Solidarität mit Palästina

Die Ausstellungsreihe "Qalandiya International" will Grenzen überschreiten, die für Palästinenser Alltag sind. Zum Thema "Solidarität" ist Kunst im Westjordanland, in Gaza, in Israel und diversen Orten weltweit zu sehen. Von Sarah Judith Hofmann

Von Sarah Judith Hofmann

Mahdi Baraghithi hat sich für diesen besonderen Tag ein Tuch über die Schultern gelegt. Bunte Blumen sind auf den schwarzen Stoff gedruckt, die an die traditionellen Stickereien palästinensischer Frauen erinnern. Und die unschwer auch auf seinen Collagen wiederzufinden sind. In opulenten Goldrahmen hängen sie an den Wänden des Museums der Universität von Birzeit. Sie sind Teil der Ausstellungsreihe "Qalandiya International", die in diesen Tagen in gleich mehreren palästinensischen Städten eröffnet.

"Die Rahmen sind kitschig", sagt der Künstler Baraghithi, "aber genau solche hängen an den Wänden vieler Wohnungen palästinensischer Flüchtlinge." Darin, so erzählt er, seien meist Bilder von Jerusalem und von den verlorenen Städten der Palästinenser zu sehen. "Von Sehnsuchtsorten, die unerreichbar geworden sind. Daneben stehen oft Plastikblumen, weil man sich frische Blumen nicht leisten kann."

Mahdi Baraghithi kommt aus einer palästinensischen Flüchtlingsfamilie aus Lydda. Einer Stadt, die heute zu Israel gehört und offiziell Lod heißt. Im Krieg von 1948 wurde sie von israelischen Truppen eingenommen, mehrere Hundert Palästinenser wurden dabei getötet, die arabische Bevölkerung anschließend vertrieben. Lydda steht bis heute als Synonym für das Trauma der "Nakba", der Katastrophe, wie Palästinenser die Ereignisse von 1948 nennen. "Lydda. A Garden Dis-remembered" nennt sich die Teil-Ausstellung in Birzeit.

Flüchtling in dritter Generation

Mahdi, 27 Jahre alt, ist Flüchtling in dritter Generation. Doch das mindert für ihn nicht die Sehnsucht nach dem ursprünglichen Herkunftsort der Familie. Mit eigenen Augen gesehen hat er Lydda noch nie. Er lebt in Ramallah und für einen Bewohner des von Israel besetzten Westjordanlandes ist es schwer, eine Genehmigung für das Passieren der Grenze zu Israel zu bekommen. Doch Mahdi versucht es erst gar nicht. Er will seine Vorstellung der verlorenen Stadt nicht durch die Realität ersetzen.

Lydda in der Vorstellung von Mahdi Baraghithi; Foto: Sarah Judith Hofmann/DW
Lydda in der Vorstellung von Mahdi Baraghithi: Der palästinensische Künstler kommt aus dieser Stadt, die im Krieg von 1948 von israelischen Truppen eingenommen wurde. Lydda steht bis heute als Synonym für das Trauma der "Nakba", der Katastrophe, wie Palästinenser die Ereignisse von 1948 nennen. "Lydda. A Garden Dis-remembered" nennt sich die Teil-Ausstellung in Birzeit.

Seit Jahren sammelt er alles, was er über Lydda damals und heute finden kann. Bilder aus der Familie, aus den Nachrichten und aus Social Media Plattformen wie Facebook und Instagram. In seinen Collagen fügt er in Palästina bekannte Symbole wie Schlüssel - sie stehen für die Rückkehr der Vertriebenen in ihre Häuser -, Fotos von Motorrädern, Bulldozern und Männern in Macho-Posen zu einem Bild zusammen. Ihre Gesichter sind versteckt hinter Blumen.

Mahdi Baraghithi zeigt nicht nur die Stadt Lydda und wie er sich das Leben dort vorstellt. Sondern auch, was die Heimatlosigkeit mit den Menschen gemacht hat. Wie die palästinensische Gesellschaft Druck ausübt auf junge Männer wie ihn, sich als Freiheitskämpfer zu inszenieren. "'Du musst dein Land befreien', das wird uns beigebracht. Das erzeugt eine Menge Druck", sagt der Künstler.

Suche nach einer gemeinsamen Identität

2012 schlossen sich erstmalig palästinensische Museen und Kulturinstitutionen zusammen, um Kultur in Städte mit großer palästinensischer Bevölkerung zu bringen - mit einem gemeinsamen Budget und dem Ziel, Ausstellungen zu realisieren, die sonst nicht möglich wären. Seither findet die Reihe "Qalandiya International" alle zwei Jahre statt, 2018 jetzt zum vierten Mal.

In etlichen palästinensischen Städten laden die Veranstalter den ganzen Oktober über zu Ausstellungen und Kulturveranstaltungen ein. Und das nicht nur im Westjordanland, sondern auch in Gaza, in israelischen Städten mit großen arabischen Bevölkerungsanteilen wie in Haifa und außerhalb des Nahen Ostens, zum Beispiel in New York, London oder Düsseldorf.

"Wir haben uns vor allem über Skype zusammengeschaltet", sagt Yazan Khalili. Er leitet das Khalil Sakanini Kulturzentrum in Ramallah. Es ist eine von insgesamt neun palästinensischen Kulturinstitutionen, die sich an "Qalandiya International" beteiligen. An einem virtuellen runden Tisch hätten sie das Konzept der Ausstellungsreihe zusammengezurrt, erzählt er.

Virtuell deswegen, da ein tatsächliches Zusammenkommen gar nicht möglich war. Ein Palästinenser aus Ramallah beispielsweise kommt ohne israelische Genehmigung nicht nach Haifa, einer aus Beirut ebenfalls nicht. Nach Jerusalem können nur wenige reisen. Und die Kuratoren aus Gaza können nicht einmal ins Westjordanland.

Kontakt über die Kunst

"Für die Gazaner war das ganze wohl am aufregendsten. Noch mehr als für uns", sagt Khalili. Der Gazastreifen ist seit mehr als zehn Jahren, seit dort die radikal-islamische Hamas regiert, weitgehend abgeriegelt. Hinaus kommt fast nur, wer krank ist und vor Ort nicht behandelt werden kann. Gaza und das Westjordanland sind voneinander getrennt. Geographisch, weil Israel zwischen beiden liegt und politisch, weil die als gemäßigt geltende Fatah tief mit der Hamas zerstritten ist.

Dass hier also Kulturschaffende aus dem Westjordanland und Gaza überhaupt miteinander sprechen, werten die Kuratoren schon als kleine Errungenschaft. Da überrascht das Motto nicht, unter dem "Qalandiya International" in diesem Jahr läuft: "Solidarität" - und klingt sehr politisch.

Seit Ende März kommt es an der Grenze zwischen Gaza und Israel immer wieder zu Protesten und Zusammenstößen mit der israelischen Armee. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums in Gaza wurden dabei 193 Palästinenser getötet. Ein israelischer Soldat wurde erschossen, etliche Brandsätze über die Grenze nach Israel geschickt. Offiziell fordern die Demonstranten ein Ende der Blockade und ein Recht auf Rückkehr in ihre frühere Heimat oder in die ihrer Eltern und Großeltern - in Städte wie Lydda oder Ramla. Israel lehnt die Forderungen bis heute ab.

International wurde Israel scharf für sein Vorgehen kritisiert. Doch im Westjordanland blieben große Demonstrationen aus. Zu Solidaritätsmärschen für Gaza kamen nur wenige Hundert Menschen.

Was bedeutet "Solidarität"?

Viele Beobachter fragten sich, ob es sie denn noch gäbe, die Solidarität der Palästinenser untereinander. "Wir leben in einer Zeit, in der jegliche Aktion so individualisiert worden ist, dass Menschen glauben, sie zeigten schon Solidarität, wenn sie nur ein Bild oder einen Link auf Facebook posten", meint Co-Kuratorin Reem Shadid. "Jene Solidarität, die Menschen zu tatsächlichen Handlungen veranlasste und ganze Völker befreite, scheint vorüber zu sein. Wir müssen also neue Formen von Solidarität diskutieren." Und Khalili ergänzt: "Ich hätte ein Fragezeichen hinter den Titel von 'Qalandiya International' gesetzt - 'Solidarität?'"

Yazan Khalili vom Khalil Sakanini Kulturzentrum in Ramallah und Co-Kuratorin Reem Shadid; Foto: DW/Sarah Judith Hofmann
Reem Shadid (l.) und Yazan Khalili: "Wir müssen neue Formen von Solidarität diskutieren"

In den Performances, Panels und Diskussionen in New York, Düsseldorf und London soll Solidarität mit Palästina zum Thema gemacht werden. Die Ausstellung in Birzeit befasst sich auf den ersten Blick ausschließlich mit Lydda, bis 2019 wollen die Künstler aber ein gemeinsames Lexikon zum Thema Solidarität erarbeiten.

Überhaupt sind Orte wichtig. Touren werden angeboten durch Lydda, Jerusalem und durch Qalandiya, das Flüchtlingscamp. Der israelische Checkpoint "Qalandiya" gleich nebenan, der größte im Westjordanland, hat der Ausstellungsreihe ihren Namen gegeben.

"Wir sind ein Volk"

"Qalandiya International" versteht sich als ein Manifest der Solidarität unter Künstlern, die im Gegensatz zu den verfeindeten politischen Fraktionen der Palästinenser Hamas und Fatah überhaupt miteinander sprechen und einander helfen. 

"Kunst hat die Kraft zu vereinen", sagt Khalili. "Kunst will eine andere Art der Politik aufzeigen. Gerade in Zeiten völliger Fragmentierung kommt die Kultur und sagt nein, es gibt eine Einigkeit unter Palästinensern." Dies sei historisch schon immer so gewesen, gleich nach 1948 sei es die Kunst gewesen, palästinensische Volkslieder, Erzählungen und die traditionellen Stickereien, die eine Einigkeit demonstrierten.

Kein Zufall also, dass der Künstler Mahdi Baraghithi eine Replik dieser Stickereien zur Eröffnung trägt. Für ihn steht fest: "Wir sind ein Volk."

Sarah Judith Hofmann

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