Das Ende von "Cool Istanbul"

Im Verlauf der Gezi-Proteste wurde deutlich: Istanbul ist hinter seiner coolen Fassade zu einem Experimentierfeld der AKP geworden, auf dem eine zementierte Anti-Utopie geschaffen werden soll – eine bis ins letzte gentrifizierte, neoliberale Vorzeigesiedlung. Ein kulturkritisches Essay von Mutlu Yetkin

Von Mutlu Yetkin

Indem sie die Schwelle zum Mainstream-Diskurs überwunden haben, kann nicht mehr daran gezweifelt werden, dass die Gezi-Proteste den Horizont der politischen Praxis in der Türkei nachhaltig verändert haben. Können wir nun ähnliche Veränderungen auch für die Sphäre der Kultur im Allgemeinen und der Künste im Besonderen erwarten? Ist es der Kulturindustrie nach Gezi noch möglich, an der so leicht vermarktenden "Selbst-Orientalismus-Währung" festzuhalten, die in den letzten zehn Jahren so populär wurde?

Wie es auch in anderen intellektuellen Milieus häufig der Fall ist, gefällt es türkischen Denkern und kulturellen Akteuren seit langem, ihre Debatten um Fragen der Identität kreisen zu lassen. Als wichtigste Sollbruchstelle des Bewusstseins bei der Frage nach der türkischen Identität wird meist die Spannung angesehen zwischen einer "erzwungenen Verwestlichung" und eine "unterdrückten orientalischen Identität". Viele meinen, dass der Kollateralschaden, der durch den von oben verordneten "Modernisierungsfuror" des Kemalismus entstanden ist, letztlich zu einem ungeheuren kulturellen Reichtum führte, der aber unter den Teppich eines nur provisorischen Modernismus gekehrt wird.

Aber schon diese Dichotomie wurde kaum verhandelt, bis die AKP im Jahr 2002 an die Regierung kam, und eine neue globale Agenda zutage trat, die auf die Einführung eines post-modernen, moderaten Islamismus abzielte. Mit der Aufgabe aller politischen Konzepte des ancien regime schuf Recep Tayyip Erdoğans Bilderstürmerei eine neue intellektuelle Atmosphäre, in der diese "unterdrückte" orientalische Identität – die als Gegensatz zur erzwungenen Verwestlichung angesehen wurde – wieder hervortreten konnte.

Kultur als "Hintergrundrauschen"

Performance von Sertab Erener beim Eurovision Song Contest 2013; Foto: AP
Glamour, Kommerz und Orientalisierung: Performance von Sertab Erener beim Eurovision Song Contest 2013 im Harems-Outfit

Aus diesem kollektiven Unterbewusstsein tauchten immer wieder spannende Erzählungen auf, die die Möglichkeiten eines "östlichen Modernismus" erforschten. Dies zeigte sich etwa in der fortwährenden Verdammung der bedrückenden Kulturpolitik des Kemalismus. Auch wenn die Frage, ob das Land nun überhaupt Teil der östlichen Tradition ist, so gehören doch die spielerischen Gedankenspiele des Nobelpreisträgers Orhan Pamuk zum gebrochenen historischen Bewusstsein der Türkei sowie die Elegien, die Elif Şafak einem verschwundenen Kosmopolitismus Istanbuls flocht, ebenso hierzu wie die Nostalgie für das untergegangene Osmanische Reich, die zu einem populären Thema in den Künsten wie in der Literatur wurde.

Der Zustrom internationalen Kapitals in Verbindung mit einem immer größeren Interesse auch der einheimischen Wirtschaft an der Errichtung neuer Kultureinrichtungen und Museen (von der Eröffnung der Istanbuler Niederlassung des Auktionshauses Sothebys bis zu den Einweihungen zahlreicher neuer Museen gab es hierfür zahlreiche Symptome) ließ Istanbul immer schärfer hervortreten als aufstrebenden Knotenpunkt der Kultur und Künste, was zum Teil auch mit den Entwicklungen in der Finanzwelt zusammenhing, auf die Erdoğan so stolz war.

Dieser Stolz war so groß, dass er sogar erklärte, die globale Wirtschaftskrise würde die "Türkei höchstens in Ausläufern" erreichen. Nach 2006 hieß es nur noch "Cool Istanbul": Türkische Künstler fanden sich plötzlich ganz oben auf den Einkaufslisten internationaler Sammler und Einkäufer; firmen-gesponserte Museen sprossen über die ganze Stadt verteilt wie Pilze aus dem Boden. Endlich schien Istanbul auf einem guten Weg zu sein, die neue "It"-Metropole für die Region des Nahen Osten zu werden.

Auch die Musikszene hatte hieran ihren Anteil. Die Popmusik-Welt erfreute sich an dem "New Sound of Istanbul", einem Label, das einer Gruppe von Künstlern aufgedrückt wurde, die Fatih Akin in seinem Film begleitet hatte. Bands wie Baba Zula und Replikas gehörten dazu und führten den Hype fort, immer wieder bemüht, der Kreativität der psychedelischen Musik der Türkei der 1970er Tribut zu zollen.

Hinzu kamen ausgewanderte Musiker wie der in der Schweiz lebende Perkussionist Burhan Öçal oder İlhan Erşahin aus New York, der bekannt ist für seine ganz persönliche Verbindung zwischen Ost und West – beide schon länger an "vorderster Front" der türkischen Kulturindustrie im Ausland.

Freilich war die Regierung weitaus weniger weltoffen als die kulturellen Akteure, mit denen sie sich so eifrig wie werbewirksam auf zahlreichen kulturellen Veranstaltungen schmückte – von der großen "Turkish Season" in Paris bis zu den "Türkischen Filmwochen" in anderen europäischen Großstädten.

Sprecher der AKP zögerten nicht, auf die "Heuchelei" des Westens hinzuweisen, der die Kultur als "Hintergrundrauschen" für seine revanchistische und nationalistische Rhetorik benutzen würde. Dennoch schienen sie zu vergessen, dass, was die relativ urbanisierten und "verwestlichten" Kultur-Konsumenten anbetrifft, diese doch keineswegs über die "soft power" verfügten, die sie auf dem Balkan oder im Nahen Osten besäßen. Und doch: selbst die scheinheilige Veranstaltung, als die das Kulturhauptstadtjahr Istanbuls angesehen werden muss, vermochte die allgemeine Feierlaube nicht ernsthaft stören zu können.

Trend zum Mainstream

Hybridität, metissage, Synthese, Kosmopolitismus, glocality, Ost versus West, Islam versus Modernität – der Stichworte waren es viele und der allergrößte Teil der türkischen Kulturschaffenden schien von ihnen wie besessen zu sein. Bis 2013. Tatsächlich waren sich ja im Grunde alle schon immer bewusst gewesen, dass diese überfällige Feier zumindest zum Teil von der Macht des Globalismus-Diskurses befeuert wurde und dass die Euphorie deshalb durchaus ein Auslaufdatum besitzen könnte. Die meisten Ausläufer dieses wuchernden kulturellen Schaffens in den Mainstream hatten eine Geschichte zu erzählen.

Die Performance von Sertab Erener beim Eurovision Song Contest im Harems-Outfit, als Verkörperung des Jahrhunderte alten objet du désir des Orientalismus und die anatolischen Feuertänze, mit denen Anatolien als Hort der Brüderlichkeit porträtiert wird, sind vielleicht noch offensichtlichere Beispiele.

Auf der nicht ganz so äußerlichen Seite findet sich der Sufi-Elektro-Pop eines Mercan Dede, der die westliche Faszination für Rumi und Sufismus bediente, aber Fragen nach der Authentizität souverän missachtete. Viele Beispiele wären noch anzuführen, die belegen, dass die Substanz der Renaissance der türkischen Kulturproduktion im Grunde so touristisch und selbst-orientalisierend war wie die Bauchtänzerinnen in Galata, von den Touristen bezahlt, um ihnen zu zeigen, was sie für einen wichtigen Teil der türkischen Kultur halten.

Turkish Prime Minister Recep Tayyip Erdogan (right) and his wife Emine greet supporters during a rally in Istanbul, Turkey 16 June 2013 (photo: picture-alliance/dpa)
Shattering the "last remnants of the AKP's tolerant and moderate façade": while Turkish police clashed with demonstrators in Istanbul on 16 June and security forces tried to prevent activists from relaunching protests in the Gezi Park, the government made it clear that it would crack down on any further protests

Und doch schien dies alles die meisten nicht zu kümmern, solange die türkische Kultur den ihr zustehenden Anteil der internationalen Aufmerksamkeit abbekam.

Dann, an einem verheißungsvollen Tag im Mai 2013, als die AKP gerade damit beschäftigt war, die "kurdische Frage" ein für alle Mal zu beenden, platzte die Blase. Über die letzten war die Geisteshaltung, von der die politischen Entscheidungen der AKP bestimmt wurden bereits immer mehr hinterfragt worden – was vor allem an Erdoğans zunehmend aggressiveren und diskriminierenden Äußerungen über und Aktionen gegen bestimmte Gruppen lag.

Ein immer größerer Teil der Bevölkerung machte sich Sorgen darüber, dass ihre Freiheiten von einer Regierung gehijackt würden, die unter einem liberalen Deckmantel immer offenkundigere autoritäre Ambitionen verbarg. Während es Erdoğan zuvor noch gelangen war, den Menschen glauben zu machen, dass er sich geändert und seine radikalen Ansichten zugunsten einer "moderat-demokratischen" Haltung aufgegeben hatte, war nun die Maskerade offenkundig vorbei.

Gezi als magischer Moment

Die Energie, die von den Gezi-Protesten freigesetzt wurde, breitete sich wie ein Lauffeuer im ganzen Land aus und zerstörte auch noch die letzten Reste der toleranten und moderaten Fassade der AKP. Das Ergebnis – neun Tote und Tausende Verletzte – offenbarte einerseits das Ausmaß von Erdoğans Hybris und andererseits den beklagenswerten Zustand der türkischen Mainstream-Medien, was die Aufrechterhaltung ihres journalistischen Ethos anbetrifft.

Während Teile Istanbuls im Wortsinne brannten, entschieden sich die großen Fernsehsender, unter ihnen CNN Turk, türkisches Partnerunternehmen von CNN International, dafür, Fernsehserien oder Dokumentationen über die arktische Tierwelt auszustrahlen (oder, in einem anderen Fall, ein Interview mit Präsident Erdoğan selbst, bei dem der Interviewer sich eifrig darum bemühte, die Proteste zu verurteilen.

Gezi wirkte als eine Art magischer Moment, in dem die Wirkung der Hypnose beginnt nachzulassen und die Menschen aus ihrem dekadenten Traum aufwachen: Istanbul ist, hinter seiner coolen Fassade, zu einem Experimentierfeld der AKP geworden, auf dem eine zementene Dystopie errichtet werden sollte – eine bis ins letzte gentrifizierte, neoliberale Vorzeigesiedlung.

Gerade als sich die Proteste ausbreiteten, begann auch noch die Zerstörung/Gentrifizierung von Tarlabaşı, einem an den Rand gedrängten Viertel auf der europäischen Seite des Bosporus, und erweiterte so die Liste der von der AKP in Gang gesetzten Urbanisierungsprojekte. Das urbanistische Credo der AKP – also die Errichtung von immer mehr, immer prächtigeren und größeren Einkaufszentren – war immer schon gleichbedeutend mit einer vehementen Ablehnung von Grünflächen in der Stadt.

Und doch ging es den Demonstranten ja nicht – wie sie nicht müde wurden zu betonen – um ein paar Bäume im Gezi Park. Erdoğans Beharren auf der Zerstörung auch noch dieses kleinen Ortes, der ein Atemholen inmitten des Stadtmolochs erlaubte, war einfach der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.

Noch schockierender war natürlich, dass die internationalen Geldströme, die einst geholfen hatten, den Hype um "Cool Istanbul" zu befeuern, angesichts der von der Regierung verursachtenInstabilität, nun drohte, innerhalb kürzester Zeit zum Erliegen zu kommen. Aber wie sollte eine Regierung, die mit solchen Reflexen reagierte, überhaupt noch in der Lage sein, eine Erneuerung der Kultur zu inspirieren?

Genährt von berechtigten Sorgen und ehrlicher Empörung schienen die Gezi-Proteste einen Ausbruch von unten zu markieren; sie bildeten eine Bühne für zum Teil beeindruckende künstlerische Performances.

Eine Allianz der Unglücklichen

Die Auftritte selbst – Flashmobs, Widerstandshymnen oder nicht zu kategorisierende Beispiele spontaner Kreativität – sind für sich allein genommen sicher nichts, was das Wort von einer neuen Ära rechtfertigte. Diese kreative Explosion, die sich auch nicht in das Korsett einer wie auch immer gearteten politischen Agenda stecken ließen, hatten kein Manifest oder ein eigenes ästhetisches Programm, dem sie folgten. Gezi war eher eine Allianz der Unglücklichen, zusammengehalten durch Gefühl gegenseitigen Respekts und Solidarität.

Und doch, indem es den Protesten gelang, dem AKP-Zeitgeist den Schleier zu entreißen und ihr wahres Wesen zu offenbaren, warfen sie die Frage auf, inwieweit im Kulturbereich neue Richtungen verfolgt, neue Ziele angesteuert werden müssten.

Die Ästhetik der Widerstandsausstellungen, die von einigen Galerien in Istanbul (meist außerhalb des üblichen Rundgangs auf der europäischen Seite) veranstaltet wurden, könnten zeigen, wie zahm, langweilig und uninspiriert die etablierte Kunstszene heute geworden ist. Letzten Endes hatte der so intensiv geführte Dialog zwischen Ost und West mit der Realität kaum etwas zu tun.

Und auch wenn man sich anschaut, welche Musikstücke während der Proteste gespielt, gesungen und gehört wurden (inzwischen von mehreren Publikationen veröffentlicht) bekommt man einen Eindruck von der Lebenslust, die hinter der unnachgiebigen Kreativität der Gezi-Proteste stand.

Von den Protesthymnen des Boğaziçi Jazz Choir bis zu Dubstep-Stücken, war die Musik dieser Playlists herausfordernd und verweigerte sich jedem Versuch der Klassifizierung. Immer voller sarkastischem Humor definierte diese Musik die Grenzen der Protestmusik in der Türkei neu.

Alles in allem zeigte uns Gezi, dass es dort auch in unserer heutigen Zeit einen besonderen Raum innerhalb der urbanen Realität gibt, der uns aufrichtige, provokante Kunst vor Augen führen kann; Kunst am Puls der Zeit und keine, die durch internationale Agenden oder die Ambitionen von Regierungen gepusht werden will.

Selbst-orientalisierendem Poltern aber, ob kitschig oder ob anspruchsvoller, fehlt es an diesem kritischen Blickwinkel. Sie bedienen ein Publikum (und den Wunsch, ein solches zu schaffen, wenn es keins dafür gibt), das nach einem unproduktiven, öden Dialog verlangt und keinen Sinn hat für die Vielfältigkeit der Kultur und den Zustand der Politik: Die Diskussionen, die sich immer wieder um das Thema Ost und West drehten, trübten den Blick eher, als das sie zur Erhellung beigetragen hätten.

Sich für das Hier und Jetzt einzusetzen, kann lohnender sein, als sich immer wieder wie besessen an Identitätsfragen abzuarbeiten – oder was immer auf der Speisekarte der globalen Kultur gerade als neues Gedankenfutter serviert werden mag. Auch wenn es eine Wahrheit sein mag, die seit langem in Vergessenheit geraten ist: Kunst kann seinen Sarkasmus und seine Relevanz behalten. Sie kann aufrütteln und die Massen inspirieren, und das, ohne dabei in Populismus oder Kitsch zu verfallen.

Mutlu Yetkin

© Babelmed/Qantara.de 2014

Übersetzt aus dem Englischen von Daniel Kiecol

Redaktion: Arian Fariborz