realität nach den Auflösungserscheinungen der Regierung darstellt.

Von Julia Neumann

Nach der Explosion von 2750 Tonnen Ammoniumnitrat im Hafen von Beirut am 4. August gingen tausende Libanesen in die Innenstadt von Beirut, um gegen die Regierung zu protestieren, die sie für die Katastrophe verantwortlich machen. Wie sieht die politische Realität vor Ort im Libanon aus?

Salloukh: Das größte Ringen im Land wird heute zwischen zwei Seiten ausgetragen: Die eine wird von all den konfessionellen politischen Parteien verkörpert, die untereinander um die Macht wetteifern. Sie alle sorgen sich vor allem darum, wie das politische System entweder ohne oder mit nur minimalen Reformen gerettet werden kann. Die andere Seite setzt sich aus all denjenigen Gruppen zusammen, die seit dem 17. Oktober, dem Beginn der Proteste, entstanden sind.

Sie sind nicht so organisiert und nicht unbedingt so mächtig wie die Summe der politischen Parteien. Aber diese Gruppen wollen eine große Veränderung im politischen System. Viele Libanesen wollen diese grundlegende Veränderung des politischen Systems. Für sie symbolisiert die Explosion das endgültige Scheitern eines korrupten Systems.

Als Reaktion auf die Proteste hat Premierminister Hassan Diab angekündigt, Neuwahlen anzustreben. Welche Auswirkungen könnten Neuwahlen auf das politische System im Libanon haben?

Salloukh: Alles hängt davon ab, welche Art von Wahlen es geben wird und mit welchem Wahlgesetz. Wenn Hassan Diab sagt: „Ich bin bereit, noch zwei Monate zu bleiben, um eine Vereinbarung über ein neues Wahlgesetz zu überwachen“, dann bedeutet das nicht wirklich viel. Denn wenn Neuwahlen abgehalten werden, ist es egal, wie fortschrittlich das Wahlgesetz ist. Angesichts der Wirtschaftskrise, der Verwüstungen im Land, der Organisation der konfessionell-politischen Parteien werden wir eine Rückkehr dieser Parteien ins Parlament erleben. Was sich ändern könnte, ist das Kräfteverhältnis zwischen den Parteien, aber wir werden keine radikale Veränderung des politischen Systems sehen.

 

Wie wahrscheinlich ist ein Wandel im politischen System des Libanon?

Salloukh: Wir müssen zwischen zwei Dingen unterscheiden: Das eine ist die Reform des Wahlgesetzes. Also, ob es ein Verhältniswahlrecht geben wird oder welche Art von Verhältniswahlrecht und wie groß die Wahlkreise sein werden. Das andere ist eine Reform des politischen Systems selbst. Keine der bestehenden Parteien will einen Wandel des politischen Systems. Sie sind bereit, Änderungen im Wahlgesetz zu akzeptieren – vor allem weil sie glauben, dass sie die mächtigsten Akteure vor Ort sind, sei es durch Klientelismus, Ideologie oder Korruption. Aber das Spiel bleibt immer noch das Gleiche, lediglich die Karten werden etwas anders gemischt.

Die Hoffnung, dass die konfessionell-politischen Parteien nicht wieder an die Macht gelangen, wurde seit Beginn der Proteste im Oktober 2019 mit der Forderung nach der Abschaffung des Wahlgesetzes verknüpft. Das jetzige Wahlsystem erhält das System des konfessionellen Proporzes.

Salloukh: Der Fokus auf der Frage des Wahlgesetzes spielt der politischen Elite in die Hände. Denn ganz gleich, welches Gesetz man hat, die Vertreter der Elite sind zahlreich und viel organisierter als diejenigen, die einen Wechsel des politischen Systems fordern. Wir müssen also sehr vorsichtig mit unseren Prioritäten sein.

Selbst wenn es also ein fortschrittlicheres Wahlgesetz gäbe, hätten die traditionellen Parteien immer noch eine Menge Macht, Geld und Einfluss. Bedeutet dies, dass die Opposition, die wir dieser Tage auf den Straßen sehen, im Libanon immer noch eine Minderheit ist?

Salloukh: Das ist keine Frage von Minderheit oder Mehrheit. Es ist eine Frage, wie im Libanon das Parlament - wie alles andere auch - nach einer vorher festgelegten konfessionellen Quote und nach geographischen Gesichtspunkten aufgeteilt ist. Angesichts ihrer Kontrolle über die staatlichen Institutionen, über die klientelistischen Netzwerke und ihrer Fähigkeit, den anderen zu dämonisieren, aber auch angesichts der Wirtschaftskrise, in der wir leben, haben die politischen Parteien heute mehr als die anderen, kleineren politischen Gruppierungen die Fähigkeit, ihre Wähler zu mobilisieren.

Wenn Sie zum Beispiel bei den Wahlen 2018 eine Stimme für 100 US-Dollar kaufen konnten, müssten sie heute angesichts der Wirtschaftskrise für die Stimme nur 10 Dollar bezahlen. Deshalb sagen die Protestgruppen: „Wir wollen jetzt keine Wahlen, denn das würde den politischen Parteien in die Hände spielen.“

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Was verlangen säkular orientierte Menschen im Libanon?

Salloukh: Sie möchten ein unabhängiges Kabinett mit zusätzlichen verfassungsmäßigen Befugnissen. Ein Kabinett, das mit der internationalen Gemeinschaft, insbesondere dem Internationalen Währungsfonds und der Weltbank, verhandeln könnte, um sich auf vernünftige Reformen zu einigen. Also solche, die den Armen nicht schaden, aber Korruption und die öffentlichen Ausgaben unter ­Kontrolle bringen und dadurch die Tür für die Art von Finanzhilfe öffnen, die dem Land hilft, wieder auf die Beine zu kommen. Und nun, nach dieser verheerenden Explosion, natürlich auch die Art von Finanzhilfen, die an die richtigen Stellen gehen würden, um das Land wieder auf die Beine zu stellen.

Am Sonntag sagten die Vertreter von 36 Ländern bei einer virtuellen Geberkonferenz rund 250 Millionen Euro Finanzhilfe für den Libanon zu. Gleichzeitig machten sie deutlich, dass die Zahlung an Reformen gekoppelt wird. Welchen Einfluss hat die internationale Gemeinschaft?

Salloukh: Es scheint mir, dass Macron auf seiner Reise nach Beirut vor ein paar Tagen die Idee eines Kabinetts der nationalen Einheit unterstützt hat. Die gesamte politische Elite müsste in diesem Kabinett vertreten sein, um sich gemeinsam auf Reformen zu einigen. Diese sollten dazu beitragen, die Tür für Hilfe von außen öffnen – im Gegenzug für einige neue geopolitische Spielregeln.

Die internationale Gemeinschaft ist heute nicht wirklich daran interessiert, dass der Libanon einen neuen Pakt zur Aufteilung der Macht eingeht. Amerikaner und Franzosen wollen Reformen, die die Wurzeln der Finanz- und Wirtschaftskrise im Libanon angehen und eine unabhängige Justiz schaffen, die Korruption eindämmen und sicherstellen, dass der Staat Steuern einnimmt.

Außerdem will die internationale Gemeinschaft womöglich eine Art geopolitischen Pakt zwischen der Hisbollah und Israel auszuhandeln, wahrscheinlich unter der Aufsicht der Amerikaner und der Franzosen. Er könnte die zunehmend instabile Situation befrieden – vor allem angesichts des Waffenarsenals der Hisbollah und Israels Entschlossenheit, jede Art von Hochpräzisionsraketen der Hisbollah zu zerstören.

Der libanesische Politologe Bassel Salloukh ist ist Professor für Politikwissenschaft an der Libanesisch-Amerikanischen Universität in Beirut. Foto: Bassel Salloukh
Libanon stellt die Systemfrage: „Das konfessionelle System hat lediglich den Konflikt im Namen der konfessionellen Identitäten und der sektiererischen Vertretung verschärft, konstatiert der libanesische Politologe Bassel Salloukh. Er ist Professor für Politikwissenschaft an der Libanesisch-Amerikanischen Universität in Beirut.

Ein Argument für die Machtteilung nach konfessionellen Kriterien war, dass das Proporzsystem nach dem Bürgerkrieg (1975-1990) Stabilität garantierte. Denn damals gab es nur eine Amnestie für Kriegsverbrechen und keinen wirklichen Frieden zwischen den Religionsgruppen. Wäre diese Stabilität durch einen neuen Pakt zur Teilung der Macht bedroht?

Salloukh: Wir müssen zwischen zwei Konflikten unterscheiden, die zur gleichen Zeit stattfinden: Einer findet innerhalb des politischen System, zwischen den verschiedenen konfessionellen Parteien statt. Eine andere Konfliktlinie verläuft zwischen der politischen Elite und denen, die sagen: „Das System ist tot.“ Es sind diejenigen, die fragen: „Wo ist denn die [versprochene] politische Stabilität? Seit 2005 gibt es nichts als eine Krise nach der anderen.“

Sie sagen, dass dieses politische System, das einst im Namen der politischen Stabilität und des Friedens zwischen den verschiedenen konfessionellen Gemeinschaften geschaffen wurde, tatsächlich an sein Ende gekommen ist und keinerlei Frieden im Land geschaffen hat. Es hat lediglich den Konflikt im Namen der konfessionellen Identitäten und ihren politischen Vertretern verschärft. Dabei gibt es doch viel wichtigere Fragen jenseits der religiösen Gruppen, um die man sich endlich kümmern muss.

Interview: Julia Neumann

© Qantara.de 2020

Bassel Salloukh (52) ist Professor für Politikwissenschaft an der Libanesisch-Amerikanischen Universität in Beirut.