Angst habe ich nicht um mich selbst

„Es gibt in unserem Land Geisteskrankheiten, die noch nicht im medizinischen Lexikon entdeckt wurden“, sagt die libanesische Schriftstellerin Alawiya Sobh.
„Es gibt in unserem Land Geisteskrankheiten, die noch nicht im medizinischen Lexikon entdeckt wurden“, sagt die libanesische Schriftstellerin Alawiya Sobh.

In ihrem jüngsten Roman schreibt sie über das Scheitern des Arabischen Frühlings und darüber, wie religiöse Bigotterie und patriarchalische Strukturen die Menschen krank machen. Lena Bopp sprach mit der libanesischen Schriftstellerin Alawiya Sobh.

Von Lena Bopp

Alawiya Sobh, geboren 1955, stammt aus einer schiitischen Familie und ist im christlichen Osten von Beirut aufgewachsen. Ihr erster Roman, „Marjams Geschichten“, erschien 2002 (in deutscher Übersetzung bei Suhrkamp 2010) und machte sie wegen seiner ebenso in­timen wie drastischen Schilderung von Frauenschicksalen in Libanon berühmt. Seither hat sie drei weitere Romane veröffentlicht, zuletzt „Das Leben lieben“. Dieses Buch wurde in weiten Teilen der arabischen Welt verboten, stand 2021 aber auf der Shortlist des hochdotierten „Sheikh Zayed Book Award“.

Ihre Romane sind in fast allen Ländern der Region verboten, außer in Libanon, wo sie seit je erscheinen und wo Sie selbst leben. Jetzt wollen Sie Beirut verlassen. Warum?

Alawiya Sobh: Beirut war die einzige freie Stadt im arabischen Raum. Es war ein Symbol für die Konvergenz von Kulturen und Religionen und eine Brücke zwischen Ost und West. Alle arabischen Intellektuellen, die vor tyrannischen Regimen, vor Gefängnissen und Mord in ihren Ländern flohen, suchten hier Zuflucht. Ich bin in Beirut ge­boren und aufgewachsen. Nie habe ich daran gedacht auszuwandern. Jetzt denke ich zum ersten Mal daran. Ich gebe alles auf. Ich habe nicht mehr die geistige, seelische und körper­liche Kraft, hier zu leben. Heimatländer sind Illusionen. Heimat ist, wenn Sie nicht von Tod, Krankheit oder Hunger bedroht sind. Jeder Ort auf der Welt ist freundlich, wenn du deine Menschlichkeit spürst.

Wie leben Sie in Beirut?

Sobh: Ich wohne in einem Haus mit 22 Wohnungen, nur noch sieben Familien leben darin, die anderen sind ausgewandert, die meisten davon Christen. Ich vermisse sie, denn ich hatte enge Beziehungen zu ihnen. Der Rest der Bewohner sind ältere Menschen, deren Kinder im Ausland leben. Die Bewohner des Gebäudes ge­hörten immer verschiedenen Konfessionen an. Wir haben nie darüber nach­gedacht, dass dieser christlich und jener muslimisch ist. Die nachbarschaftlichen Beziehungen waren auch während des Krieges ausgezeichnet. Wir trafen uns im Bunker, aßen und blieben zusammen über Nacht.

Haben Sie zu denen, die im Gebäude geblieben sind, noch Kontakt?

Sobh: Einige von ihnen haben die Hoffnung verloren, andere sind intolerant geworden. Der Nachbar, der auf der gleichen Etage wohnt wie ich, kleidete plötzlich seine Frau in einen Hijab. Seine Frau trug früher immer die neueste Mode. Er be­grüßte mich immer mit einem Lächeln. Jetzt ließ er sich seinen Bart wachsen, und wenn ich ihn am Fahrstuhl treffe, senkt er den Kopf, ohne zu grüßen. Er fährt nicht mit mir im Fahrstuhl, wenn wir allein sind. Er hält es für verboten.

Ein Paar umarmt sich in der Hamra Street in Beirut, Libanon, Mittwoch, 12. Januar 2022.  (Foto: AP Photo/Hussein Malla)
Sehnsucht nach dem verlorenen Glanz: Die Hamra-Strasse galt jahrzehntelang als Schmelztiegel der Kulturen und als das kulturelle Epizentrum der libanesischen Hauptstadt. „Jetzt hat die Hamra-Straße ihre zivilisierte, kulturelle und kommerzielle Rolle verloren. Jetzt sind gehobene Restaurants und Cafés geschlossen. Die meisten von ihnen sind zu Cafés ge¬worden, in denen Narguilé geraucht wird, deren Rauch durch die Straße wabert. Der Müll stapelt sich, überall Bettler, vor allem vertriebene Kinder. Was soll ich sagen? Die Hamra-Straße war schon immer der Spiegel und die Identität von Beirut“, bedauert die libanesische Schriftstellerin Alawiya Sobh.

Ihr Haus liegt in Hamra, einem Viertel, das immer ein Schmelztiegel war und oft als eine heile Welt beschrieben wurde, wie sie sonst ist der arabischen Region schwer zu finden ist. Was ist das Viertel für Sie?

Sobh: Ich habe meine besten Tage in Hamra verbracht. Selbst während des Bürgerkrieges war es hell und einzigartig. Kinos, Theater, Cafés, Boutiquen, schöne Düfte. Jetzt hat die Hamra-Straße ihre zivilisierte, kulturelle und kommerzielle Rolle verloren. Jetzt sind gehobene Restaurants und Cafés geschlossen. Die meisten von ihnen sind zu Cafés ge­worden, in denen Narguilé geraucht wird, deren Rauch durch die Straße wabert. Der Müll stapelt sich, überall Bettler, vor allem vertriebene Kinder. Was soll ich sagen? Die Hamra-Straße war schon immer der Spiegel und die Identität von Beirut.

Trotzdem sitzen Sie noch immer jeden Tag an dem gleichen Tisch im Café „Crep­away“ und schreiben, oder nicht?

Sobh: Mein ganzes Leben lang habe ich in einem Café geschrieben. Früher ging ich in ein beliebtes Lokal direkt am Meer, mit alten Holztischen und einem Garten mit Pflanzen und Blumen. Aber nachdem es während des Krieges geschlossen wurde, entschied ich mich für eines der High-End-Cafés. Immer wenn mein Café schloss, zog ich in ein anderes. Die Cafés hatten damals alle einen euro­päischen, vor allem französischen Charakter. Jetzt existiert keines mehr von ihnen. Also gehe ich ins „Crepaway“, weil es das einzige ist, das leise und sauber ist.

Wie sieht Ihr Alltag aus?

Sobh: Ich kämpfe darum, mich auf das Schreiben konzentrieren zu können. Ich schreibe immer vormittags. Es war stets meine Gewohnheit, an nichts anderes zu denken als an die Welt des Romans, den ich schreibe. Aber jetzt bin ich verwirrt und kämpfe darum, Wasser, Gas und meine Medikamente zu beschaffen. Ich habe kein Geld mehr, um das Dienstmädchen zu bezahlen. Dies ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich an allem beteiligt bin. Ich muss einen Supermarkt finden, der zu niedrigen Preisen verkauft. Aber die unverschämten Preise steigen jeden Tag – soll ich irgendwann gar nicht mehr in der Lage sein, meine Sachen zu kaufen? Ich habe mein Geld auf der Bank verloren, wie kann ich weitermachen?

Wovon leben Sie?

Sobh: Ich schaffe manche Dinge nur mit Mühe. Ich fing an, sogar beim Essen zu sparen, da ich auf eine Reihe meiner Medikamente nicht verzichten kann. Ich kann Ihnen die Schwierigkeiten des Lebens, das ich lebe, nicht beschreiben, und ich bin daran nicht gewöhnt. Meine Leben war nur Schreiben. Heute weiß ich nicht, wie ich meine Angelegenheiten regeln soll.

Steckt Ihr eigenes Geld auch in der Bank fest?

Sobh: Natürlich. Die Bank hat mein Geld ge­stohlen, wie sie das Geld aller Libanesen gestohlen hat. Dieses korrupte Regime hat den gesamten Reichtum Libanons gestohlen, sogar dessen natürliche Ressourcen. Ich kann jetzt nur noch tausend Dollar im Monat abheben, und der Rest wird in libanesischer Währung zum Kurs von 8000 libanesischen Pfund pro Dollar ausgezahlt – während der Dollar auf dem Schwarzmarkt schon bis zu 33.000 libanesische Pfund erreicht hat. Was ich bekomme, reicht nicht, um den Generator in der Nachbarschaft zu be­zahlen, der den Strom liefert. Jetzt bin ich also ohne Strom und lese nachts bei Kerzenschein. Was ist das für ein Leben, und wie gehe ich weiter?

 

 

„Es gibt in unserem Land Geisteskrankheiten, die noch nicht im medizinischen Lexikon entdeckt wurden“

In Ihrem jüngsten Roman „Das Leben lieben“ schreiben Sie über das Scheitern des Arabischen Frühlings und darüber, wie religiöse Bigotterie und patriarchalische Strukturen die Menschen krank machen. Soll die Krankheit eine Metapher für den Zustand der ganzen ara­bischen Welt sein?

Sobh: Was passiert ist, war, dass ich nach dem Arabischen Frühling eine seltene neurologische Krankheit bekam, mit Krämpfen und schrecklichen Schmerzen. Damals sah ich im Fernsehen all die Gewalt und die Zerstörung der arabischen Städte. Ich musste Beruhigungsmittel nehmen, von denen ich jahrelang ein verworrenes Gedächtnis bekam. Ich versuchte weiter, jeden Tag zu schreiben, aber es gelang mir nicht. Also konnte ich meinen zu­sammenbrechenden Körper nicht von den zerstörten arabischen Städten trennen. Ich habe das Gefühl, dass durch die Diktaturen und durch die islamistischen, extremistischen oder terroristischen Mächte niemand in dieser Region von einer psychischen oder körperlichen Krankheit verschont geblieben ist. In meinem Roman sagt Basma, die Heldin: „Wir sind alle krank. Es gibt in unserem Land Geisteskrankheiten, die noch nicht im medizinischen Lexikon entdeckt wurden.“

In Ihrem Roman wird vor allem der weibliche Körper zum Schlachtfeld. Welche Beziehung haben Frauen zu ihrem Körper?

Sobh: Sie ist geprägt von der islamischen Religion, von religiösen Institutionen und sozialen Traditionen, und hier liegt das Problem. Kultur, Institutionen und Gesetze in dieser patriarchalisch-islamischen Gesellschaft perpetuieren die Angst der Frauen vor ihrer Weiblichkeit und ihren Körpern. Es gibt Gewalt gegen Frauen auf allen Ebenen. Auch in meinem Roman werden die Mädchen so er­zogen, dass sie ihre Weiblichkeit ver­fluchen. Aber Basma kämpft, sie konfrontiert ihre Familie damit, ihr Umfeld und alle Ideologien und wird zu einer freien Ballerina, ihr Vorbild ist die deutsche Tänzerin Pina Bausch. Und als ihr Mann, der ein Maler war, liberal und schön, sich der Hizbullah anschließt und sie bittet, sich zu verschleiern und mit dem Tanzen aufzuhören, verlässt sie ihn.

"Beirut will rise"-Graffiti auf einer Mauer in der Nähe des zerstörten Hafens; Foto: Joesph Eid/AFP/Getty Images)
"Beirut will rise"-Graffiti auf einer Mauer in der Nähe des zerstörten Hafens. Die Folgen der Explosion im Hafen von Beirut im August 2020 waren verheerend. Die Explosion zerstörte genau den Teil Beiruts mit den meisten kulturellen Stätten. In der Nähe des Hafens gab es eine große Anzahl von Museen, Theatern, Musiksälen, denkmalgeschützten Gebäuden, Pubs, Bars, Restaurants - ein Großteil dessen, wofür Beirut bekannt war. Die politischen und wirtschaftlichen Mehrfachkrisen des Landes verlangsamen den Wiederaufbau.

Ihre Romane gewährten immer schon seltene Einblicke in Küchen und Schlafzimmer, die normalerweise verschlossen bleiben. Ihre Protagonistinnen sprechen über ihre anhänglichen, unsensiblen oder sturen Ehemänner; über ihr schreckliches Sexleben; über ihre Angst, die Kinder zu verlieren; auch über romantische Gefühle für andere Männer. Wie waren die Reaktionen auf Ihr jüngstes Buch?

Sobh: Viele Leser hatten das Gefühl, dass ich etwas ausdrücke, was sie selbst empfinden. Aber der Klerus und religiöse Fanatiker, Sunniten oder Schiiten und die Hizbullah, griffen mich an, und einige Moscheen verurteilten meine Geschichte, ebenso ein schiitisches Scharia-Gericht. Ich schäme mich zu sagen, dass ich zum ersten Mal Drohungen erhalten habe. Ich habe das bislang nicht offen­gelegt, weil ich nicht möchte, dass meine Arbeit deswegen die Aufmerksamkeit der Leser findet. Was geschieht, geschieht. Schreiben ist mein Leben.

Haben Sie Angst?

Sobh: Was mein Privatleben oder das Schreiben betrifft, habe ich vor nichts Angst. Wer mich liest, wird sehen, wie mutig ich bin. Ich habe nicht einmal Angst vor denen, die mich zuletzt bedroht haben. Was ich wirklich fürchte, ist der Ausbruch eines neuen Bürgerkriegs in Libanon. Ich mache mir ernste Sorgen um die verbliebenen Christen in Libanon, nachdem viele von ihnen in den Westen ausgewandert sind und sie hier zu einer Minderheit wurden. Nach der Explosion im Hafen von Beirut sind wieder Tausende von ihnen gegangen. Deshalb mache ich mir Sorgen um das religiöse Gleichgewicht in diesem Land, denn die zivilisatorische Auszeichnung Libanons verdankt sich vor allem diesem Gleichgewicht und der Anwesenheit von Christen.

Das hört man öfters, aber hinter vorgehaltener Hand. Es gibt wenige, die sich trauen, das offen auszusprechen.

Sobh: Die Bevölkerung Libanons beträgt heute nicht mehr als vier Millionen Menschen, während im Ausland, in der Diaspora mehr als siebzehn Millionen Libanesen leben. Laut Schätzungen gibt es in Libanon außerdem mehr als anderthalb Millionen syrische Flüchtlinge. Es können gut auch noch mehr sein. Außerdem leben hier eine halbe Million Palästinenser. Wenn diese Flüchtlinge eingebürgert worden wären, wäre Libanon ein islamisches Land geworden, das zu denen in der arabischen Welt hinzugekommen wäre, und hätte seinen unverwechselbaren Geschmack, seine Identität und Zivilisation verloren. Ich gebe keine Ge­heimnisse preis, wenn ich sage, dass diese Zivilisation auf die Anwesenheit von Christen in Libanon zurückzuführen ist.

Außerdem mache ich mir Sorgen um die Kinder in Libanon, die ohne Essen, Trinken, Milch, Medikamente, Impfstoffe, Krankenhäuser und Schulen sind. Ich fürchte um die enttäuschten Mädchen und jungen Männer, um eine ganze Ge­sellschaft, die alle Möglichkeiten des Lebens verloren hat. Das macht mich krank. Diese korrupte, mörderische politische Milizklasse hat alles zerstört. Aber die größte Angst machen mir die iranische Besatzung Libanons und die Bedrohung durch eine schwere Hungersnot. Dann wird das Land seinen letzten Atemzug tun.

Lena Bopp

© Frankfurter Allgemeine Zeitung 2023

 

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