Gute Kurden, böse Kurden

Wenn sie den Machthabern nützen, gelten die Kurden als gute Patrioten. Ansonsten sind sie die bösen Verräter. Das gilt in der Türkei und in Syrien, aber genauso für die kurdische Arbeiterpartei PKK, meint Hoshang Ossi in seinem Essay.

Von Hoshang Ossi

Türkische Medien und die Protagonisten des derzeit stattfindenden türkischen Dramas drücken den Kurden einen politischen und moralischen Stempel auf. Alle diejenigen, die zum türkischen Staat stehen und die islamistische Regierung unter Recep Tayyip Erdoğan unterstützen, sind danach die guten, patriotischen Kurden. Sie bilden angeblich die überwältigende Mehrheit unter den mehr als 20 Millionen Kurden in der Türkei.

Jene Kurden hingegen, die vom Staat eine verfassungsrechtliche Anerkennung ihrer politischen, kulturellen und administrativen Rechte verlangen, gelten als die Bösen. Sie sollen angeblich Terroristen und Separatisten sein und nur eine verschwindend kleine Minderheit darstellen.

Sie sind für den türkischen Staat nur ein von Hass geleiteter, versprengter Haufen, der sich Anerkennung, Ehre und einen eigenen Staat erschleichen will. Den guten Kurden wiederum obliegt es, sich gegen diese Bösen zu wenden, um ihre eigene patriotische Einstellung unter Beweis zu stellen.

Von allen Seiten benutzt

Diese Einteilung der Kurden in Gut und Böse durch bisher jede türkische Regierung hat Wurzeln, die bis an den Anfang des 20. Jahrhunderts zurückreichen. Damals entledigte sich die Türkei ihres Sultanats und machte sich auf den Weg zu einem laizistischen Staat.

Genaugenommen lässt sich diese Etikettierung zurückführen auf jene Zeit, als die Macht vorübergehend zwischen der Regierung in Ankara unter Führung von Atatürk und der Herrschaft des Sultans und seines Großwesirs in Istanbul aufgespalten war.

Kurdische Siedlungsgebiete. Grafik: DW, Stand 2016
Die Siedlungsgebiete der rund 40 Millionen Kurden liegen verstreut in Irak, Iran, Syrien und der Türkei. Die Zahlen beruhen allerdings auf Schätzungen, weil ethnische Herkunft und Muttersprache in den offiziellen Zählungen nicht erfasst werden.

Beide Seiten versuchten, die Kurden mit honigsüßen Versprechen für sich zu gewinnen und boten ihnen den Abschluss von Verträgen an, die die Rechte der Kurden garantieren sollten, sobald man sich aus der gerade bestehenden prekären Lage befreit hätte. So standen sich schon bald die Kurden Atatürks und die Kurden des Sultans gegenüber.

Die Regierung in Ankara betrachtete ihre eigenen Kurden als „gute und heldenhafte Patrioten“, während die Kurden der Gegenseite Vaterlandsverräter und Spione waren, die es verdient hatten, ausgerottet zu werden! Das genaue Gegenteil galt für die Regierung des Sultans in Istanbul.

Nachdem Atatürk aber die Regierung des Sultans endgültig gestürzt und seine eigene Herrschaft gefestigt hatte, wandte er sich den Kurden zu, den guten wie den bösen, massakrierte sie und statuierte ein Exempel an ihnen.

Er sagte sich nicht nur von sämtlichen ihnen gegebenen Versprechungen und Verträgen los, sondern leugnete fortan auch die Existenz des Volkes, das ihm bei der Gründung seines Staates und der Sicherung seiner Macht geholfen hatte!

Kritik ist unerwünscht

Heute lässt nicht nur die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) diese unselige Tradition fortleben, indem sie zwischen ihren eigenen, den guten und heldenhaften Kurden und den bösen Kurden unterscheidet, die es auszulöschen gilt.

Wenn die PKK heute über die Frage nach einer Heimat für das kurdische Volk spricht, vergisst sie nie darauf hinzuweisen, dass sie ein Volk von mehr als 40 Millionen Menschen repräsentiert. All jene aber, die sich (seit ihrer Gründung im Jahr 1978) von ihr abgespalten haben und deren Zahl in die Zehntausende geht, betrachtet die PKK als Verräter, Handlanger und Agenten.

Deshalb sind in den Augen der PKK alle Kurden, die Anhänger von Erdoğans Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) oder einer der anderen türkischen Parteien sind und immerhin mehrere Millionen Menschen ausmachen, selbstverständlich Verräter und Handlanger.

Nicht anders ergeht es den irakischen und syrischen Kurden, die Anhänger der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK) unter Führung von Masoud Barzani sind und ebenfalls in die Millionen gehen: Auch sie sind für die PKK lediglich Verräter und Lakaien Erdoğans.

Ja, auch die ebenfalls in die Zehntausende gehenden Gefolgsleute des Kurdischen Nationalrats, einem Bündnis kurdischer Parteien in Syrien, sind Verräter und Handlanger Erdoğans, des Islamischen Staates und der al-Qaida, bloß weil der Nationalrat Teil des gegen das Assad-Regime kämpfenden Oppositionsbündnisses ist!

In gleicher Weise wird jeder Publizist, der Kritik an der PKK oder ihrem syrischen Ableger, der Partei der Demokratischen Union (PYD), vorbringt, als Verräter betrachtet, der seine Seele verkauft hat. Folgt man den Angaben der PKK, dann müssen etwa 70 Prozent aller Kurden Verräter, Agenten und Erdoğan-Anhänger sein, während jene verbleibenden 30 Prozent, die dem Weg von PKK-Chef Abdullah Öcalan folgen, edle, patriotische Kurden sind.

Barzani trifft Erdogan in Ankara. Foto: picture-alliance/Anadolu Agency/K.Özer
Verhandlungen in Ankara. Kurdenführer Masoud Barzani, seit 2005 de-facto-Präsident der autonomen Kurdenregion Nordirak verhandelt mit dem türkischen Präsidenten Erdogan. Er braucht die Unterstützung aus der Türkei für sein Vorhaben eines Referendums über die Loslösung der autonomen Region Kurdistan vom Irak. Die USA und Iran haben bereits Widerstand gegen das Projekt angemeldet.

Patrioten und Verräter

Die PKK und ihre Anhänger sind offenbar nicht in der Lage zu begreifen, dass Kritik am System Erdoğan oder an der syrischen Opposition nicht automatisch bedeutet, dass man sich ihr anbiedern oder bei ihr einschmeicheln will. Wer Erdoğan kritisiert, muss nicht schweigen, wenn die PKK die Rechte all jener Kurden verletzt, die in Opposition zu ihr stehen.

Umgekehrt bedeutet eine Kritik an der PKK und an ihrem syrischen Ableger PYD nicht zwangsläufig eine Hinwendung zu Erdoğan und eine Leugnung seiner Verbrechen an den türkischen Kurden. Die PKK und ihre Anhänger sind nicht imstande zu begreifen, dass die kurdische Frage, und zwar nicht nur in der Türkei, größer ist als die PKK und ihr Führer Abdullah Öcalan.

Es ist grotesk, dass das Regime in Syrien seine „eigenen“ Kurden nach genau denselben Maßstäben klassifiziert. Um die guten, patriotischen Kurden buhlt man offen oder versteckt, zu ihnen zählen etwa die Partei der Demokratischen Union (PYD) ebenso wie die kurdischen Politiker Omer Ossi, Ammar Bagdache oder Qadri Jamil in Syrien.

Dagegen sind für das Regime alle jene Kurden, die sich an der Revolution gegen das Assad-Regime beteiligt haben, Verräter und Abweichler.

Genauso betrachtet die syrische Opposition ihre „eigenen“ Kurden als vorzügliche Patrioten, als mutige, heldenhafte Revolutionäre, während alle anderen Kurden, insbesondere die Parteigänger der Assad-freundlichen PYD, nichts weiter als niederträchtige Verräter und Agenten sind. Dergestalt können Regime und Opposition zu einer gemeinsamen Linie gegenüber den Kurden gelangen, während diese weiter ihre blindwütigen, unsinnigen Scharmützel austragen.

Bleibt nur noch die Feststellung, dass es noch immer Kurden gibt, die das türkische Erdoğan-System ebenso ablehnen wie die PKK, die gleichermaßen Kritik an der syrischen Opposition üben wie am Regime Assads. Sie könnten wohl am ehesten die fortdauernde Spaltung der Kurden überwinden. Und erreichen, dass die Kurden nicht länger in den Schützengräben der Anderen kämpfen.

Hoshang Ossi

© Qantara.de 2017

Aus dem Arabischen von Markus Lemke

Hoshang Ossi ist ein kurdischer Autor und politischer Analyst. Er schreibt für namhafte arabische Medien.