„Die dümmste Mafia, die es gibt“

Der Libanon steckt tief in der Krise: Fünfzig Prozent der Libanesen leben schon unterhalb der Armutsgrenze – ein Ende ist nicht in Sicht. Im Interview mit Lena Bopp spricht der renommierte Schriftsteller Elias Khoury über Krise und Kultur in seinem Heimatland.

Von Lena Bopp

Der Libanon erlebt die schlimmste Wirtschaftskrise seiner jüngeren Geschichte. Inflation und Arbeitslosigkeit steigen, Geschäfte stehen leer, ständig fällt der Strom aus. Erwarten Sie eine neue Migrationswelle?

Elias Khoury: Sie hat schon begonnen, das ist ganz normal. Wobei hier etwas Faszinierendes geschieht: Die ganze oligarchische Regierungskaste hält sich an der Macht fest, obwohl sie weiß, dass es nichts mehr zu holen gibt. Diese Leute haben alles Geld außer Landes geschafft, aber sie selbst emigrieren nicht. Obwohl es doch das Beste für sie wäre, jetzt zu gehen.

Wer sind „sie“?

Khoury: Die gesamte regierende Klasse. Alle wissen, sie haben das Geld. Aber sie gehen nicht, weil sie außerhalb des Libanons niemand mehr wären. Weil sie die Macht brauchen, um zeigen zu können, dass sie bedeutend sind. Dabei weiß jeder, dass sie Diebe sind. Man kann natürlich ein Dieb und trotzdem ein bisschen intelligent sein. Aber diese Leute sind dumm, die dümmste Mafia, die es gibt.

Die Leute, die jetzt gehen, gehören der Mittelklasse an...

Khoury: Ja, sie sind die erste Welle, aber ich glaube, wenn sich die Lage weiter so schnell verschlechtert wie im Moment, dann werden wir wie die Syrer. Die Armut hier ist schrecklich. Fünfzig Prozent der Libanesen leben schon unterhalb der Armutsgrenze. Ich erzähle keine Geheimnisse. Und es ist kein Ende in Sicht.

Der Libanon hat in seiner Geschichte mehrere Emigrationswellen erlebt. Inwiefern unterscheidet sich die kommende von den vergangenen?

Khoury: Die größte Welle gab es nach der Hungersnot während des Ersten Weltkrieges. Damals fiel es vergleichsweise leicht zu emigrieren, weil die Vereinigten Staaten, aber auch Brasilien und Argentinien dafür offen waren.

Die zweite große Welle begann nicht am Anfang des Bürgerkrieges, wie oft angenommen wird, sondern mittendrin, während des sogenannten Krieges zwischen den Anhängern von Michel Aoun, dem heutigen Präsidenten, und den Lebanese Forces im Osten von Beirut. Das war 1989. Damals emigrierten vor allem Christen nach Europa und Kanada.

Die Welle, die jetzt beginnt, hat mit den früheren aber nicht viel gemein, weil ich nicht glaube, dass irgendein Land für die Emigranten offen sein wird. Deswegen wird die libanesische Welle der syrischen Welle ähneln. Wenn die echte Emigration der Armen beginnt, die keine Möglichkeit haben, ein Visum zu bekommen, werden wir Boote und Schleuser sehen. Es werden nicht nur Christen sein.

Die Wirtschafts- und Finanzkrise im im Libanon ist außer Kontrolle geraten. Das Gebäude der Zentralbank in Beirut wird mit Barrieren und Stacheldraht vor wütenden Bürgern geschützt.  (Foto: picture-alliance/abaca/A.A. Rabbo)
Der Libanon drohe ein "gescheiterter Staat" zu werden, wenn die Regierung nicht die vom Internationalen Währungsfonds (IWF) geforderten Reformen umsetze, warnte der libanesische Außenminister Nassif. Das Land gehört weltweit zu den am stärksten verschuldeten Staaten. Im Juni traten bereits zwei Mitglieder des libanesischen IWF-Verhandlungsteams wegen des mangelnden Reformwillens der Regierung zurück. Aus Protest gegen mangelnden Reformwillen seiner Kabinettskollegen hat nun auch der libanesische Außenminister Nassif Hitti seinen Rücktritt erklärt

Viele Leute sagen, die Situation sei für den Libanon deswegen neu, weil es das erste Mal sei, dass keine Dollar mehr zu kriegen sind, die selbst während des Bürgerkrieges immer noch ins Land geflossen sind. In diesen Schwierigkeiten steckt der Libanon, weil er seit Jahrzehnten korrupte Regierungen hat, aber auch, weil er mit Hilfe finanzpolitischer Tricks der Zentralbank jahrzehntelang über seine Verhältnisse gelebt hat.

Khoury: Diese beiden Dinge hängen zusammen. Die korrupte Regierung und die Banken haben die ganze Zeit zusammengearbeitet.

Was diese Zusammenarbeit dem Libanon ermöglicht hat, war über Jahrzehnte allerdings ein Lebensstandard weit über dem, was andernfalls möglich gewesen wäre. Ein Nebeneffekt, wenn man so will, war dabei die Entstehung einer Mittelschicht ...

Khoury:... die aber schon vorher da war. Und die nur bekommen hat, was übrig blieb, damit Ruhe herrschte.

Die Frage ist aber doch, warum sich diese Schicht nicht früher gewehrt hat?

Khoury: Das hat sie, die Proteste begannen schon 2013 und setzten sich zwei Jahre später mit der Müllkrise fort, als sich im ganzen Land der Abfälle türmten und die Leute auf die Straßen gingen. Die Proteste während der Müllkrise waren eine Bewegung der Mittelklasse, sie hatte ein Bewusstsein für die strukturellen Probleme im Land. Und sie wurde erst gestoppt, als die schiitische Miliz von Amal mit ihren Messern kam. Ich war da, ich habe es gesehen. Die Demonstranten haben sich damals überlegt, wie sie darauf reagieren sollten. Aber sie wussten: Wenn sie auch mit ihren Messer kämen, dann holten die anderen die Kalaschnikow.

Das Problem der libanesischen Mittelklasse war immer, dass sie in der politischen Klasse keine Verbündeten hatte. Nicht einen! Wenn man Veränderung will, braucht man aber eine Kombination aus einer populären Bewegung und zumindest Teilen der Politik. Als im vergangenen Herbst wieder Proteste ausbrachen, haben die jungen Leute beraten, was zu tun sei. Und sie dachten, sie gehen zur Hizbullah, deren Anhänger auch arm sind, vielleicht würde sie helfen. Aber man stellte fest, dass es die Hizbullah ist, die das ganze System am meisten verteidigt. Sie braucht es als Schutzschild für ihre regionalen Kämpfe. Sie hat überhaupt kein libanesisches Projekt. Wir haben es also nicht mit einer Regierung zu tun, sondern mit einer Mafia. Wenn man das nicht versteht, versteht man auch nicht, was im Moment passiert. Das alles ist der Preis für das Ende des Bürgerkrieges.

#Lebanon's currency lost more than half its value since last fall. Bring in the pallbearer meme.#WorkersDay



h/t @LyesAbouJaoude

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— Kareem Chehayeb | كريم (@chehayebk) May 1, 2020

 

Inwiefern?

Khoury: Der Frieden beruhte auf einer Koalition zwischen den alten Milizen und dem großen Geld der Banken. So ist der Libanon entstanden. Es war eine diabolische Verbindung. Heute ist es ein strukturelles Problem.

 

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Wie wird sich das auswirken auf das Kulturleben im Land? Wenn die Verarmung weiter so schnell voranschreitet, wird bald nicht mehr viel von ihm übrig sein.

Khoury: Es gibt das Verlagswesen, das mit großen Schwierigkeiten überleben wird. Dann gibt es die darstellenden Künste, die in eine Sackgasse geraten sind – wegen der Krise im Libanon, aber auch weil viele von ihnen Unterstützung aus dem Ausland erhalten, die nun ebenfalls geringer werden wird. Die Filmbranche zum Beispiel war groß. Jedes Jahr kamen vier, fünf nennenswerte Filme aus dem Libanon, die zu internationalen Festivals eingeladen wurden, aber sie wurden alle kofinanziert von Arte oder anderen. Das wird es nun sehr viel weniger geben. Und das wird alles ändern.

Es gab allerdings auch viele kulturelle Veranstaltungen, die Unterstützung von den libanesischen Banken bekommen haben, ohne zu fragen, woher die das Geld eigentlich nahmen.

Khoury: Alle Showcase-Veranstaltungen werden untergehen: die touristischen Events, Musik in Beiteddine oder in Baalbek – vorbei. Ein bestimmter Teil der Szene war eine Blase, und sie wird platzen. Aber heißt das, die Kultur stirbt? Natürlich nicht. Wie macht man also weiter? Ich erinnere mich noch, wie wir 1992 nach dem Krieg das Theater gründeten. Wir waren alle Freiwillige. Es war alles ganz bescheiden, und ich denke, dorthin müssen wir zurück. Es sei denn, die Lage eskaliert und es gibt eine militärische Auseinandersetzung, einen Staatsstreich, was auch möglich ist. Dann enden wir wie unsere arabischen Brüder.

Das „Baalbeck International Festival“. Die ägyptische Sängerin Shirin Abed al-Wahab aka Sherine tritt während des jährlichen Baalbeck International Festival (BIF) am 26. August 2016 in Baalbeck, Beqaa Valley, Libanon, auf der Hauptbühne auf. Foto:  DPA
Elias Khoury über Krise und Kultur in seinem Heimatland: „Alle Showcase-Veranstaltungen werden untergehen: die touristischen Events, Musik in Beiteddine oder in Baalbek – vorbei. Ein bestimmter Teil der Szene war eine Blase, und sie wird platzen. Aber heißt das, die Kultur stirbt? Natürlich nicht.“

Könnte Beirut ein ähnliches Schicksal drohen wie Bagdad, das in den fünfziger, sechziger Jahren ebenfalls seine Mittelschicht verlor und mit ihr seine kulturelle Avantgarde? Davon hat sich die Stadt nie erholt.

Khoury: Ich denke, das irakische Modell lässt sich mit unserem nicht vergleichen, weil Bagdad immer eine homogen irakische Stadt war. Beirut ist aber nicht libanesisch, sondern arabisch. Beirut war immer das Zentrum der arabischen Kultur. Alle kamen hierher: Künstler, Regisseure, Schriftsteller. Das war in Bagdad nicht so. Nur in Kairo wär es ähnlich im frühen zwanzigsten Jahrhundert, aber das ist lange her.

Was mir einen Funken Hoffnung lässt, ist, dass die islamistischen Bewegungen sich nie mit Kultur befasst und auch keine produziert haben – weder im Libanon noch im Rest der arabischen Welt. Sie haben die Religion, ihre Ideologie, aber keine Kultur. Sie können die Kultur nicht töten, weil sie keine besitzen. Aber jede Gesellschaft braucht Kultur, weil sie wie ein Spiegel ist, und niemand kann ohne einen Spiegel leben.

In der libanesischen Literatur haben sich die Schriftsteller kaum mit Emigration beschäftigt, was erstaunlich ist, wenn man sieht, wie viele von ihnen emigriert sind ...

Khoury: Die Schriftsteller der ersten Emigrationswelle verließen zwar das Land, aber sie wollten zurückkommen. Khalil Gibran, Elia Abu Madi, Ameen Rihani – sie alle spielten eine große Rolle in der arabischen Moderne, und sie waren Immigranten in den Vereinigten Staaten oder Ägypten. Aber sie erzählten mehr von der Levante als von den Umständen, in denen sie nun lebten. Für die Schriftsteller der zweiten Welle galt das ebenso: Amin Maalouf hat sich zur Erfahrung des Exils nie geäußert.

Besitzen Sie selbst zwei Pässe?

Khoury: Nein.

Würden Sie emigrieren?

Khoury: Niemals. Ich habe lange in New York an der Universität gearbeitet, aber nie eine volle Anstellung angenommen, weil ich wieder zurückwollte. Und jetzt in meinem Alter, sollen sie mich doch töten! (lacht) Das Exil ist keine Wahl. Wir Intellektuellen gehen nur, wenn wir müssen.

Interview: Lena Bopp

© FAZ 2020

Elias Khoury, Jahrgang 1948, erschien zuletzt auf Deutsch „Als schliefe sie“ (Suhrkamp). Ins Englische und Französische wurde sein jüngster, hochgelobter Roman „The children of the ghetto: My name is Adam“ übersetzt.