Auf Pilgerfahrt zur Selbsterkenntnis

Leila Aboulelas jüngstes Buch skizziert akkurat und liebevoll, wie sich Freundschaften weiterentwickeln können. Drei Frauen, anfangs in Abhängigkeiten verstrickt, begeben sich gemeinsam auf eine Pilgerfahrt, auf der sie entdecken, dass sie nicht nur einander, sondern sich auch selbst lieben. Von Richard Marcus

Von Richard Marcus

In Leila Aboulelas jüngstem Roman Bird Summons, erschienen bei "Grove Atlantic", begegnen wir drei muslimischen Frauen, auf denen Pflichten, Bedauern, Frustration und Langeweile lasten. Von ihnen zu sagen, dass sie in einer Sackgasse stecken, wäre eine Untertreibung und grobe Vereinfachung. Jede der Frauen hat eine Rolle zu erfüllen, die sie sich vermutlich so nicht ausgesucht hat.

Oberflächlich gesehen wirkt alles normal. Die Frauen gehören zu der örtlichen arabischsprachigen muslimischen Frauengruppe, sind verheiratet und haben, bis auf eine, auch Kinder. Salma, die Anführerin des Trios und Vorsitzende der Frauengruppe, ist staatlich anerkannte Masseurin und mit einem zum Islam konvertierten Schotten verheiratet. Das Paar hat zwei Kinder und scheint ein zufriedenes Familienleben zu führen.

Moni hat ihre Karriere im Bankgeschäft aufgegeben, um für ihr schwerbehindertes Kind zu sorgen. Ihr Leben dreht sich nur noch um ihren Sohn, alles andere interessiert sie nicht mehr. Sie hat ihren Mann und ihre Freundschaften hintangestellt, damit sie dem Sohn ihre ganze Fürsorge widmen kann. Ihr Blickfeld ist so eng geworden, dass alles andere daraus verschwunden ist, auch ihr Mann und ihre Freunde.

Die dritte aus dem Trio ist Iman. Ursprünglich aus Syrien stammend, wurde sie von ihren Eltern, die ihr zu besseren Lebensbedingungen verhelfen wollten, nach Schottland geschickt. Die hübsche, behütete Iman, die von früh an gehört hat, dass sie wegen ihrer Schönheit nur zur Ehe taugt, hat eine Reihe von Enttäuschungen hinter sich. Obwohl noch keine dreißig, hat sie bereits den dritten Ehemann und noch keine Kinder. Sie sehnt sich immer noch nach ihrer Heimat und ihrer Familie und glaubt, man habe sie weggeschickt, weil sie nicht erwünscht war.

Eine magische Pilgerreise

Salma organisiert für ihre Frauengruppe eine Fahrt zum Grab einer schottischen Konvertitin, der ersten in Großbritannien geborene Frau, die je nach Mekka gepilgert ist. Da alle anderen Frauen absagen, treten letztlich nur noch Salma und ihrer  beiden Freundinnen die Reise an.

Buchcover Leila Aboulela: "Bird Summons" im Verlag "Grove Atlantic"
Leila Aboulelas Roman, in dem die Autorin Realität und Fantasie verwebt, hat Elemente aus "Die Konferenz der Vögel" meisterhaft in ihre moderne Erzählung eingewoben und ein realitätsnahes und zugleich im besten Wortsinn fantasievolles Buch geschaffen, das die Lektüre lohnt.

Als wir die Frauen kennenlernen, halten wir sie für eine recht unglücklich zusammengewürfelte Reisegesellschaft. Sie haben, obwohl sie sich zusammen auf Pilgerfahrt begeben, offenbar nichts gemeinsam.

Wie auf vielen Pilgerreisen gibt es auch in Bird Summons Stationen, an denen die Wallfahrer innehalten müssen und auf Hindernisse treffen, die es zu überwinden gilt. An einer dieser Stationen - der Insel, auf der sich ihre Unterkunft befindet - ändert sich der Ton des Romans. Eine bis dahin allem Anschein nach ein geradlinige Erzählung von drei Frauenleben, nimmt auf einmal eine Wendung ins Märchenhafte.

Als Imans dritter Ehemann die Reisenden aufspürt, um seiner Frau mitzuteilen, dass er sich von ihr trennen will, weil seine Eltern sie nicht akzeptieren – und sich herausstellt, dass sie nie wirklich verheiratet waren –, ist Iman begreiflicherweise am Boden zerstört.

Der große Auftritt des Wiedehopfs

Nichts, was ihre beiden Freundinnen sagen, kann sie aufmuntern. Iman flüchtet sich in kindliches Betragen, verkleidet sich mit Kostümen, die sie im Schrank ihres Hotelzimmers findet und legt in der Öffentlichkeit den Hidschab ab. Und in diesem Moment hat der Wiedehopf seinen großen Auftritt.

Wer mit Die Konferenz der Vögel, dem Versepos des persischen Dichters Farid ud-Din Attar,  vertraut ist, wird den Wiedehopf als Schlüsselelement der Geschichte erkennen: Er führt die anderen Vögel auf ihrer Suche nach dem sagenhaften Wohnsitz des Vogelkönigs. 

So werden die Kenner von Attars Werk im Rückblick auf das bisherige Romangeschehen auch feststellen, dass Aboulela ihre Geschichte bewusst als Parallele zu der ursprünglichen Fabel angelegt und zu diesem Punkt hingeführt hat.

Doch man muss Attars Dichtung nicht kennen, um die Feinheiten und die Intelligenz des Buches schätzen zu können. Aboulela ist der heikle Balanceakt gelungen, Attars Themen nachzuzeichnen und in einen modernen Kontext zu stellen, ohne von ihren Lesern irgendwelche literarischen Vorkenntnisse zu verlangen. 

Sie greift auf das Epos nicht nur zurück,  um eine eher schlichte Erzählung von drei Frauen, die sich mit privaten Problemen herumschlagen, mit magischen und phantastischen Elementen anzureichern, sondern  tut dies, um uns deren Lebenswirklichkeit tiefgründiger und nachhaltiger vor Augen zu führen.

Wechselnde Dynamiken

Auf der Insel macht jede der drei Frauen eine spezielle Erfahrung, die ihr verstehen hilft, wer sie wirklich ist. Dadurch verändert sich auch die Dynamik zwischen ihnen. Vorher war Salma diejenige, an die sich die beiden anderen anlehnten und die für Iman Mutter oder große Schwester spielte und Moni Ratschläge gab. So hatte sie Moni überredet, ihren Sohn in ein Pflegeheim zu geben und auf Reisen zu gehen.

Salma vermittelt gern den Eindruck, dass sie ihr Leben im Griff hat, und nach außen hin stimmt auch alles: Karriere, Familie und zahlreiche soziale Kontakte tragen dazu bei, dass die Illusion funktioniert. Doch wie ihre beiden Freundinnen ist auch sie mit ihrer aktuellen Situation äußerst unzufrieden.

Als sie wieder mit ihrem Ex-Verlobten in Ägypten in Kontakt kommt und daran erinnert wird, dass sie einmal Ärztin und nicht Masseurin war, beginnt sie sich zu fragen, was ihr durch ihre Umsiedelung nach Schottland entgangen ist.

Auf dem Weg zur Selbsterkenntnis

Leila Aboulela führt ihre drei Protagonistinnen über einen durchaus glaubwürdigen Handlungsbogen zur Selbsterkenntnis. Jede beginnt zu erkennen, wie sehr sie sich durch die Rolle, die ihnen von Familie und Umständen zugewiesen wurde, selbst beschränkt hat. Moni wird fast erdrückt von der Last, die verantwortungsbewusste, aufopferungsvolle Mutter eines behinderten Kindes spielen zu müssen, während alles andere im Leben zu kurz kommt, auch ihr Mann.

Imam hat das hübsche, kindliche Püppchen so lange gespielt, dass sie ihr eigenes Potenzial nie entdeckt hat, und Salma hat ihre Vergangenheit so gründlich verklärt, dass der Preis, den sie dafür bezahlen musste, ganz in Vergessenheit geriet.

Aboulela hat Elemente aus Die Konferenz der Vögel meisterhaft in ihre moderne Erzählung eingewoben und ein realitätsnahes und zugleich im besten Wortsinn fantasievolles Buch geschaffen, das die Lektüre lohnt.

Richard Marcus

© Qantara.de 2020

Übersetzung aus dem Englischen von Maja Ueberle-Pfaff